Muss es immer der Grosse sein, der zuschlägt? Bud Spencer (l.) und Terence Hill haben im Kino immer wieder mal gezeigt, dass es auch andersherum geht. Imago

Die Ohrfeigen der Konzerne

Die Zuger Rohstofffirma Kolmar reagiert auf die Recherche zweier Schweizer NGOs mit massiven juristischen Druck­mitteln. Sie ist damit nicht allein: Strategische Klagen sind eine Gefahr für die Meinungs­freiheit.

Von Jana Schmid, 22.02.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Für ihren Bericht kamen die beiden Autorinnen und der Autor weit herum. Von 2018 bis 2020 unternahmen sie nach eigenen Aussagen insgesamt vierzehn Reisen in sechs Länder: Malta, USA, Niederlande, Gross­britannien, Spanien, Italien.

Sie recherchierten zu Schmuggel von libyschem Treibstoff.

Seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 musste Libyen Treibstoff importieren. Um diesen für die Bevölkerung erschwinglich zu machen, subventionierte ihn die Zentralbank stark. Das nutzten Schmuggler­netzwerke aus, indem sie einen Teil des günstigen Treibstoffes abzwackten und ihn im Ausland mit hohem Profit weiterverkauften.

Auf Sizilien sprachen die Autorinnen mit dem Chef der Finanzpolizei Guardia di Finanza, die 2017 das grösste libysche Schmuggler­netzwerk überführt hatte. In London mit Mustafa Sanalla, der damals Libyens nationale Ölgesellschaft leitete. Auf Malta besuchten sie die Umschlag­plätze für Diesel aus aller Welt, unter anderem aus Libyen.

Dabei erhärtete sich ihr Verdacht: Der Zuger Rohstoff­konzern Kolmar Group habe zwischen 2014 und 2015 Diesel von einem libyschen Schmuggler­netzwerk in Empfang genommen und in Europa weiterverkauft. Mutmasslich wissentlich.

So legten es die Autoren in ihrem Bericht dar, den die beiden Nichtregierungs­organisationen Public Eye und Trial International im März 2020 veröffentlichten.

Fast vier Jahre später führt die Recherche die weit gereisten Autorinnen auch noch nach Bern: in einen Gerichtssaal.

NGO zeigt an. Kolmar klagt

Es ist Mitte Januar 2024, kurz nach sieben Uhr morgens, draussen dunkel und schweinekalt. Im taghellen Foyer des Provisoriums, in dem das Regional­gericht Bern-Mittelland vorübergehend tagt, stehen sich die Menschen fast auf die Füsse. Einige tragen Krawatten, Aktenkoffer. Andere Wollmäntel und hennarotes Haar.

Es sind ungleiche Parteien, die sich in einem frostigen Gerichtssaal im Unter­geschoss während Stunden einen hoch­komplexen Rechtsstreit liefern werden: hier ein Rohstoff­konzern, der weder Kosten noch Aufwand scheut. Und da ein freier Journalist und zwei Autorinnen von NGOs, für die der Rechtsstreit einen gewaltigen Kraftakt bedeutet.

Die Verhandlung vor dem Berner Regional­gericht hat eine mehrjährige Vorgeschichte.

Bevor Public Eye und Trial International 2020 ihren Bericht veröffentlichten, baten sie den Rohstoff­konzern Kolmar um Stellungnahme zu den Ergebnissen ihrer Recherchen. Sie hätten mehrmals angerufen und E-Mails verschickt, wird eine Autorin später im Verfahren darlegen. Der Konzern reagierte nicht auf die Kontakt­aufnahmen. Die Organisationen publizierten den Bericht.

Kurz darauf verlangte Kolmar eine Gegendarstellung. Die Firma bestritt darin nicht, libyschen Diesel gekauft zu haben. Sie sei aber an keinen Schmuggler­geschäften beteiligt gewesen.

Trial International reichte als Folge der Recherchen bei der Bundes­anwaltschaft eine Straf­anzeige gegen die Kolmar Group ein. Die Bundes­anwaltschaft eröffnete ein Straf­verfahren gegen unbekannt. Der Verdacht: Plünderung. Ein Kriegs­verbrechen. Den Tatbestand der Plünderung erfüllt ein Unternehmen, wenn es wissentlich in einem Kriegsgebiet gestohlene Rohstoffe erwirbt. Die Ermittlungen zu dem Verfahren sind bis heute noch nicht abgeschlossen. Das teilt die Bundes­anwaltschaft auf Anfrage mit.

Kaum war die Strafanzeige eingegangen, griff auch der Konzern zu juristischen Mitteln.

Im Mai 2020 reichte Kolmar bei der Berner Staats­anwaltschaft eine Klage gegen den Autor und die Autorinnen des Berichts ein. Kolmar beschuldigte sie der üblen Nachrede und eventuell gar der Verleumdung. Die Staats­anwaltschaft trat zuerst nicht auf die Klage ein. Sie befand, der Bericht sei fundiert und professionell recherchiert. Die Firma legte Beschwerde gegen den Nicht­eintretens­entscheid ein. Aus prozessualen Gründen kam es schliesslich doch zur Anklage. Das Berner Obergericht kam zum Schluss, der Klägerin sei das rechtliche Gehör nicht ausreichend gewährt worden.

Doch das war erst der Anfang. Im September 2023 reichte Kolmar am Zuger Kantons­gericht auch noch eine Zivilklage ein.

Wegen Persönlichkeits­verletzung fordert die Kolmar Group von den beiden NGOs und den Autoren Schadenersatz. 1,8 Millionen US-Dollar.

Das ist laut den Organisationen der grösste Betrag, «der je in der Schweiz von einer NGO für eine angebliche Verletzung der Persönlichkeits­rechte gefordert wurde». Wann die Zivilklage vor das Zuger Kantons­gericht kommt, ist noch unklar.

Im kalten Untergeschoss des Berner Strafgerichts geht es um sehr viel weniger Geld. In der Anklage­schrift werden für die drei Beschuldigten bedingte Geldstrafen und Verbindungs­bussen von mehreren hundert Franken gefordert. Die Geldstrafen betragen 25 Tagessätze à 60, 150 und 170 Franken.

Dennoch ist auch dieses Verfahren von grosser Bedeutung.

Einerseits, weil sein Ausgang Auswirkungen auf das bevorstehende Zivil­verfahren haben könnte. Aber auch, weil es das erste inhaltliche Urteil in einem Rechtsstreit ist, der für ein bedenkliches Phänomen steht: «Slapps».

Das Akronym, das gewollt an das englische Wort für Ohrfeige erinnert, steht für «Strategic Lawsuits Against Public Participation»: strategische Klagen gegen öffentliche Teilhabe.

In Europa sind Slapp-Klagen auf dem Vormarsch. Das zeigen etwa Erhebungen der «Coalition Against Slapps in Europe», eines Netzwerks aus über hundert europäischen NGOs. Auch eine von der Europäischen Kommission unterstützte Studie aus dem Jahr 2022 lässt eine Zunahme vermuten. Das Hilfswerk Heks kam ebenfalls 2022 in einer Umfrage zum Schluss, dass Slapp-Klagen in den letzten Jahren auch in der Schweiz zugenommen haben.

Sie kommen von mächtigen privaten Akteuren – häufig Konzernen – und richten sich gegen NGOs, Journalistinnen, Medien­häuser oder Aktivisten. Oft zielen die Klagen auf Kritik an Wirtschafts­delikten wie Korruption, an Umwelt­zerstörung oder zweifelhaften Geschäfts­praktiken. Drei Beispiele:

2017 wurde Daphne Caruana Galizia an ihrem Wohnort auf Malta durch eine Autobombe ermordet. Die Investigativ­journalistin hatte zu Korruption, Steuer­betrug und vielen anderen Missständen auf Malta recherchiert – auch zum Schmuggel von libyschem Treibstoff. Bis zu ihrem Tod waren 47 zivilrechtliche Gerichts­verfahren gegen sie eingeleitet worden. Die meisten stammten von maltesischen Politikern und deren Geschäfts­partnern. Als sie starb, war das Vermögen der 53-Jährigen seit Monaten durch eine vorsorgliche Massnahme blockiert.

Im vergangenen November gab Greenpeace bekannt, dass der Energie­konzern Shell eine Klage gegen die Umwelt­organisation eingereicht habe. Wegen Protest­aktionen auf Ölplattformen fordere Shell 8,6 Millionen US-Dollar Schadenersatz. Die Klage ist laut Greenpeace eine der grössten rechtlichen Bedrohungen in der über 50-jährigen Geschichte der Organisation.

In der Schweiz ist der Bruno Manser Fonds seit fünf Jahren in einen Mega-Rechtsstreit verwickelt. Die Umwelt- und Menschenrechts­organisation warf der Familie des ehemaligen Regierungs­chefs von Sarawak, dem grössten Bundesstaat von Malaysia, vor, sich mit dem Verkauf von Lizenzen für Regenwald­holz unrechtmässig bereichert zu haben. Die Organisation hatte auch juristische Schritte gegen die Familie unternommen. Mit drastischen Folgen: Die Milliardärs­familie und zwei ihrer kanadischen Immobilien­firmen deckten den Fonds mit einer Klageflut ein. Sie verlangten die Löschung von 255 Publikationen und reichten Straf­anzeigen wegen diverser Delikte gegen Verantwortliche der Organisation ein. Beides scheiterte: Das Basler Zivilgericht gab dem Bruno Manser Fonds recht, und die Staats­anwaltschaft stellte das Strafverfahren ein. Noch hängig ist eine Zivilklage. Sie umfasst mehrere hundert Seiten und fordert unter anderem die Löschung von Publikationen, eine Genugtuung und die Herausgabe eines sogenannten Verletzergewinns von einer Million Franken.

Das Ziel: Einschüchtern

Typisch für Slapp-Klagen ist, dass es den Klägern offensichtlich nicht in erster Linie wichtig ist, recht zu bekommen.

Oft sind die Einschüchterungs­klagen juristisch aussichtslos und die Schaden­ersatz­forderungen von Anfang an übertrieben. Es geht vielmehr darum, die Beklagten einzuschüchtern, zu entmutigen und in ihrer Arbeit zu behindern – mit überaus aufwendigen rechtlichen Manövern, die sich nur eine Seite problemlos leisten kann.

Fast immer besteht ein grosses ökonomisches Machtgefälle zwischen Klägerinnen und Beklagten. So richteten sich über die Hälfte der von der europäischen Koalition gegen Slapps untersuchten Klagen gegen Einzelpersonen. Für sie sind solche Rechtsstreite meist noch schmerzhafter als für Organisationen oder Medien­unternehmen, finanziell wie psychologisch. Journalistinnen führen die Rangliste der verklagten Akteure an.

Oliver Classen, Mediensprecher von Public Eye, sagt: «Slapps können uns in unserer Arbeit zwar behindern, weil sie sinnlos viel personelle und finanzielle Ressourcen binden. Einschüchtern lassen wir uns davon aber nicht.»

Die Klagen seien Angriffe auf die Meinungs­freiheit, die Pressefreiheit – und somit letztlich auf die Demokratie.

Denn strategische Klagen bezwecken nicht nur, dass kritische Berichte allenfalls gelöscht werden. Sie haben auch einen «Chilling Effect»: Wer einmal einen juristischen Marathon absolvieren musste, kann und will sich einen zweiten vielleicht nicht mehr leisten. Und wird sich deshalb gut überlegen, wieder zu ähnlichen Sach­verhalten zu recherchieren und zu publizieren.

Das zeigt die Erfahrung des Westschweizer Online-Mediums «Gotham City». Es berichtet regelmässig über Fälle von Wirtschafts­kriminalität. 2020 erhielt das Portal vier super­provisorische Massnahmen, die es ihm verboten, Berichte zu publizieren. Keines der Verbote wurde definitiv, die Veröffentlichung wurde schliesslich erlaubt. Aber alle Fälle landeten vor einem Gericht. Dann untersagte in einem weiteren Verfahren ein erst­instanzliches Gericht die Publikation eines Berichts. Es ging um die Verurteilung eines Genfer Vermögens­verwalters wegen Steuerdelikten. Es war das fünfte Mal innert zwölf Monaten, dass sich das kleine Medium vor Gericht wiederfand. «Gotham City» focht den Entscheid nicht mehr an. Die Zeitschrift war wegen der super­provisorischen Massnahmen bereits auf 20’000 Franken Anwalts­kosten sitzen geblieben – dem Lohnbudget eines ganzen Monats, wie die Zeitschrift gegenüber Swissinfo berichtete.

Das schockierende Attentat auf Malta an Daphne Caruana Galizia hat Europa die Bedeutung der freien Meinungs­äusserung ins Gedächtnis gerufen. Und es war ein Antrieb für das EU-Parlament, Rechts­vorschriften gegen Slapp-Klagen zu fordern.

Letzten November haben EU-Parlament und -Rat einer Richtlinie zugestimmt, die solche rechtlichen Massnahmen vorsieht. Die Richtlinie wird das erste verbindliche Rechts­instrument gegen Slapp-Klagen in Europa sein. Noch ist sie nicht in Kraft getreten. Sie sieht zum Beispiel vor, dass Gerichte offensichtlich unbegründete Klagen vorzeitig abweisen müssen. Und dass Klägerinnen in solchen Fällen alle Kosten tragen müssen.

In der Schweiz ist letztes Jahr eine parlamentarische Initiative gescheitert, die ähnliche Vorschriften forderte. Aber Schweizer NGOs wollen das Thema vorantreiben. Letzten Sommer schlossen sich diverse Organisationen zur «Schweizer Allianz gegen Slapp» zusammen. Auch Public Eye und Trial International sind dabei. Die europäische Koalition gegen Slapps hat die Klagen der Kolmar Group gegen die beiden Organisationen als Slapp-Klagen eingestuft.

Libyscher Bürgerkrieg vor Berner Richterin

Zurück in den Gerichtssaal in Bern. Vor den Anwälten stapeln sich dicke Ordner. Dieser Prozess übersteigt das übliche Tagesgeschäft eines Regional­gerichts bei weitem.

Einzelrichterin Andrea Gysi sieht sich mit einer Ansammlung überaus schlagfertiger Personen konfrontiert: Die drei Beschuldigten haben den umstrittenen Bericht verfasst und dafür über ein Jahr recherchiert. Zwei von ihnen – eine Rechtsanwältin und eine Journalistin – waren zu dem Zeitpunkt Mitarbeiterinnen der NGOs. Der dritte ist ein freier Journalist aus Genf. Verteidigt werden die drei von zwei Rechtsanwälten. In den Besucher­reihen beobachten zahlreiche Mitarbeitende der Organisationen den Prozess.

Die Kolmar Group ist als Privat­klägerschaft mit fünf Männern zugegen: drei Anwälte, zwei ranghohe Vertreter der Firma. Der Berner Strafrechts­anwalt Elias Hofstetter führt für den Konzern das Wort.

Die Verhandlung wird auf Englisch und auf Französisch übersetzt. Das macht sie noch komplizierter, als sie ohnehin schon ist. Immer wieder haben die beiden Gerichts­dolmetscher Mühe, die Aussagen der Parteien zu übersetzen. Auf Vorschlag einer Beschuldigten beginnen sie irgendwann, nur noch Satz für Satz zu übersetzen. Auch das trägt dazu bei, dass sich das Verfahren zäh über viele Stunden hinzieht.

Die Anwälte beider Seiten schenken sich nichts. Sie beanstanden die Sprache der Anklageschrift oder kämpfen um jedes noch so kleine Dokument, das in diesem Rechtsstreit zu den Akten gelegt wird. Die Parteien werden im bevorstehenden Zivilverfahren gegeneinander verwenden, was vor dem Berner Strafgericht herauskommt.

Im Kern muss Richterin Andrea Gysi darüber urteilen, ob die Autoren genügend sorgfältig recherchiert haben. Ob also wahr ist, was sie veröffentlicht haben. Oder ob sie mindestens ernsthafte Gründe dafür hatten, die Dinge, die sie veröffentlichten, für wahr zu halten. Dann wären sie nämlich freizusprechen.

Diese Frage führt in höchst spezifische Themen­gebiete, die mit Bern rein gar nichts zu tun haben (das Verfahren findet deshalb hier statt, weil Public Eye seinen Sitz in Bern hat): Wie verdächtig ist es, dass Schiffe, die libyschen Diesel nach Malta transportierten, beim Löschen ihrer Ladungen ihr AIS-Navigations­system ausschalteten und somit nicht mehr geortet werden konnten? Wurde die Kolmar Group den Compliance-Anforderungen beim Handel mit libyschem Diesel gerecht? Hätte die Firma erkennen müssen, dass Ursprungs­zeugnisse von Diesel aus dem kriegs­erschütterten Libyen teilweise gefälscht waren?

«Es war eine sehr gut dokumentierte Recherche», sagt eine Beschuldigte. Es sei selten, dass so viele Quellen und Dokumente vorliegen wie bei jenem Bericht. «Wir waren vorsichtig und umsichtig», sagt auch der Genfer Journalist. Er sagt, er würde auch vier Jahre später nichts an dieser Arbeit ändern.

Er spricht die Belastung an, die der Rechtsstreit für ihn als freien Journalisten bedeute. «Für den Einkommens­verlust, den Stress, die Vorbereitungs­zeit und die Länge dieses Verfahrens sollte ich eher eine Genugtuung von Kolmar erhalten als umgekehrt», sagt er. «Als Journalist, der überzeugt ist, dass er seine Arbeit gut gemacht hat, erlebe ich das als Angriff auf die Meinungs­­freiheit.»

«Die Anstrengungen der Kolmar Group richten sich selbstverständlich nicht gegen die Arbeit von NGOs oder gegen die Presse­freiheit», sagt der Anwalt der Privatklägerin in seinem Plädoyer. Kolmar anerkenne diese Arbeit, aber sie erfordere auch Sorgfalt. Der Bericht sei jedoch unsorgfältig recherchiert, enthalte äusserst ehrverletzende und teilweise unwahre Behauptungen. Besonders schwer wiege der Vorwurf eines Kriegsverbrechens durch Plünderung, der in den Raum gestellt wird.

Es dränge sich, sagt Rechtsanwalt Hofstetter, der Verdacht auf, der Bericht habe schlicht dem Abstimmungs­kampf um die Konzern­verantwortungs­initiative dienen sollen.

Sein Plädoyer dauert zwei Stunden, längst ist es draussen wieder dunkel. Und die Plädoyers der Verteidigung stehen erst noch bevor.

Die Kolmar Group, sagt Verteidiger Lukas Bürge, greife mit ihren Klagen Grundwerte unseres Rechtsstaates an: die freie Meinungs­äusserung und die Medienfreiheit.

Die Verhandlung endet um neun Uhr abends, nach fast vierzehn Stunden. Zu einem Urteil kommt es an diesem Tag nicht mehr.

Ein Etappensieg für die freie Presse

Einen Monat später tagt das Regional­gericht nicht mehr im Provisorium, sondern im frisch renovierten Berner Amtshaus. Am Mittwoch­morgen, 21. Februar, verkündet Gerichts­präsidentin Gysi das Urteil. Wieder finden sich zahlreiche Menschen im Gerichts­saal ein. Von den drei Beschuldigten ist aber nur eine anwesend.

Das Gericht spricht die Beschuldigten frei.

Die angefochtenen Äusserungen in ihrem Bericht erfüllten zwar den objektiven Tat­bestand der üblen Nachrede, führt Gysi aus. Sie stellten Kolmar unter Verdacht, rückten den Konzern in ein schlechtes Licht. Die Beschuldigten hätten dabei eventual­vorsätzlich gehandelt. Sie hätten in Kauf genommen, dass die publizierten Äusserungen einen ehrverletzenden Charakter entfalten könnten.

Allerdings gelinge ihnen der sogenannte Gutglaubens­beweis. Nach Straf­gesetzbuch macht sich der üblen Nachrede nicht strafbar, wer ernsthafte Gründe vorweisen kann, dass die Äusserungen in guten Treuen für wahr gehalten wurden.

Unter diesem Aspekt musste das Gericht beurteilen, ob die Beschuldigten genügend sorgfältig recherchiert haben.

Sie hätten detailliert, nachvollziehbar und konsistent darlegen können, wie sie zu den geäusserten Verdachten gegen Kolmar gekommen seien, sagt die Richterin. Sie zählt die lange Liste von Quellen auf, die die Autorinnen herangezogen hätten, die Dauer der Recherchen, die zahlreichen Beweis­mittel, mit denen sie ihre Äusserungen belegen konnten. Ausserdem hätten sie Kolmar mehrmals die Möglichkeit zur Stellung­nahme gegeben.

Die Beschuldigten hätten in guten Treuen annehmen dürfen, dass es stimmt, was sie schrieben. Sie seien ihren Pflichten als Journalisten vollumfänglich nachgekommen.

Die Freigesprochenen erhalten Entschädigungen für die Verteidigungs­kosten sowie teilweise für ihre wirtschaftlichen Einbussen. Grösster Posten sind die Anwalts­rechnungen: 46’800 Franken für den Berner Rechts­anwalt Lukas Bürge, 36’000 Franken für Rechts­anwalt Raphaël Mahaim aus Lausanne. Diese Kosten übernimmt der Kanton Bern, genauso wie die Verfahrens­kosten von 15’000 Franken – falls der Entscheid rechtskräftig wird.

Die im Saal anwesende Autorin lässt sich nach der Urteils­verkündung erleichtert umarmen. Auch Public Eye zeigt sich erfreut. Das Urteil bestätige, «dass investigative Recherchen und die Enthüllung unbequemer Fakten keine Straftat, sondern ein Grundpfeiler demokratischer Gesellschaften sind», schreibt die Organisation.

Trotzdem: Das Zivilverfahren, in dem es um weitaus mehr Geld geht, kommt erst noch. Und die Kolmar Group teilt eine Stunde nach der Urteils­eröffnung mit, dass sie gegen das Berner Strafurteil Berufung einlege. Auch dieser Rechtsstreit geht damit in eine nächste Runde.

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