Pfister

Die demokratisch ausgehandelte Wahrheit triumphiert nie laut

Alles wird emotionalisiert, während sich die Menschen gleichzeitig von den politischen Institutionen abwenden. Diese Hyper­politik ist eine Gefahr für die Demokratie. Doch es gibt einen Ausweg.

Von Gerhard Pfister, 27.02.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Wenn westliche Menschen sich heute mühelos als Demokraten bezeichnen, dann meistens nicht, weil sie den Anspruch erheben, das Gemein­wesen in täglichen Anstrengungen mitzutragen, sondern weil sie Demokratie zu Recht für die Gesellschafts­form halten, die es ihnen erlaubt, nicht an den Staat und die Kunst des Zusammen­gehörens zu denken.

Vielleicht erscheint Ihnen das wie eine gute Schilderung der heutigen Zeit, in der die demokratischen Staaten von immer heftigeren politischen Auseinander­setzungen beherrscht werden. Und in der dennoch häufig der Eindruck entsteht, die Bürger würden sich um das Gemein­wesen und das Zusammen­gehören immer weniger bemühen.

Doch damit hätten Sie sich getäuscht. Denn das Zitat stammt aus einem Buch von Peter Sloterdijk aus dem Jahr 1993. Es heisst «Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik».

Zum gleichen Thema veröffentlichte 2023 der belgische Historiker Anton Jäger ein Buch mit dem Titel «Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen». Darin zitiert er Sloterdijk und entwickelt dessen Gedanken weiter zu einer eigenen Analyse unserer Gegenwart. Diese sei geprägt durch die Rückkehr der Politik in die Gesellschaft, während die Menschen gleichzeitig nicht mehr am demokratischen Prozess beteiligt seien über die traditionellen partizipativen Organisationen wie Parteien, Medien und Institutionen.

Die historische Reminiszenz und Referenz über 30 Jahre verdeutlicht, dass Sloterdijk visionär war. In einer Zeit, in der das Ende der Geschichte und der Beginn des weltweiten Siegeszugs des westlichen Lebens- und Wirtschafts­modells, der Demokratie, des Rechts­staats und des weltweiten Handels die neuen Gewissheiten des Westens ausmachten, sah Sloterdijk schon die Bruch­linien, die im 21. Jahrhundert einreissen würden.

Zum Autor und zu dieser Kolumne

Gerhard Pfister ist Nationalrat und Mitte-Partei­präsident. Er hat Literatur und Philosophie studiert und lange auch unterrichtet. In seiner Kolumne wirft er polit­philosophische Blicke auf die Schweiz, alle vier Wochen, jeweils an einem Dienstag. Er macht Vorschläge, wie unsere Gesellschaft weiterhin eine lebenswerte Gemeinschaft bleiben kann. Und legt dabei Wert auf die Fest­stellung, dass alles, was er schreibt, bestreitbar sein muss.

Während Sloterdijks skeptischer Einwand damals kaum Resonanz fand, ist mittlerweile klar, dass er in der Ära der Post­politik das Zeitalter der Hyper­politik vorweg­nahm. Heute erhält er recht.

Die in den westlichen Staaten durch den Mauerfall ausgelöste selbst­gewisse Überlegenheits­euphorie in den Neunziger­jahren erfuhr mit 9/11, den Finanzmarkt­krisen, der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine Realitäts­schocks. Die libertäre Individualisierung verstärkte sich zur Entpolitisierung und Atomisierung der Gesellschaft. Es folgte eine Renaissance des politischen Biedermeiers, der Rückzug des Politischen ins Private. Allerdings mit gewichtigen Unterschieden: mehr Geld und weniger Gemütlichkeit als zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dafür wesentlich mehr Lärm in den sozialen Netzwerken des 21. Jahrhunderts.

Das politische Biedermeier des 21. Jahrhunderts hat Folgen für die westlichen Demokratien: Soziale Institutionen, Diskurs­räume, in denen das Politische ausgelebt, diskutiert und entschieden wird, verlieren ihren Status, ihre Bedeutung für den Diskurs, ihre gesellschaftliche Akzeptanz und damit ihren Sinn. Die Bindungs- und Orientierungs­kraft von Organisationen des öffentlichen Lebens wie Parteien, Vereinen und Institutionen nimmt ab.

Die klassischen journalistischen Medien verlieren ihre orientierende, einordnende Kraft, ihre Forums­aufgabe für den politischen Diskurs. Auch sie atomisieren sich zur Meinungs­presse, zur ideologisch-perspektivischen Partei­nahme. Es schreibt kaum jemand mehr, was ist. Dafür umso mehr, wie es sein soll. Parlaments­mitglieder erhalten mediale Präsenz für ihre Tweets statt für das, was sie im Parlament sagen.

Unter «Hyperpolitik» versteht Jäger also den Wieder­eintritt der Politik ins Private bei gleichzeitiger Abwesenheit des institutionellen Rahmens für den gesellschaftlich-politischen Diskurs. Nach einer technokratisch verwalteten Politik in den 1990ern wird in der Gegenwart alles politisch aufgeladen, emotionalisiert, ohne dass gesellschaftliche Rahmen­bedingungen des Politischen noch vorhanden wären.

Die daraus resultierende politisch-mathematische Gleichung lautet: Politik minus Institution ergibt Polarisierung, Emotionalisierung, Identitäts- und Kulturkampf.

Anstelle der gesellschaftlichen Gross­organisationen mit ihren Informations- und Entscheidungs­mechanismen setze sich eine neue Art der Politisierung durch, schreibt Jäger: Formen und Foren mit «niedrigem Aufwand, niedrigen Kosten, niedrigen Exit-Schranken und kurzen Zeit­spannen», technologisch ermöglicht und getrieben durch die «sozialen» Netzwerke, die die klassischen journalistischen Medien verdrängen. «In ihrer Verschmelzung von privatisierter Selbst­darstellung und politischem Enthusiasmus findet die Hyper­politik einen Ausweg für den Wunsch nach einem Ziel und einer Aufgabe, der für das 20. Jahrhundert so bezeichnend war und der ab den Neunziger­jahren vernachlässigt wurde.»

Ein naheliegender Ausweg. Aber der falsche.

Denn in der Hyper­politik degeneriert Politik zum kurzfristigen Aufeinander­treffen von individuellen Gefühls­bekundungen, von Ad-hoc-Stammes­versammlungen, die die moralische Richtigkeit ihrer Meinung den Anders­denkenden entgegen­schleudern, die ihre Aktionen auch ausserhalb des Rechts­staatlichen mit ihrer subjektiven Moral legitimieren. Unter «Politik» wird dadurch längst nicht mehr das langsame Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augenmass verstanden, so wie es der Soziologe Max Weber einst definierte. Sondern eher das «Durch­schneiden eines Stücks Styropor mit einem Laser», so Jäger.

Die neue politisch-mathematische Formel der Gegenwart lautet deshalb: Biedermeier plus Lärm ergibt Hyperpolitik.

Anton Jägers Analyse hat meines Erachtens viel Zutreffendes und insofern auch etwas Pessimistisches, als dass er keine Antworten gibt, wie man diesen Verwerfungen der Hyper­politik begegnen muss. Aber das Fehlen einer Antwort kann auch als Möglichkeit verstanden werden, selbst eine zu liefern. Deshalb wage ich einen Versuch.

Wollen westliche Demokratien auf die Hyper­politik reagieren, könnten sie sich daran orientieren, was einer der Gründer­väter des europäischen Konservatismus, Edmund Burke, an den totalitären Auswüchsen der Französischen Revolution kritisierte: die Verabsolutierung der eigenen abstrakten Ideal­vorstellung zur einzig richtigen Gesinnung. Damit rechtfertigt das Individuum, einen rücksichtslosen Vernichtungs­kampf zu führen gegen die andere Meinung, gegen die gemeinsamen Institutionen, gegen jeden anderen ideologischen Stamm. Doch für ein Gemein­wesen sind unangreifbare, «vollkommene» Ideale gefährlich. «In ihrer abstrakten Vollkommenheit liegt ihre praktische Unzulänglichkeit», sagt Burke.

Dabei liegt der Wert der demokratischen Institutionen, der Parteien, der Medien gerade in ihrer Unvollkommenheit, ihrem Pragmatismus. Noch wirksamer als in anderen westlichen Demokratien erlaubt in der Schweiz die direkte Demokratie eine pragmatische Entscheidung im Kampf der Meinungen und Ideen. Denn die eigene Idee mag einem selber noch so perfekt erscheinen; die möglicher­weise unvollkommene Mehrheit entscheidet dennoch nach einem demokratischen Diskurs abschliessend, was gilt.

Mit der direkten Demokratie hat deshalb die Schweiz wie kein anderes Land einen geeigneten institutionellen Rahmen, der die Gefahren der Hyper­politik bändigen könnte. Denn die direkte Demokratie zwingt zum demokratischen, offenen Diskurs, zur Konfrontation mit den Anders­denkenden, zu Rede und Gegenrede mit den Mitmenschen mit ihren anderen Ansichten. Das pragmatische Argument zählt, nicht die subjektiv beste Idee oder die blosse Emotion. Nicht die Lautstärke, nicht die Anzahl Likes oder Follower entscheidet, was richtig und was falsch ist. Sondern der Souverän.

Eine Antwort auf Jägers kritische Analyse der Gegenwart könnte deshalb sein: Die direkte Demokratie und ihre institutionellen Regeln gilt es als Bollwerke der Aufklärung zu erhalten und zu stärken. Denn die Menschen heute sind «einsamer, aber aufgeregter, atomisierter, aber auch vernetzter, wütender, aber auch verwirrter», wie Jäger schreibt. Die direkte Demokratie könnte diese Wut und diese Verwirrung auffangen und damit eine Antwort, einen Gegen­entwurf zur Hyper­politik, anbieten.

Ich muss zugeben, eine solche Antwort ist mehr Hoffnung als empirische Gewissheit. Dennoch: Gegen die Hyper­politik, gegen die politische Aufladung der subjektiven Emotionalität zur Empörung, gegen die Atomisierung der Gesellschaft und gegen die Wut der Bürger sind demokratische Institutionen, der öffentliche Diskurs und das rationale Argument für mich die einzige Verteidigung, die die westlichen Demokratien haben. Sie wehren irrationale Wut- oder Betroffenheits­äusserungen mit dem politischen, aufklärerischen Diskurs ab. Sie ersetzen den Lärm in den sozialen Netzwerken mit dem vernünftigen Argument in den demokratischen Foren und den echten, weil journalistischen Medien.

Die demokratisch ausgehandelte politische «Wahrheit» triumphiert, wenn überhaupt, nie laut. Aber ihre Gegnerinnen sterben möglicher­weise aus. Der Lärm wird hoffentlich abnehmen. Das stille, vernünftige Argumentieren wird gewinnen. Bei jeder Wahl und bei jeder Abstimmung. So die Hoffnung eines Konservativen wie Burke. Ich teile diese Hoffnung, aber weniger überzeugt und zuversichtlich als auch schon.

Illustration: Alex Solman

Zu den Büchern

Peter Sloterdijk: «Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik». Suhrkamp, Berlin 1993. 80 Seiten, ca. 12 Franken.

Anton Jäger: «Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen». Suhrkamp, Berlin 2023. 136 Seiten, ca. 24 Franken

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