Und noch mal Putin: Gemäss seinem eigenen Gesetz könnte der Kremlherrscher bis 2036 regieren. Louise Delmotte/AP/Keystone

Herr Putin nennt es Wahlen

Mitte März wird sich der Kremlherrscher in einer Pseudo-Abstimmung einmal mehr zum russischen Präsidenten küren lassen. Für die verbliebenen Oppositionellen stellt sich die Frage, wie sie damit umgehen sollen.

Von Michail Schischkin, 02.03.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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In einer Monarchie schwört das Volk einmalig einen Eid auf den Zaren. Demokratie à la russe bedeutet, dass die Bevölkerung dem Zaren regelmässig die Treue schwören muss.

Die «Wahlen» in Russland erfolgen immer nach dem gleichen Muster: Die Macht gehört der Macht. Im Laufe der Generationen ändert sich nur die äusserliche Form des legitimierenden Rituals. In der Goldenen Horde spannten Vertreter des Adels einen riesigen weissen Filz, auf den der «gewählte» Herrscher gehoben wurde, danach erhielt er einen offiziellen Status, konnte Befehle erteilen, Ränge verteilen, vollstrecken und begnadigen. Im Nachfolge­staat, dem Moskauer Zaren­reich, setzte sich der Zar nach der Salbung selbst die Krone auf. In Putins Russland verkündet die Zentrale Wahl­kommission die Ergebnisse der «nationalen Abstimmung».

Wer zweifelt daran, dass Putin am 17. März mit einem haushohen Sieg wieder­gewählt werden wird?

Bei der Abstimmung wird zweifellos für alle äusseren Merkmale eines demokratischen Verfahrens gesorgt sein, etwa die Möglichkeit, für einen von mehreren Kandidaten zu stimmen. Die Stimmzettel enthalten die Namen der politischen Clowns, die an dem Wahlzirkus als vorgesehene Verlierer teilnehmen.

2012 gewann der Milliardär Michail Prochorow das Casting für diese Rolle. Im Jahr 2018 wurde Xenija Sobtschak, populäre TV-Moderatorin und ehemaliges It-Girl, in die Arena geschickt. So sollte demonstriert werden, dass die Russische Föderation ein durchaus demokratischer Staat sei und dass die Opposition lediglich keine breite Unterstützung in der Bevölkerung habe.

2024 war Boris Nadeschdin für dieses von Putins Polit­technologen orchestrierte Spiel vorgesehen. Aber diesmal ist etwas im bewährten Wahl­mechanismus schiefgelaufen.

Der liberale Politiker wurde bekannt, als er zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine mehrmals in Polit-Talkshows im russischen Fernsehen auftrat, wo er die kritische Stimme erhob, aber von den pro­putinschen Opponenten immer niedergeschrien wurde. Der Kreml wollte Nadeschdin nun seine Rolle als Prügel­knabe weiterspielen lassen, damit er als kläglicher Verlierer aus dem Präsidentschafts­rennen hervorgehe.

Nur: Als Nadeschdin seine 100’000 Unterschriften von Wählerinnen sammeln ging, um für das Amt zu kandidieren, wurde die Sammel­kampagne zu einer Demonstration des Protests gegen den Krieg und gegen Putins Diktatur. Zehntausende im ganzen Land standen in der bitteren Kälte Schlange, um ihrer Hoffnung mit einer Unterschrift Ausdruck zu verleihen. Das riskante Spiel mit den unzufriedenen Massen, die Nadeschdin zum Protest­symbol machten, konnte sich das Regime aber nicht leisten. Anfang Februar gab die Zentrale Wahl­kommission bekannt, in über 5 Prozent der eingereichten Unterschrifts­dokumente Fehler gefunden zu haben und Nadeschdin deswegen nicht zur Wahl zuzulassen.

Der Einzige, der Putin als Gegen­kandidat ernsthaft hätte gefährlich werden können, war jedoch ohnehin ein anderer. Er wurde kürzlich im Gefängnis getötet.

Propagandisten behaupten zwar, Nawalnys Tod sei für den Präsidenten unrentabel, es sei deshalb unlogisch, ihn einen Monat vor den Wahlen töten zu lassen. Nach der Vergiftung Nawalnys im Jahr 2020 hatte die Propaganda Putin noch mit dem Argument verteidigt: «Wenn er ihn hätte töten wollen, hätte er ihn getötet.» So gesehen kann man nun wohl schlussfolgern: Sie wollten ihn töten und haben ihn getötet, und zwar demonstrativ, kurz vor den Wahlen. Eine exemplarische Hinrichtung einer Geisel. Die Bevölkerung soll Angst haben, schweigen und Loyalität zeigen.

Für westliche Wählerinnen, die auf die TV-Debatten der Kandidaten wie auf spannende Fussball­spiele warten, mag der offizielle russische Wahl­kampf als eher langweilig erscheinen. Putin, der jetzt für die fünfte Amtszeit als Präsident kandidiert, hat noch nie in seinem Leben an einer einzigen politischen Debatte teilgenommen. Wozu auch?

Das Land geht völlig von der Opposition bereinigt in die Präsidentschafts­wahlen. In den sechs Jahren seit der letzten Präsidenten­kür und vor dem Hintergrund der Invasion in der Ukraine haben die Behörden praktisch alle unabhängigen politischen Strukturen, öffentlichen Organisationen und Medien als unerwünschte, extremistische Organisationen oder «ausländische Agenten» eingestuft und verboten. Als letzte noch in Russland gebliebene «freie Stimme» wurde am Dienstag der Menschenrechts­aktivist Oleg Orlow zu zwei­einhalb Jahren Lagerhaft verurteilt. Wer offen gegen den Krieg protestiert oder auch nur Blumen zu irgendeinem Denkmal bringt – und jedem ist klar, dass damit die Märtyrer der Opposition geehrt werden sollen –, wird verhaftet.

Wie sollen die heimlichen Regime­gegner nun mit diesen Pseudowahlen umgehen? Sie boykottieren? Zur Abstimmung gehen? Den Wahlzettel ungültig machen? Den Namen Nawalny hinein­schreiben?

Im Dezember stellten Nawalny und sein Team ihre Strategie vor: Man müsse zur Abstimmung gehen und für einen anderen Kandidaten als Putin stimmen: «Wähle jeden ausser Putin!» Diese Taktik wurde von Nawalny eigentlich bei allen vergangenen Urnen­gängen vorgeschlagen, auch bei Duma-Wahlen: «Wähle eine beliebige Partei ausser die Partei der Gauner und Diebe.» Auf diese Weise sollte das Protest-Elektorat Putins Partei «Einiges Russland» schwächen. Gegen die Entstehung einer faschistischen Diktatur hatte dieses Kalkül aber offensichtlich keinen Erfolg.

Einige Oppositions­führer haben vorgeschlagen, Putins Propaganda­formulierung von der «militärischen Spezial­operation» in der Ukraine parodistisch aufzugreifen und ihr eine «elektorale Spezial­operation» gegenüber­zustellen: Am 17. März sollen alle mit dem Regime unzufriedenen Bürgerinnen um 12 Uhr zu Wahl­lokalen kommen und lange Schlangen bilden. Dieser Menschen­andrang soll einen psychologisch wichtigen positiven Eindruck hervor­rufen: Schau, du bist nicht allein gegen das System, es gibt viele von uns. Das Happening soll ein Anti-Putin-Votum sichtbar und diese «Wahlen» zu einer Demonstration machen, zu einem symbolischen Referendum gegen den Krieg und die Diktatur.

Skeptiker kritisieren jedoch dieses Konzept: Die Propaganda werde den Menschen­auflauf als Schlangen von Wladimir-Putin-Anhängern darstellen können.

Andere Meinungs­bildner rufen zum Boykott auf. Man dürfe an einem Verfahren zur Legitimierung von Putins Macht in keiner Weise mitwirken. Mit einer persönlichen Teilnahme an diesem Verbrechen gegen die Demokratie werde man zum Mittäter. Und noch ein Argument für den Boykott ist zu hören: Die technologische Entwicklung kommt Diktaturen immer zugute, denn die Behörden verfügen nun über ein elektronisches «Abstimmungs­instrument». Damit sei es möglich, eine beliebige Anzahl von Stimmen zu stehlen: Elektronische Stimmen könnten so einfach umgedeutet oder Pro-Putin-Stimmen erfunden werden.

Traditionell sind auch die russischen Oppositionellen im Exil zerstritten, eine solidarische Einigung ist nicht in Sicht und es ist unklar, wie sich das Protest-Elektorat verhalten wird.

Am plausibelsten scheint derzeit vor allem eines: dass Putin sich um jeden Preis und bis zum bitteren Ende an der Macht festklammern wird. Die Chance, als Rentner ein ruhiges Lebens­ende zu geniessen, hat er längst verspielt. Mit einem von ihm selbst unterzeichneten Gesetz hat sich Putin die Möglichkeit verschafft, bis 2036 zu regieren.

Dennoch ist nicht auszuschliessen, dass Putin auch die Zeit nach seiner Herrschaft selbst in die Hand nehmen will. So könnte sich das Muster der Macht­übergabe wiederholen, nach dem Putin einst selbst von Jelzin auf den Kreml-Thron gehoben wurde. Dieses meist von oppositionellen Analytikern diskutierte Zukunfts­szenario könnte folgender­massen aussehen:

Am 17. März wird der «Präsident» die eigene Macht­bestätigung feiern. Und nach den Wahlen einige Wechsel in seiner Regierung vornehmen. Der Landwirtschafts­minister Dmitri Patruschew, zufälligerweise der Sohn von Putins altem KGB-Freund Nikolai Patruschew, könnte dann zum Premier­minister ernannt werden. Und Putin könnte zu gegebener Zeit die denkwürdigen Worte sagen: «Ich bin müde, ich gehe» – und seinen Premier zum neuen Präsidenten erklären. Dann hätten das Land und seine gebeutelte Bevölkerung einen neuen Zaren. Ob und wann es so kommt, werden wir erfahren.

Jedenfalls würde dann auch weiterhin gelten: Der nächste Zar wird kommen. Und einen Zaren wählt man nicht, man schwört ihm die Treue.

Zum Autor

Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, gehört zu den bedeutenden russischen Autoren der Gegenwart. Seit 1995 lebt er in der Schweiz. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Übersetzer. Als bisher einziger Autor wurde er in Russland mit den drei wichtigsten Literatur­preisen ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen übersetzt. Seit Jahren gehört der Autor zu den scharfen Kritikern des Regimes Putins. Schischkins Essays erscheinen in Medien wie «New York Times», «Wall Street Journal», «The Guardian» und «Le Monde». Er ist Mitglied des Verbands Autorinnen und Autoren der Schweiz, des Deutsch­schweizer PEN-Zentrums, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Mitgründer des PEN Berlin.

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