Viele Kims in Magdeburg: Anton Andreew, Michael Ruchter, Carmen Steinert, Iris Albrecht (v. l.). Kerstin Schomburg

Wie macht mensch ein «Blutstück»?

Kim de l’Horizons «Blutbuch» ist der erfolgreichste Schweizer Roman der letzten Jahre. Nun hat es die Theater­bühnen erobert: zwei in Deutschland und zwei in der Schweiz. Ein Vergleich.

Von Valeria Heintges, 28.02.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Der Roman «Blutbuch» am Theater – auch das noch! Reicht es nicht, dass das Werk von Kim de l’Horizon den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewann und uns seither sein rot-blau-grelles Cover in allen Buch­handlungen entgegen­leuchtet? Nein, es reicht nicht. Denn nonbinäre Körper sind bisher in deutsch­sprachigen Theatern noch viel zu selten sichtbar – auf der Bühne, aber auch davor. Und «Blutbuch» ist die perfekte Lösung, um das endlich zu ändern.

«Blutbuch» sei ein «Buch der Verwirrungen und Vernarbungen», der «Einkerbungen in Körper und Seele», hiess es damals in der Republik-Rezension. In dem Roman unternimmt die Erzähl­person Kim eine Suche – mit Irr- und Umwegen – nach der eigenen Vergangenheit und der «Grossmeer» (ein Spiel mit dem berndeutschen «Grossmère»). Um sich des eigenen Körpers zu versichern. Und um darin Heimat zu finden.

«Wie wird mensch eine Blutbuche?», fragt das Kind im Buch seinen Freund, den Baum. Analog könnte man fragen: Wie wird mensch ein «Blutbuch»? Und wie wird daraus ein «Blutstück»? Wie also bringt man dieses wilde, wüste, zärtliche, dieses vielstimmige und vielsprachige Werk auf die Bühne?

Vier Regisseurinnen haben darauf mit einer je eigenen Inszenierung Antwort gegeben: in Bern, in Magdeburg, in Hannover und in Zürich.

Was gelingt, was fasziniert, was geht daneben? Und was verrät all das über de l’Horizons Werk? Ein Vergleich.

1. «Blutbuch» ist Text und Kraft: Bern

Gerade noch steht Lucia Kotikova Kaugummi kauend in der Tür. Gekleidet in Jogging­hose, schwarzem Sweatshirt und haut­farbenen Badelatschen, wie ein zu spät erschienener Gast.

«Ich bin vom Personal, wir warten noch auf ein paar Zuschauer», sagt sie, nachdem sie den Kaugummi entsorgt hat. Ganz locker und leger berichtet sie von ihrem miesen Tag: Wie sie auf der falschen, weil schattigen Seite der Aare joggen war, wie sie den falschen Screenshot an die falschen Leute schickte, ein Los kaufte, das eine Niete war – natürlich. Sie spricht von den Verwandten, «Onkel, Tanten, dem ganzen Kuchen», fixiert dann einen Mann in der ersten Reihe, fragt: «Na, wie geht es dir, Kind?» Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern spricht weiter, vom Blutbuchen­sämling, vom Blutbuchen­sprössling.

Und ist, fast übergangslos, im Text von «Blutbuch».

Lucia Kotikova stemmt die Inszenierung von Regisseur Sebastian Schug ganz allein, 300 Buchseiten gekürzt auf 22 Word-Seiten und 90 Minuten Spieldauer. Eine Schauspielerin, eine kleine Bühne mit Podest, viele Textblätter an der linken Wand, einige wenige an der rechten, darunter eine Wind­maschine. Das Bild hinter der Bühne wechselt, weil sich Kotikova das jeden Abend selbst zurechtspuckt, mit den Wasserfarben, mit denen sie eigentlich versuchen wollte, eine Blutbuche zu malen.

Reduzierter kann ein Theaterabend kaum sein, erst nach 35 Minuten meldet sich die Technik mit einem Lichtwechsel, bis dahin brennt das Saallicht, allerdings immer schwächer und schwächer werdend.

Glasklar zeigt die Textfassung die Widersprüche und Brüche in der Erzählfigur Kim. Die fordert im Buch und in Bern vehement das Recht ein, zu leben, wie sie es für richtig hält, gendert, was die Buchstaben hergeben – und wirft dem Liebhaber doch kurz vor dem Orgasmus ein «Du Drecks­araber!» an den Kopf. Rassismus vom Feinsten. Und eben nicht der ach so aufgeklärte, politisch korrekt agierende Mensch, der dieses Erzähl-Ich sein möchte. Vielmehr jemand, der willig eintaucht in eine masochistische Männerwelt. Nicht einmal die so viel bewunderte Blutbuche ist einfach nur ein Baum – sondern entpuppt sich als Statement des nationalistisch denkenden «Grosspeer».

Kotikova, 1998 in Dortmund in eine jüdisch-ukrainische Familie geboren, trat 2021 an den Bühnen Bern ihr erstes Engagement an. Mit unglaublichem Mut und grosser körperlicher Kraft schmeisst sie sich in die Rolle. Sie suhlt sich regelrecht im rhythmisch-ratternden Text, wühlt sich in und durch die Sätze. Wenn sie vom Grossmeer-Monster-Mund redet, vom Schlürfen, vom Schlucken, vom Stottern, schlürft, schluckt und stottert sie scheinbar selbst die Wörter. Dabei bleibt sie ganz durchlässig, oft ein bisschen ironisch, und wahrt auch so immer gesunde Distanz zum Text.

In Bern und in allen anderen Inszenierungen interessieren sich die Regie­teams nicht gross für die Mühen und Tricks des schreibenden Ichs, das auch literarisch neue Formen sucht, um der Welt näher­zukommen. Die fiktiven Lebensläufe der Ahninnen, die im Roman einen weiten Raum einnehmen, werden in Bern nur kurz erwähnt, in den anderen Inszenierungen ganz gestrichen.

In Bern stemmt Lucia Kotikova die Inszenierung von Regisseur Sebastian Schug ganz allein. Yoshiko Kusano

Vielmehr interessiert die dramatische Entwicklung des sich selbst erforschenden, nonbinären Ichs, das seinen Platz sucht in einer binären Welt. Lucia Kotikova gehörte 2021 zu den Erst­unterzeichnerinnen des Manifests «#Actout», mit dem sich 185 Akteurinnen – bekannt von Bühne, Funk und Fernsehen – als «lesbisch, schwul, bi, trans*, queer, inter und nonbinär» outeten. Auch weil sie nicht mehr länger hinnehmen wollten, dass ihnen von Agenturen geraten wurde, «die eigene sexuelle Orientierung, Identität sowie Gender geheim zu halten, um unsere Karrieren nicht zu gefährden».

Auch auf der Bühne gibt sich Kotikova mal aggressiv, mal zärtlich-verletzlich, fordert sich und ihr Publikum. Salopp, aber auch kokett fragt sie: «Versteht ihr mich überhaupt?» und «Das war jetzt zu schnell, oder?» Dabei muss der Text weitgehend für sich selbst sprechen, die Kiste der Theater­tricks bleibt in Bern fest verschlossen. Dieses Vertrauen in den Text ist auch ein Vertrauen in die Person Kim de l’Horizon, die 2021/22 «Hausautorj» an den Bühnen Bern war, dort das Stück «Hänsel & Greta & The Big Bad Witch. Eine Weltrettung in 13 Übungen» schrieb, das im September 2022 uraufgeführt wurde. Kotikova brilliert darin ebenso kämpferisch als Märchen-Gretel/Greta-Thunberg-Mix.

Der Minimalismus der Berner «Blutbuch»-Inszenierung geht lange Zeit gut auf. Nur gegen Ende rächt sich die Zurück­haltung. Regisseur Sebastian Schug liefert zu wenige Ideen und überfordert seine junge Haupt­darstellerin zunehmend. Es ist die klassische Falle, wenn Theater­ästhetik zu nahe an eine szenische Lesung heranrückt.

2. «Blutbuch» ist Feier und Abschied: Hannover

Von dieser Gefahr könnten die Inszenierungen in Hannover und Magdeburg nicht weiter entfernt sein.

Hannovers Regisseur Ran Chai Bar-zvi, 1989 in Jerusalem geboren, 2012 nach Berlin gezogen, beschreibt im Trailer-Interview sichtlich irritiert, wie er beim Lesen des Romans das Gefühl gehabt habe, jede Seite sei «ein neues Buch, ein neues Genre, neue Mittel, eine neue Sprache». Irgendwann, so Bar-zvi weiter, müsse man «auch das Buch total umkehren». Und er sagt: «Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ich mein eigenes Tagebuch lese. Und daher war es auch mein Impuls, meine queere Kultur auf der Bühne zu zeigen.»

Das Ergebnis dauert zwei Stunden und ist zweigeteilt: Es beginnt im Café der Spielstätte Ballhof mit einer Dragshow nach allen Regeln der queeren Kunst. Mit dabei: Olympia Bukkakis, 1987 in Australien geboren, seit 2012 in Berlin lebend. Sie arbeitet als Dragqueen, Choreografin, Moderatorin und Autorin und organisiert in Berlin queere Performance-Nächte. Und genau so eine Performance-Nacht steigt auch an diesem Abend. Bukkakis zeigt viel Bein, singt hingebungsvoll, aber natürlich zum Playback Schlager voller Liebe und Sehnsucht.

Erst mal also: nur Atmosphäre, Feier der Queerness, der Körperlichkeit. Dann als Zugabe, noch immer im Café, eine Szene aus «Blutbuch», an deren Ende der Satz der Mutter der Erzähl­person fällt: «Kannst du bitte einen Lebenslauf für Grossmeers Beerdigung schreiben?» Daraufhin ziehen die drei grossartigen Schauspielerinnen, neben Bukkakis auch Fabian Dott und Nils Rovira-Muñoz, gefolgt vom Publikum um auf die Bühne der Spielstätte Ballhof Zwei, um der Beerdigung beizuwohnen.

Das ist der Beginn einer dreifarbigen Erkundung der Vergangenheit: Zum Schwarz der Beerdigungs­anzüge – die roten Tops schauen nur schüchtern-knapp aus dem Ausschnitt heraus – kommt das Weiss der überbordenden Frauenkleider, die sie sich später anziehen, und das Rot der Blutbuche.

Eine von Trauer und Melancholie durchwobene Feier queeren Lebens: Olympia Bukkakis, Nils Rovira-Muñoz, Fabian Dott (v. l.) in Hannover. Kerstin Schomburg

Zunächst wirkt die Bühne, die Ran Chai Bar-zvi selbst entwarf, wie ein leerer, weisser Kasten, aber im Laufe der Inszenierung versammeln sich immer mehr Requisiten, oder besser: Gegenstände der Erinnerung. Der Fortlauf der Erzählung ist somit auch ein fortschreitendes Erschaffen einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer möglichen Zukunft.

Dabei wechseln die drei Akteurinnen ständig Rollen, Figuren und Kostüme; mal sind sie alle Kim, mal Meer oder Grossmeer, mal in schlichtem Anzug, mal in opulenten Frauenkleidern, mal nur so schwach angestrahlt vom Licht, dass sie wirken wie schwarze Schatten oder Scherenschnitte.

Die Party ist jetzt vorbei, der überbordende Feierspass weicht zunehmend einer leise-melancholischen Trauer. Bachs «Air» erklingt; einmal, sehr schrill, auch die Titelmelodie aus «Pippi Langstrumpf» («Zwei mal drei macht vier, / widewidewitt und drei macht neune, / ich mach mir die Welt, / widewide wie sie mir gefällt»). Und immer wieder Alexandras Schlager «Mein Freund, der Baum», in dem die Sängerin das Schicksal ihres «alten Freunds aus Kindertagen» besingt, der für den Neubau – «ein Haus aus Glas und Stein» – sein Leben lassen muss.

«Blutbuch» in Hannover ist eine immer wieder von Trauer und Melancholie durchwobene Feier des (queeren) Lebens. Und – stärker als in Bern – erkundet sie auch das Leben der Grossmeer. Konsequenter­weise ist deren Beerdigung der Anfang, ihr Tod das Ende: Und alles beginnt von vorn.

3. «Blutbuch» ist Projektions­fläche: Magdeburg

Mehr noch als in Hannover lebt die Magdeburger «Blutbuch»-Inszenierung vom schier überbordenden Einfalls­reichtum des Regieteams. Gleichzeitig ist keine Inszenierung so nah am Originaltext und so nah am erzählerischen Ich wie diese.

Weil das erzählerische Ich im Roman ebenfalls Kim heisst, ist der Vermutung Tür und Tor geöffnet, das Werk sei mindestens teilweise autobiografisch zu lesen. Auf der Magdeburger Bühne sind alle Spielenden einmal diese Figur Kim, oft auch alle zusammen. Und das meint: Sie treten auf in den Kleidern, die Kim de l’Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises trug. Als Kim sich darin in Solidarität mit den demonstrierenden Frauen im Iran die Haare abrasierte, wirkte das im klassisch-gediegenen Umfeld des Frankfurter Römer-Saals, als sei Kim geradewegs einem Ufo entstiegen: durchsichtig-blaues Langarm­shirt, darüber ein Top, aus dem grasartige Fäden spriessen, dazu ein bodenlanger, grün glitzernder Rock. Unterm dunkelbraunen Schnurrbart leuchtet der rote Lippenstift.

Aber Kim, siebenfach verdoppelt, ist nicht mehr einzigartig, sondern ein uniformer Kim-Chor. Und eine Projektionsfläche.

Mit diesem Motiv spielt Regisseur und Bühnen­bildner Jan Friedrich: In einer Szene in «Blutbuch» beschreibt die Erzählfigur, wie sie eines Tages in der Berner Innenstadt überraschend die Grossmeer sieht. «Ich bin stehen­geblieben, erstarrt, Schweiss­ausbruch», heisst es im Text.

In Magdeburg erstarrt nicht Kim, sondern die Grossmeer. Steingrau steht Iris Albrecht da, graue Haare, grauer Mantel, graues Gesicht. Wie eine Untote wandelt sie immer wieder über die Bühne. Ihr grauer Körper wird zur Leinwand, eine Kamera projiziert flimmernden grauen Schnee darauf, wie das Störbild eines Fernsehers. Plötzlich zeigt auch Julia Buchmanns Meer diesen Störschnee. Und jetzt wirkt auch das Glitzern der Kim-de-l’Horizon-Röcke wie Störschnee. Der Rock wandelt sich von einer Reminiszenz an den denkwürdigen Auftritt zu einem Sinnbild der fragwürdigen Projektion, die jede Inszenierung vornimmt und vornehmen muss. Gleichzeitig ist der Umgang mit Körpern, auch dem eigenen, in Magdeburg immer wieder Thema.

Was ist hier echt? In Magdeburg arbeitet Regisseur Jan Friedrich mit Vexier­bildern. Kerstin Schomburg

«Ich versuche, über meinen Körper zu verfügen», sagt Kim im «Blutbuch» und in allen Inszenierungen. Und an die Grossmeer gewandt: «Ich spürte, dass du keinen Körper hattest.» Das sind zentrale Sätze für die Bühnen – denn was ist eine Dramatisierung anderes als das (zeitweilige) Verleihen eines Körpers?

Aber damit ist die Zauberkiste des 1992 im ostdeutschen Eisleben geborenen Regisseurs Jan Friedrich noch lange nicht ausgeschöpft. Friedrich, der auch Zeitgenössische Puppenspiel­kunst an der renommierten Ernst-Busch-Schule in Berlin studierte, verwandelt Carmen Steinert in den kleinen Jungen, der sich vor der Grossmeer fürchtet und vor der bösen Eishexe. Steinert schrumpft zum Kind, bewegt sich kniend fort, den Kinderkörper als Puppe vor dem Leib. Oktay Önder schwebt auf einem Stuhl über ihr, aus den Stuhlbeinen wächst eine riesige, rote Blutbuchen­wurzel. Steinert ist – weiss geschminkt, angemalte kreisrunde Backen – der albtraum­geplagte Clown in einem gespenstischen Zirkus.

Die Frage taucht auf: Was ist hier echt – die erwachsene Schauspielerin oder das Kind, das wir zu sehen meinen? Immer wieder arbeitet Friedrich mit solchen Vexier­bildern. Dafür behängt Bühnenbildner Alexandre Corazzola die Mittelbühne in der ganzen Länge mit einem Fadenvorhang, der zur Leinwand für die Live­kamera werden kann. Unmöglich, in jedem Moment der zwei Stunden Spieldauer zu sagen, was live im Raum hinterm Faden­vorhang gespielt und übertragen wird und was als Film vorproduziert wurde.

Filmische Momente finden sich auch im «Blutbuch»; etwa wenn ein Absatz nur aus dem Wort «Cut» besteht, das schreibende Ich danach einen Anlauf unternimmt, sich der Grossmeer literarisch zu nähern. Ein «Cut!» unterbricht nun auch in Magdeburg, leitet immer neue Bilder, immer neue Mittel ein, den Roman zu bändigen, zu illustrieren, ihn mit theatralischen Mitteln zu vergegenwärtigen und zu deuten.

Übrigens: Wie Hannover belässt auch Magdeburg das Geschehen in der Schweiz, in Bern und in Zürich. Darüber hinaus aber spricht Julia Buchmann, 1995 in St. Gallen geboren und seit 2022 Ensemble­mitglied, zeitweise Schweizerdeutsch – fürs deutsche Publikum konsequent übertitelt. Ein unverständlicher Text als ungewollte Projektions­fläche – das wäre dann doch zu viel des Guten.

4. Stückwerk oder Fortschreibung: «Blutstück» in Zürich

Weil Kim de l’Horizon mit dem Riesenerfolg des «Blutbuchs» zur Projektions­fläche wurde, ist es nur konsequent, dass Kim schliesslich im «Blutstück» am Schauspielhaus Zürich selbst auf der Bühne steht.

Sie brauche, sagt Sasha Melroch, eine Projektions­fläche «für eine kurze Demonstration». «Darf ich dich kurz benutzen?», fragt sie ihre Schauspiel­kollegin Gro Swantje Kohlhof. Immerhin: Sie fragt. Das Benutzen des Körpers des anderen, in welcher Form auch immer, ist immer ein unzulässiger Übergriff – so lautet eine der Kern­aussagen dieses ungewöhnlichen Theater­abends. Ihr eigener Körper, sagt Melroch, bestehe zu 60 Prozent aus Angst. «Und überall verteilt gibt es auch Einsamkeit, Zerrissenheit, Scham, Schmerz.» Es ist die grosse Kraft und Fähigkeit dieses «Blutstücks», dass Sätze wie dieser nicht kitschig wirken, sondern ehrlich berühren.

Die Regisseurin Leonie Böhm, 1982 in Stuttgart geboren, arbeitete bisher vor allem mit kanonischen Werken. Sie setzt die alten Stoffe als mehr oder wenig bekannt voraus und bedient sich darin wie in einem Setzkasten, beleuchtet zusammen mit ihren Schauspielern nur einzelne Motive. Zuweilen setzt sich auf diese Weise ein Klassiker neu zusammen, zuweilen hat das Ergebnis mit dem Originalwerk nur noch wenig zu tun. Meistens gibt es in Böhm-Inszenierungen Strecken voller Leerlauf, wenn die Darstellerinnen sich zu sehr in sich selbst und mit sich selbst verlieren, die Texte beinahe banal wirken. Dann wieder entstehen zwischen den Spielenden auf der Bühne authentische Erzählungen, Momente voller Wahrhaftigkeit und grosser Gefühle.

So ist es auch in «Blutstück», mit dem sich Böhm von ihren Klassiker­arbeiten entfernt.

In Zürich macht schon der Titel deutlich, dass man sich für den Original­text nur bedingt interessiert. Mehr noch, Kim de l’Horizon selbst: «Das Buch ist gescheitert.» Das Werk habe einen Anstoss zu einer neuen, einer anderen, einer offeneren Gemeinschaft geben sollen. Was es stattdessen bedeutet habe: einsame Momente am Schreibtisch und auf Reisen. Daher sei es jetzt an der Zeit für einen Genrewechsel, zurück ins Theater. Denn Kim stand einst schon im Jungen Theater Basel auf der Bühne.

Nach und nach findet Kim de l’Horizon nun im Schauspielhaus Zürich eine Gemeinschaft der Körper. Beinahe unablässig umarmen sich die Darstellenden, halten einander an der Hand, liebkosen sich. Immer wieder, vor allem in den ausgreifenden Improvisationen, wird das Publikum in die Gemeinschaft einbezogen. «Ich will über meinen Körper verfügen» ist das Motto. Und: «Ich will dir nicht zu nahe treten, aber auch nicht allein sein.»

Das ist ein gefährliches Wagnis. In «Blutbuch» berichtet die Erzählfigur immer wieder davon, zusammen­geschlagen worden zu sein. Wenn Kim ins Publikum geht, in die Stuhlreihen hinein, auf der Suche nach «einer Hintertür», muss man dieses Risiko im Kopf haben.

In Zürich steht Kim de l’Horizon (l.) in «Blutstück» (hier mit Gro Swantje Kohlhof) selbst auf der Bühne. Diana Pfammatter

Kim beginnt ein Gespräch, stockend, nervös. Ein Mann lässt sich ein auf das Spiel. Kim fragt: «Willst du mein Verbündeter sein?» – «my ally» übersetzt das Untertitel-Board. «Ja», sagt der Mann und nickt. Das ist einer dieser magischen Momente, die es nur im Theater gibt. Man meint zu spüren, dass diese Verbundenheit Schutz ist, dass sie – massenhaft multipliziert – Lösung sein könnte.

Die Suche nach Gemeinschaft, nach einem Körper, der nicht beengt wird und selbst nicht einengt, nach anderen Körpern, die erweitern und erweitert werden, die penetrieren und penetriert werden – das ist das Hauptmotiv, das Böhm mit ihrem beeindruckenden, im Fall von Gro Swantje Kohlhof auch hervorragenden Ensemble gefunden hat. Im Grunde genommen zeigen sie: einen Kampf um die Deutungshoheit.

In einer grossartigen Szene schildert Kohlhof, wie sich die Körper, gerade der Ursuppe entstiegen und ihrer Einzigartigkeit bewusst geworden, aneinander stossen. Wie die Grossmeeren – denn sie verkörpern alle diese Grossmeere – auf Ritter treffen und sie bewundern. Und wie ihnen die Ritter sofort Schranken aufweisen, Macht und Gross­artigkeit beanspruchen. Die Grossmeeren landen, als Hexen diffamiert, auf dem Scheiterhaufen.

Aber sie leben weiter, bis in die Gegenwart. Und machen sich bemerkbar, mit einer «Schmach der Verpeiltheit». Dann stören sie leise, aber unüberhörbar den alltäglichen Trott. Und liefern – eine starke Szene für Vincent Basse – mit der uns überlieferten Vergangenheit zuweilen auch schweren (historischen) Ballast, den wir mit herumschleppen müssen.

Ja, auch in Zürich gibt es Momente des Leerlaufs, banale Sätze. Das ist Teil des Muts zur Improvisation, Teil der «wunderschönen Gefährlichkeit», die Kim im Theater suchte – und in diesen über hundert Minuten fand.

Und sicher, mit «Blutbuch» springen die Theater auf einen Erfolgszug auf. Aber warum auch nicht?

Ihr Unternehmen gelingt umso besser, je mehr sie dem literarischen Text etwas Eigenes hinzufügen. Das Buch bietet dafür genügend Material, mit seiner rhythmischen Sprache, seinen starken Bildern und Sprachspielen. Für die Bühne müssen die literarischen Bilder in dramatische überführt werden: Das «Blutbuch» muss zu Menschen, zu Darstellenden werden.

Das Resultat nach viermal «Blutbuch» ist so schillernd und divers, wie unsere Gesellschaften sind, aber lange nicht sein durften und noch längst nicht überall dürfen. Nonbinäre Körper werden sichtbar. Und das ist auch gut so.

Zu den Inszenierungen:

«Blutbuch» auf den Bühnen Bern (Vidmarhallen). Inszenierung: Sebastian Schug.

«Blutbuch» am Staatstheater Hannover, Ballhof Zwei. Inszenierung: Ran Chai Bar-zvi.

«Blutbuch» am Theater Magdeburg. Inszenierung: Jan Friedrich.

«Blutstück» am Schauspielhaus Zürich (Pfauen). Inszenierung: Leonie Böhm.

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