«Danke Skifahren»: Julian Schütter, Ex-Skirennfahrer, verabschiedet sich von seiner grossen Leidenschaft.

Challenge Accepted

Der mit dem Klima

Julian Schütter war die Hoffnung des österreichischen Skisports. Er liebt die Berge, fürchtet die Klima­erwärmung und hat sich damit Feinde gemacht. Jetzt ist er jung zurückgetreten. Porträt eines Sportlers, der nicht mehr gewinnen muss, um zu siegen.

Von Elia Blülle (Text) und Armin Smailovic (Bilder), 02.03.2024

Vorgelesen von Regula Imboden
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140 Kilometer pro Stunde. Das Adrenalin sprudelt. Das Herz pumpt. Stürzt sich Julian Schütter in eine Abfahrts­piste, vergisst er alles, sein Kopf leert sich. Er funktioniert. «So muss sich wohl fliegen anfühlen», sagt er.

Angst kannte Schütter lange nicht. Hatte er in den eisigen Hängen noch nie.

Dass aber auch er, das grosse österreichische Abfahrts­talent, abseits der Pisten nicht gegen Angst gefeit ist, erfuhr Schütter, als er in einem Berghotel aus dem Mittags­schlaf erwachte und der Fernseher das Zimmer erleuchtete.

Seine Mannschaft trainierte damals auf dem Gletscher oberhalb von Saas-Fee, wo der Schnee noch das ganze Jahr über bleibt. Wie immer legten sich nach dem Mittag­essen alle im Hotel­zimmer hin. Der Zimmer­kollege schaltete den Fernseher an und döste bald weg. Schütter selbst sieht eigentlich nie fern, für einmal blieb er aber am Bildschirm kleben. Da sprach die Aktivistin Carola Rackete. Eine Sendung zeigte ihre Rede, die sie an einer Klima­demonstration in Berlin gehalten hat.

«Was heisst eine vier Grad wärmere Welt?», fragte sie und führte das dann vier quälende Minuten lang aus.

Das war im Herbst 2019. Ihre Antwort hat Schütter nie mehr losgelassen.

1. Die Zweifel

Mehr als vier Jahre später, Januar 2024, Bahnhof Innsbruck, viel zu früh am Morgen. Der Busfahrer hat den Motor bereits angeworfen, als Julian Schütter auftaucht. Trainer­hosen, Sneakers, federnder Gang. Hastig zwängt er die Ski, die Stöcke und seinen 1,85 Meter langen Körper durch die Türen. Ein Auto hat Schütter schon lange nicht mehr. Zu vielen Trainings und den Rennen fährt er mit den öffentlichen Verkehrs­mitteln. In den abgelegenen Berghotels kommt er oft mehrere Stunden später an als seine Team­kollegen.

Schuhe, Helm, Hosen und Handschuhe zieht sich Schütter in der Gondel an, die sich durch den Nebel kämpft. Schnee­regen klatscht gegen die Fenster.

«Bist a Weltcup­fahrer?», fragt ein Mädchen, das ihn frech ausbremst, kaum hat er an der Bergstation die ersten Schwünge in den Schnee gefahren.

«Jo, kann ma scho sogn.»

Die Skibrille verdeckt das Gesicht, aber Schütter trägt die signalrote Jacke des Österreichischen Skiverbands; die Uniform des erfolg­reichsten Skiteams aller Zeiten. Das Mädchen bittet Schütter um ein Foto.

Erst danach fragt es ihn: «Wer bistn du eigentlich?»

Schütter stellt sich vor.

«Jo, jo, di kenni», sprudelt das Mädchen los. «Du bist der mit dem Klima.»

Julian Schütter, der mit dem Klima. Das bleibt bei den meisten hängen. Nicht seine Leistungen, Podest­plätze oder Technik machen ihn zu einem der ausser­gewöhnlichsten österreichischen Sportler jüngerer Zeit, sondern sein Mut, sein Aktivismus, seine Klarheit. Dem 25-Jährigen gelang Besonderes: Er zwang den mächtigen Welt­skiverband, sich mit jenen Fragen zu beschäftigen, die er bisher immer allzu gerne verdrängte und überhörte.

Dies ist die Geschichte eines Sportlers, der an der Klimakrise und ihren unzähligen Dilemmata fast zerbrochen ist: Wieso Ski fahren, wenn die Gletscher schmelzen? Es ist aber auch die Geschichte einer Befreiung. Sie erzählt, wie ein Profi­athlet in einem extrem kompetitiven und extrem gefährlichen Sport nicht mehr gewinnen muss, um erfolgreich zu sein.

Die Geschichte beginnt im Winter­sportort Schladming in der Steiermark. Da wuchs Schütter auf, direkt an der Piste. Sein Opa montierte bei Amateur­rennen die Tore, die Oma verteilte Start­nummern, und die Mutter nahm im Ziel die Zeit ab, weil sie darin besonders geschickt war. An den ersten Tag auf Ski kann sich Schütter nicht erinnern, so jung war er. «Geboren werden, krabbeln, gehen, Ski fahren», sagt er. «Das ist die Kindes­entwicklung in meiner Heimat.»

Warum Ski fahren, wenn es nur noch mit Schneekanonen möglich ist? Ein Verzicht, wie ihn Julian Schütter durchzieht, kann auch eine Befreiung sein.

Österreich investiert viel in den Skinachwuchs. Bis vor gut 20 Jahren waren Skiwochen an Schulen noch Pflicht. Jetzt, wo Rentner auf der Piste überhand­nehmen und immer weniger Kinder Ski fahren, plant die österreichische Politik, das frühere Obligatorium wieder einzuführen.

Der Skisport war in Österreich immer etwas mehr Volkssport, etwas heiliger als in der Schweiz. Die Dominanz auf der Piste gab dem Land Selbst­vertrauen, das nach zwei verlorenen Weltkriegen seine Identität suchte. Die Erfolge im Sport halfen, die Geschichte zu verdrängen. «Die Nazis waren die Deutschen, wir fuhren Ski», sagte vergangenes Jahr ein österreichischer Historiker, der sich mit der Geschichte des Skisports beschäftigt hat.

Mit 10 Jahren fragte Schütter seinen Coach beim Training auf dem Dachstein­gletscher oberhalb von Schladming, was es eigentlich mit den verlorenen Beton­fundamenten im kahlen Hang auf sich habe. Sie waren Überbleibsel von Skiliften, die die Betreiber unlängst rückgebaut hatten.

Das Eis, der Schnee würden nicht mehr ausreichen, antwortete der Coach.

Schütter hat die Skihauptschule besucht, «4 spassige Jahre», wie er auf seiner Website schreibt, «gefolgt von 6 traumhaften Jahren Ski­akademie Schladming». Er gewann in seiner Jugend Rennen, war schnell und unerschrocken – besonders in steilen Gefällen. Bald wurde er ins Landes- und ins National­kader berufen, fuhr im prestige­trächtigen Europacup. Kenner sahen in ihm den nächsten grossen österreichischen Abfahrer. Schütter war einer jener Athleten, die die Dominanz des österreichischen Skiteams retten sollten.

2021 hätte Österreich das Talent beinahe verloren. Dass es – vorläufig – anders kam, hatte das Land der Psychologin von Julian Schütter zu verdanken. Denn das Gewissen nagte an ihm.

Schuld war sein ökologischer Fussabdruck.

Skifahren ist nicht unbedingt klima­schädlicher als Wandern oder Mountain­biken. Schnee­kanonen stören zwar Wildtiere und benötigen extrem viel Wasser, stossen aber kaum Treibhaus­gase aus, weil sie vielerorts mit erneuerbarem Strom betrieben werden. Das mit Abstand meiste CO2 verursachen Profi­skifahrer mit ihren Reisen. Sommer­training in Chile, Rennen in den USA, Helikopter­einsätze, die zahlreichen Autofahrten in abgelegene Bergtäler – in Schütters CO2-Berechnungen läpperte sich einiges zusammen.

Als Schütter realisierte, wie viel Treibhaus­gase er verantwortete, kamen Zweifel. Angst plagte ihn. Es schauderte ihn vor einer Zukunft, in der Millionen Menschen auf der Flucht sind und schneefreie Alpen noch die kleinste Sorge sein werden. Ins Training ging er ohne Motivation, er fuhr schlecht. Wieso sich an einem Sport beteiligen, der mitbedroht, was er liebt, den Schnee, die Gletscher, das Skifahren?

«Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?», dachte er sich. Er wollte noch während der Saison aussteigen.

Den Entscheid verschob er nur, weil seine Techniker sonst ihre Arbeit verloren hätten. Ohnehin glaubte Schütter, dass er bald aus dem Kader geflogen wäre; seine Resultate waren zu schlecht. Die Trainer spornten ihn immer wieder an. Das kommt schon. Er müsse sich nur zusammen­reissen. Wieso Schütter sein Tempo, seine Freude nicht mehr auf die Bretter brachte, verriet er aber niemandem. Ein Jahr lang haderte er im Stillen.

Als er innerlich schon fast mit dem Profisport abgeschlossen hatte, vertraute er sich einer Psychologin an, die ihm der Skiverband zur Seite gestellt hatte. Schütter traute ihr lange nicht; er glaubte, sie müsse dafür sorgen, dass er noch mehr Geschwindigkeit aus seinem Körper heraus­presse; sie würde versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Schliesslich hatte der Österreichische Skiverband bis zu jenem Tag viel Geld in seine Karriere investiert.

2. Der Brief

Schütter hasst es, wenn ihn die Betreuer im Starthaus aufputschen, herum­schreien, ihm auf den Rücken klopfen. Viel lieber mag er es, «wenn der Schmäh läuft», Witze und Sprüche fallen, wenn es locker zu- und hergeht. Er nimmt sich immer vor, im Training wie im Rennen und im Rennen wie im Training zu fahren.

So auch im Januar 2023, als Schütter erstmals zur Abfahrt in Kitzbühel antrat. Das gefährlichste und legendärste Skirennen der Welt.

Mit der Startnummer 49 warf sich Schütter in die hals­brecherische Piste.

Bei der ersten Messung verzeichnete er die zweitbeste Zwischenzeit, nur wenige Hundertstel­sekunden trennten ihn vom späteren Sieger. Doch auf halber Strecke winkte ihn ein Streckenposten raus. Henrik Røa aus Norwegen, der vor ihm gestartet war, war gestürzt und lag verletzt im Zielraum, das Rennen wurde unterbrochen. «Der Juli», kommentiert der Fernsehmoderator euphorisch, während ein Helikopter Schütter für den erneuten Start hochflog. «I sog dir, des is so a sympathischer Kerl. So jung, so unbekümmert.»

Am Abend, von einem ORF-Journalisten auf den Helikopter angesprochen, outete sich Schütter erstmals in den Medien als Klima­aktivist. Er berichtete, wie er Demonstrationen mitorganisiert hatte, was für ein drängendes Problem der Klima­wandel sei. «Ich möchte etwas verändern», sagte Schütter.

Noch ahnte niemand, dass der junge Weltcup­neuling bald zum umstrittensten Abfahrer im alpinen Skisport avancieren sollte.

Ein paar Wochen später humpelte Schütter an den Skiweltmeisterschaften im französischen Courchevel auf Krücken gestützt über den Schnee. Beim zweiten Rennen in Kitzbühel hatte er sich das Kreuzband gerissen. Die Saison war für ihn gelaufen. Er sass auf einem Barhocker, umringt von Journalistinnen und Fotografen, im Hinter­grund spielte eine Blasmusik.

Die Alpen im Januar 2024: Blick auf die Region Innsbruck.

Schütter zitterte stärker als vor jedem seiner Abfahrts­rennen.

Er erzählte vom «wichtigsten Rennen», das man auf keinen Fall verlieren dürfe, und streckte eine lange Liste von Namen in die Kameras. 150 Athletinnen und Athleten hatten einen offenen Brief an den Ski-Weltverband FIS unterzeichnet. Ihre Forderungen: Klima­neutralität bis 2035, volle Transparenz und eine glaubwürdige Nachhaltigkeits­strategie.

Lange hatte sich Schütter vorbereitet. Sponsoren, Verbände und Athletinnen angeschrieben, um Vertraulichkeit gebeten. Der Plan, den er mit seiner Sport­psychologin ausgeheckt hatte, ging auf. Sie hatte ihm geraten, nach neuem Sinn zu suchen. Skirennen zu fahren, vielleicht sogar irgendwann einmal zu gewinnen, aber nicht nur für den Verband, nicht für Österreich, nicht einmal für sich selbst – sondern für die Aufmerksamkeit.

Jetzt im Weltcup hielten ihm Journalisten die Mikrofone hin. Jetzt konnte er über die Klima­erwärmung und ihre Folgen sprechen, auf der grössten Bühne, die ihm der Skisport bieten konnte. Doppelseite im «Spiegel», Auftritte in TV-Podcasts, auch das Schweizer Fernsehen widmete ihm viel Sendezeit. Schütter sagt: «Hunderte Profi­sportlerinnen, die auf der Piste aufs Schärfste miteinander konkurrenzieren, kritisieren gemeinsam ihren Verband. Wo gibt es das schon? Das ist mächtig, erzeugt Relevanz, hat Strahlkraft.»

Schütter sagt, es habe sicher geholfen, dass «grosse Namen» unterzeichnet hätten. Mikaela Shiffrin, die beste Skifahrerin der Gegenwart; Daniel Yule, Schweizer Olympiasieger; Aleksander Aamodt Kilde, Weltcup-Gesamtsieger.

Bald hatten mehr als 500 aktive Skisportler den Brief unterschrieben.

Wahrscheinlich hat FIS-Präsident Johan Eliasch mit seiner flapsigen Reaktion auf den Brief die Aufmerksamkeit zusätzlich befeuert. In einer ersten Antwort begrüsste die FIS in zwei Sätzen das Engagement der Sportler – um dann in einer wortreichen Stellung­nahme zu erklären, wieso es falsch sei, die Bemühungen des Verbandes als unzureichend zu bezeichnen.

Als Johan Eliasch, ein schwedisch-britischer Geschäfts­mann und Milliardär, 2021 FIS-Präsident werden wollte, kandidierte er mit einem Video für den Posten. Darin erklärt Eliasch, untermalt von Klavier­musik und Vogel­gezwitscher, dass er als ehemaliger Klima-Sonder­beauftragter des britischen Premier­ministers und Regenwald­schützer bestens geeignet sei für die nachhaltige Transformation des Skisports.

Kaum war er gewählt, verkündete der Welt-Skiverband unter Eliasch, man wolle nun zum ersten «klimapositiven» internationalen Sport­verband werden.

Eliasch möchte aber gleichzeitig mehr Rennen an noch mehr Orten veranstalten – in den USA, in China oder in saudischen Skihallen. Neue Märkte sollen neues Geld bringen. Seit letztem Jahr lässt er die Athleten zweimal in die USA und wieder zurück nach Europa fliegen.

Die Umwelt­organisation Greenpeace bezeichnete das Klima­marketing der FIS als «dreistes Greenwashing» und forderte den Weltverband auf, auf den Slogan «klimapositiv» zu verzichten. Die Vorwürfe dementierte der FIS-Präsident Eliasch als «komplett unsinnige Anschuldigung».

Nach dem offenen Brief von Schütter und seinen zahlreichen Mitstreiterinnen verhärteten sich die Fronten. Richtig gehässig wurde es aber erst, als im September Fotos von Baggern auftauchten, die im österreichischen Sölden einen Gletscher für das Weltcup-Auftakt­rennen traktierten.

Schütter packte die Wut. Er dachte sich: Was ist los mit denen? Was glauben die eigentlich, wer sie sind? Wieso dürfen die das überhaupt?

3. Der Gletscher

Ohne Schnee kein Ski. Es ist eine einfache Rechnung. Kleine und tief gelegene Skibetriebe sterben gerade einen langsamen Tod, andere kämpfen verbissen. Unvergessen ist die Meldung vom vergangenen Winter, als die Gstaader Berg­bahnen Schnee per Helikopter auf die Pisten flogen.

Solche Verzweiflungstaten werden oft belächelt, folgen aber ihren eigenen ökonomischen Zwängen. 50 Millionen Winter­sportlerinnen reisen jährlich in den Alpenraum, geben dort ihr Geld aus und versorgen dadurch abgelegene Bergtäler, die ohne den Winter­tourismus längst verödet wären. Es geht um Existenzen.

So auch in Sölden. Weil da der schmelzende Gletscher immer mehr Gestein freilegt, entschieden sich die Betreiber, Geröll abzutragen, damit sie bereits im Spätherbst sichere Pisten präparieren können. Der Weltcup-Riesenslalom war auf Ende Oktober angesetzt. Die Sport­industrie und die Tourismus­destinationen betonen immer wieder, wie wichtig der frühe Saisonstart für sie sei. Die Fernseh­bilder von verschneiten Hängen würden das Geschäft ankurbeln, Appetit machen aufs Skifahren.

Viele Athletinnen folgten diesem Wir-machen-November­skifahren-sexy-Marketing aber nicht mehr. Der frühe Saisonstart zwingt sie, im Sommer auf südamerikanischen Gletschern zu trainieren. Mit Schütter an der Spitze forderten Hunderte Profi­sportler, der Skiverband solle den Renn­kalender anpassen. Wintersport solle dann betrieben werden, wenn Schnee fällt: im Winter.

«Bis zu welchem Grad sollen wir unsere Umwelt an einen Zeitplan anpassen, den wir haben wollen?», fragte US-Skistar Mikaela Shiffrin. «Oder sollten wir unsere Zeitpläne an die Umwelt anpassen?»

In einer Stellungnahme warf die FIS den Athletinnen in einem ungewöhnlich harschen Ton vor, die Wintersport­community zu spalten und die Zukunft des Skisports zu beschädigen. Und dann sagte FIS-Präsident Eliasch – der den Rennkalender verantwortet – zum Saison­auftakt plötzlich selbst: «Ich verstehe auch nicht, warum wir auf Gletschern ohne Schnee fahren.»

Im Skizirkus galt Schütter lange als der charmante, etwas unbedarfte Österreicher, der sich mit dem allseitig unbeliebten FIS-Präsidenten Eliasch anlegte. Laut, aber harmlos. Das änderte sich nach Sölden. Einige Rennfahrer und Funktionärinnen ärgerten sich, Schütter und die Umwelt­schützer würden das Image beschädigen. Der Schweizer Rennfahrer Niels Hintermann sagte etwa, der Skisport würde «fast schon diskriminiert».

Zeitungen berichteten, wie Teamkollegen Schütter als «Nestbeschmutzer» bezeichneten. Keiner aus seinem Abfahrts­team hat seinen Brief unterschrieben. «Wenn mir der Schütter noch einmal meinen Fleisch­konsum madig machen sollte», beschwerte sich einer, «dann werde ich ihm eine reinhauen.»

Schütters Cheftrainer Sepp Brunner sagte einem «Blick»-Journalisten, er möge den Julian, ein netter Bursche. Aber anstatt seriös Reha zu machen, habe er sich zu stark in den Klima­schutz verbissen. Aber Schütter sagt, sein Trainer sei in seiner selektiven Wahrnehmung gefangen: «Er sieht die Medien­artikel über mich und glaubt, ich mache nichts anderes mehr.»

Schütter erlebt, wie im Verlauf der aktuellen Saison die Diskussionen im Skisport kippen, wie die Reaktionen aggressiver und ungehaltener werden.

Als Klima­aktivisten beim Slalom von Gurgl den Zielraum stürmten und den Schnee mit oranger Farbe bespritzten, stürzte sich der norwegische Skistar Henrik Kristoffersen auf sie. Später sagte er, das seien «verdammte Idioten», «solche Menschen sollten wir nicht auf der Welt haben» und «ich hätte ihn noch einmal geschlagen, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hätte».

Bei einer Talkrunde beim rechts­populistischen Servus TV nahmen die beiden Skilegenden Peter Schröcks­nadel und Markus Wasmeier den jungen Schütter in die Mangel, warfen ihm das vor, was ihm oft vorgeworfen wird. Wasmeier, in den 1990er-Jahren ein ziemlich erfolgreicher bayerischer Skirennfahrer, fuhr seinen Zeigefinger aus und wetterte, Schütter fliege doch wie alle anderen auch jeden Sommer nach Chile, um zu trainieren.

«Du machst das ja auch. Du willst ja auch nach oben kommen!»

«Ja», antwortete Schütter.

«Das ist e bissl inkonsequent.»

«Ich mach das, weil ich muss. Weil es anders gar nicht …»

«Du musst jo nid. Kannst ja aufhören. Jederzeit», unterbricht ihn Schröcks­nadel forsch, einer der mächtigsten Männer im Skisport. Er hat 30 Jahre den Österreichischen Skiverband geleitet und besitzt ganze Skigebiete.

«Aber was würde ich damit ändern?», antwortet Schütter. «Es würde einfach der Nächste nachrücken. Viel gescheiter ist es, wenn ich versuche, die Szene zu verändern. So kann ich mehr bewegen, als wenn ich einfach aufhöre.»

«Wein trinken und Wasser predigen», ruft Schröcks­nadel dazwischen. «Dis passt nid.»

4. Der Umbruch

Januar 2024, im Skigebiet bei Innsbruck, Schütter fährt noch vorsichtig, beschränkt sich auf Technik­übungen, balanciert auf einem Bein, kein Risiko. Noch immer ist er verletzt – nach dem Kreuz­bandriss von vergangenem Jahr in Kitzbühel kam auch noch ein Bandscheiben­vorfall hinzu. Erfolg, Verletzung, Erfolg, Verletzung, Verletzung, Karriere­ende, fertig – so verlaufe eine Skikarriere, sagt er. Wenn er endlich eine Saison durchfahren könnte, würde es vielleicht für die Olympischen Winterspiele 2026 reichen.

Auf dem Skilift, die klammen Finger erwachen langsam wieder unter der Haube, sagt er: «Ich habe so viel investiert. Das möchte ich nicht leichtfertig wegwerfen.» Dann überlegt er lange, die Seilbahn rattert. «Aber vielleicht würde es mich auch befreien. Ich hätte mehr Zeit für andere Projekte.»

«Geboren werden, krabbeln, gehen, Ski fahren. Das ist die Kindesentwicklung in meiner Heimat.»

Später im Gipfel­restaurant schielen sonnen­gegerbte Rentner zu Schütter hinüber. Erstes Bier fliesst, die Wirtin wirft die Fritteuse an und ich stelle Schütter jene Frage, die mich schon den ganzen Morgen beschäftigt: Bedeutet seine Vision von Skirennen nicht das Ende des globalen Sports?

Klimaneutral, keine Flüge, keine langen Reisen, also auch keine Olympischen Spiele.

«Mir wird oft vorgeworfen, ich wolle den Skisport beschädigen», antwortet er. «Aber das stimmt doch nicht. Ich will, dass Menschen aus verschiedenen Nationen zusammen­kommen, sich anfreunden, eine gute Zeit haben. Die Frage, wie wir uns fortbewegen, hat der Sport ja nicht allein für sich reserviert, die beschäftigt in fast allen Gesellschafts­bereichen. Aber der Skisport soll in dieser Diskussion vorangehen: also wieso zum Beispiel eine Skiweltmeisterschaft nicht mit Schiffen als Transport­mittel organisieren? Das hat früher auch funktioniert. Wieso soll das heute nicht mehr gehen?»

Am Vorabend unseres gemeinsamen Skiausflugs bei Innsbruck publiziert der Skiverband FIS auf seiner Website seine neue Nachhaltigkeits­strategie. Kein Tamtam, wenig Pathos, kein Geschwurbel. Der Verband verpflichtet sich zu mehr Transparenz, will im nächsten Sommer eine umfassende CO2-Bilanz veröffentlichen und seine Treibhausgas­emissionen bis 2030 halbieren.

Alles Forderungen aus Schütters offenem Brief.

Vom ersten angeblich «klimapositiven» Sport­verband ist dieses Mal keine Rede mehr.

Vielleicht ein spätes, leises Eingeständnis.

Vielleicht aber auch ein Befreiungs­schlag, weil der Skisport angesichts der laufenden Horror­saison im Skiweltcup nur wenige gute Nachrichten liefert.

Ein Rennen nach dem anderen muss die FIS absagen – wegen Wetterpech oder weil der Schnee fehlt. Jedes Wochenende klagen Athletinnen über den kümmerlichen Zustand der Pisten. Um Rennen zu gewährleisten, streuen die Betreiber tonnenweise Salz, damit der Schnee kurzzeitig abkühlt. Als der Renndirektor vor drei Wochen angegangen wurde, weil er wieder eine Abfahrt abblasen musste, tippte er sichtlich genervt auf seine Skibrille und redete auf eine Reporterin ein: «Sehen Sie die Brille?»

Er stand durchnässt im Ziel, die Skibrille voller Regentropfen.

Im Skisport bricht gerade etwas auf. Skifahrerinnen wie Mikaela Shiffrin oder die Schweizerin Lara Gut-Behrami sprechen in Interviews offen über ihre Menstruation und wie sie sich auf ihre Leistungen auswirkt. Vergangenes Jahr trat der 23-jährige Norweger Lucas Braathen zwei Tage vor dem Weltcup­auftakt unter Tränen zurück, weil er sich mit dem eigenen Verband zerstritten hatte und sich unfrei fühlte. Braathen war ein sehr erfolgreicher Slalom­fahrer, stach mit ausgefallenen Outfits hervor, und auch er bekam den Vorwurf zu hören, er solle sich doch statt auf die Kleidung besser aufs Skifahren konzentrieren.

«Die Skiwelt müsste froh sein um solche Menschen», sagt Schütter.

Sie kämpfen für die Zukunft ihres Sports, der aus der Zeit gefallen scheint, während vielerorts im Alpen­raum gerade wieder die Bergbahnen stillstehen.

Auf dem Dachstein­gletscher oberhalb von Schladming wurden im Frühling und im Sommer letzten Jahres alle Schlepplifte abgerissen. Der Betrieb ist für immer eingestellt.

Schladming, wo Schütter als Kind trainierte und erstmals bemerkte, dass das Eis schmilzt. Wenn er von dieser Zeit erzählt, leuchten die Erinnerungen aus seinem Gesicht: der Geruch von Bratfett in der Skihütte; das Wiener Schnitzel mit Pommes; das Skifahren abseits im Wald, «zack, zack, zack», immer nur Zentimeter davon entfernt, in den nächsten Baum zu krachen.

5. Der Rücktritt

Schütter ruft an, Mitte Februar. Er ist zu Besuch in seiner Heimat, fährt mit dem Fahrrad zu einer Freundin, der Fahrtwind rauscht ins Telefon, die Verbindung ruckelt und er fragt mich, wann der Artikel über ihn erscheinen soll.

«Nächste Woche», sage ich.

«Schlechtes Timing.»

«Wieso?»

«Weil sich in meinem Leben bald einiges verändern wird.»

Wenige Tage später postet Julian Schütter auf seinem Blog einen Abschiedstext: «Danke Skifahren.»

Die Schmerzen im Rücken wurden mehr. Demnächst muss er operieren. Schütter sagt, ihm fehle das notwendige Feuer, um seine körperliche Gesundheit noch einmal und noch einmal in den Hängen zu riskieren.

Er schreibt, sein Aktivismus sei nicht der Grund für den Rücktritt. «Er stand auf der Pro/Contra-Liste immer unter Pro-Weiterfahren.» Und: «Es ist mir wichtig, anzumerken, dass der Skisport eher Opfer als Auslöser der Klima­katastrophe ist. Er kann zwar besser, aber niemals klimaneutral werden, solange sich nicht unsere gesamte Gesellschaft transformiert.»

Schütter erhält viele nette Nachrichten. Sogar der österreichische Vizekanzler hat sich bei ihm bedankt. Er schreibt, Schütter habe Bleibendes hinterlassen.

Wochenlang hat Schütter mit seinem Entscheid gerungen. Vor dem Rücktritt blätterte er noch einmal alte Fotoalben durch. Sieger­ehrungen, Mannschafts­fotos, sonnige Schneetage. Erinnerungen aus einer Zeit, in der ein Julian Schütter ohne Skirennen unvorstellbar gewesen wäre. «Die Unbekümmertheit, die Leichtigkeit, die man mir auf den Fotos ansieht, habe ich eines Tages verloren. Wahrscheinlich weil ich mir erlaubt habe, die Realität anzuerkennen. Und dann bleibt einem eigentlich nur noch die Illusion oder Depressionen», sagt er. «Mein Leben war unbeschwerter.»