Zugang zum gelobten Land

Es ist das Dauerthema von Rechts­populisten: Flüchtlinge, die nach Europa drängen. Ein Schweizer und ein polnischer Film richten einen genauen Blick darauf, was an der Schwelle nach Europa wirklich passiert.

Von Anne-Sophie Scholl, 21.02.2024

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Ein Film mit der Kraft einer grossartigen Reportage: «Green Border» von Agnieszka Holland. trigon-film

Grün ist die Grenze nur ganz zu Beginn. Grün wie die Hoffnung, das Versprechen.

In «Green Border», dem neuen Film der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland, gleitet die Kamera über die unendlichen Wälder am östlichen Rand von Europa, dann schwindet die Farbe und weicht einem dokumentarischen Schwarz-Weiss. Die Kamera wechselt ins Innere eines Flugzeugs. Sie nimmt eine syrische Familie in den Blick: ein Junge und ein Mädchen, die Mutter mit Baby, Vater und Grossvater. Der Junge ist ein Schlitzohr: Absichtlich lässt er die Brille seiner schlafenden Sitz­nachbarin zu Boden gleiten. So kann er auf den begehrten Fensterplatz wechseln. Durchs Fenster hält er Ausschau nach: Europa.

2021 begann der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, Flüchtlinge mit falschen Versprechen in sein Land zu locken, um die EU unter Druck zu setzen und deren Sanktionen zu bekämpfen. Davon handelt Agnieszka Hollands Film, der ab dieser Woche in den Deutsch­schweizer Kinos läuft.

Die Route über Belarus sei ein Segen, flüstert die Mutter im Flugzeug der Sitz­nachbarin zu. Das sei viel besser als mit dem Schiff. Niemals wäre sie sonst mitgekommen. Nicht mit den Kindern. Beim Landeanflug verteilen die Flug­begleiterinnen Rosen: «Nice stay in Belarus.»

Pushbacks an der polnischen Grenze

Das Taxi zur Grenze wurde von einem Onkel in Schweden im Voraus bezahlt. Auf der Fahrt gerät die Familie jedoch in einen Hinterhalt, die belarussische Grenzwache knöpft ihnen Geld ab, jagt sie über den Stacheldraht in den Wald auf der anderen Seite.

Das GPS auf dem Handy verortet sie nun in Europa. Doch die Freude darüber ist von kurzer Dauer. Bald ist nicht nur das Handy ohne Strom. Bald auch schicken polnische Grenz­soldaten sie über den Zaun zurück nach Belarus: Pushbacks heisst dieses Vorgehen im Jargon, es ist illegal und voller menschen­verachtender Gewalt, mitunter auch blankem Sadismus. Etwa wenn der Grenzer eine zurückgelassene Thermos­flasche erst gegen einen Stamm haut, bevor er sie den Flüchtlingen über den Zaun hinterherwirft – deren Tee jetzt voller Glas­scherben ist. Sechs Mal sei er schon von den Grenzern hin- und hergejagt worden, erzählt ein anderer Flüchtling, den die Familie im Wald trifft.

«Green Border» ist ein Spielfilm, der sich dokumentarischer Stilmittel bedient. Das expressive Schwarz-Weiss im Leinwand­format hat die Kraft grossartiger Reportage­aufnahmen. Die Kamera­führung ist nah am Geschehen, sie folgt Gesten und Gesichtern, zeigt, was es zu erzählen gibt, ist schnell, manchmal wackelig und verwischt, dann auch wieder ruhig, in episch anmutenden, zeitlosen Totalen.

Der Film überzeugt ausserdem mit einer klug aufgezogenen Dramaturgie. Holland führt ihre Hauptfiguren beiläufig ein. In einzelnen Kapiteln zeichnet sie deren verschiedene Perspektiven nach. Am Schluss führt sie diese zusammen.

Ein Erzählstrang handelt von einem polnischen Grenz­soldaten, der für seine schwangere Frau und die künftige Familie ein Haus renovieren will, in dem Flüchtlinge Zuflucht suchen. Ein anderer von einer Psychologin, die sich einer Gruppe von Aktivistinnen anschliesst und sich dabei selbst in Gefahr bringt.

Am Ende kommen ihm entscheidende Zweifel am Umgang mit den Geflüchteten: Grenzpolizist Jan (Tomasz Włosok) mit einer Kollegin.trigon-film

Holland setzt konsequent auf die Identifikation mit den Figuren: die Sitz­nachbarin, die sich des schlitzohrigen Jungen annimmt; der Grossvater, der die Enkel­kinder im Flüchtlings­lager unterrichtet hat; die Mutter, die von den nassen Zweigen eines Nadelbaums Wasser­tropfen in den Mund ihrer Tochter streift. Selbst der Grenzsoldat zweifelt zunehmend an der Propaganda des polnischen Militärs, die Flüchtlinge seien «lebende Gewehr­kugeln», die «terroristische Inhalte, Kinder- und Tier­pornografie» ins Land bringen würden.

Wer den Film schaut, begleitet sie alle auf ihrem Weg, auf dem sie sich zwischen verschiedenen Darstellungen von Wirklichkeit und Handlungs­optionen entscheiden müssen. Im Angebot zur Identifikation mit so unterschiedlichen Heldinnen und Helden liegt die Macht des Spielfilms.

Für manche der Figuren spielt ein Zeitungs­bericht eine entscheidende Rolle. Er dokumentiert, wie polnische Grenz­soldaten Schwangere über den Stachel­draht werfen. So ist dieser fiktive Film in der Bildsprache der Reportage nicht nur ein vehementer Einspruch im Namen der Menschlichkeit. Er ist auch ein Plädoyer dafür, genau hinzuschauen, wie bei einem journalistischen Augenzeugen­bericht, der jeder Propaganda die Fakten entgegenstellt.

Der Kern des Schweizer Asyl­verfahrens

Wovon Agnieszka Holland erzählt, beschäftigt derzeit auch Schweizer Film­schaffende. Gleich mehrere hiesige Dokumentar­filme widmen sich aktuell dem Thema Migration in unter­schiedlichen Facetten.

«Echte Schweizer» von Luca Popadić, der im April in die Kinos kommt, porträtiert vier Schweizer Armee­offiziere mit Migrations­hintergrund. «Prisoners of Fate» des Schweizer Filme­machers Mehdi Sahebi läuft Mitte März an. Sahebi ist selbst aus dem Iran geflohen. In seinem Film begleitet er über mehrere Jahre Flüchtlinge aus Afghanistan und dem Iran in ihrem Alltag in der Schweiz und macht die Menschen aus den Flüchtlings­statistiken sichtbar.

Lisa Gerig fokussiert in «Die Anhörung» auf den Kern des Schweizer Asylverfahrens: den Moment, in dem Asylsuchende sich den mehrstündigen Befragungen durch Beamte des Staats­sekretariats für Migration (SEM) stellen müssen. Es ist der Moment, in dem entschieden wird, ob sie in der Schweiz bleiben können oder in ihr Heimatland zurück­geschafft werden. Gerigs Film besticht durch seine überraschende Dramaturgie.

«Die Anhörung» zeichnet sich aus durch maximale Reduktion. Lisa Gerigs Film spielt fast ausschliesslich in einem einzigen Raum. Dort hat sie mit vier Gesuch­stellern aus Afghanistan, Kamerun, Indien und Nigeria sowie ehemaligen oder aktuellen Mitarbeitenden des SEM die Befragung von Asyl­suchenden nachgestellt.

Reale Befragungen zu filmen, sei nicht zumutbar gewesen, weil sie den Prozess nicht mit der Kamera habe beeinflussen wollen, sagt die Regisseurin im Gespräch mit der Republik. Aber alle Beteiligten sind sich bei den Nach­stellungen zum ersten Mal begegnet. Die Emotionen seien sofort da gewesen.

Bürokratische Härte: «Die Anhörung» von Lisa Gerig. Ensemble Film

Das spürt man, wenn man den Film sieht: Ein Befragter, ein Beamter, eine Dolmetscherin, manchmal ein juristischer Beistand und im Hintergrund eine Person, die Protokoll führt, befinden sich in dem nüchternen Zimmer. Besonders augenfällig wird das Aufeinander­prallen von menschlichem Schicksal und bürokratischer Härte, als einer Asyl­suchenden die Tränen kommen. Sie müsse immer die Emotionen aufschreiben, sagt die Protokollantin. «Ja, sie hat einmal die Augen gerieben», sagt die Befragende. Wann genau das gewesen sei? Und später: «Tupft sich Tränen weg.» – «Tupft?» – «Ja, oder: trocknet.»

In den Pausen zwischen den Gesprächen reden die Asyl­suchenden darüber, welche Gefühle die Befragungen in ihnen auslösen.

Man müsse sich total nackt machen, sagt der Mann aus Kamerun. «Nach den Anhörungen bist du alleine. Niemand deckt dich wieder zu. Du bleibst nackt. In der Stadt.»

Es ist das, was Psychologen und Spezialistinnen für Trauma- und Folteropfer kritisieren: Die Befragungen würden nicht den Menschen ins Zentrum stellen. Die Beamtinnen des Staats­sekretariats für Migration seien für die Befragungen zu wenig vorbereitet. Zudem kann die mehrfache Übersetzung der Aussagen über das Dolmetschen oder die Protokoll­führung die Aussagen im bürokratischen Prozess verfälschen.

Im letzten Drittel vollzieht der Film eine überraschende dramaturgische Wende – und bewegt sich damit in die Fiktion. Asyl­suchende und Befragende haben die Plätze getauscht, plötzlich sind die Asyl­suchenden in der Rolle der Befragenden. Was hat Sie dazu bewegt, diese Arbeit zu machen?, wollen sie von den Mitarbeitenden des SEM wissen. Wie gehen Sie um mit der Tatsache, dass die meisten Asyl­suchenden traumatisiert sind? Sind Sie in der Lage, entscheiden zu können, welche Geschichte wahr, welche falsch ist? Oder: Haben bessere Geschichten­erzähler eine bessere Chance, Asyl zu erhalten?

Der Film zeigt eindrücklich, wie sich die Körper­sprache der Beteiligten verändert. Die Asyl­suchenden wirken gelöster. Sie zeigen auch echtes Interesse. Der Rollen­tausch ist keine wirkliche Umkehrung des Macht­gefüges, aber er führt die Macht­dynamik vor Augen. Es gehe darum, wer selbst gestalten kann und wer in der Pflicht ist, zu liefern, sagt Lisa Gerig. Einigen Asylsuchenden sei es jedoch auch unangenehm gewesen, die Mitarbeitenden des SEM in Bedrängnis zu bringen.

Diese dramaturgische Wende habe sich aus den Recherche­gesprächen heraus entwickelt, so Gerig. Sie habe die Asyl­suchenden im Vorfeld gefragt, welche Rolle sie in dem Verfahren gerne übernehmen würden. Manche der Fragen, die sie den Beamten im Film stellen, waren vorbesprochen, andere hätten sich spontan aus der Situation heraus ergeben. Sie habe die klare Macht­verteilung aufbrechen wollen, sagt die Regisseurin, die sich seit Jahren im Asyl­bereich engagiert. «Damit öffnet sich ein Raum, der interessant ist.»

Als Zuschauerin fühlt man sich ertappt. Unweigerlich hinterfragt man die eigene Haltung: Wie hat man selbst die Asyl­suchenden im Film beurteilt? Hat man sich selbst ein Urteil über ihre Geschichte angemasst? Die Macht der Fragen greift über den Film hinaus in den weiteren Lebens­zusammenhang: Wie verhalten wir uns gegenüber Asylsuchenden, als Privat­person und als Gesellschaft?

Vom Film ins reale Leben

Beiden Filmen, Agnieszka Hollands «Green Border» und Lisa Gerigs «Anhörung», gelingt es auf unterschiedliche Weise, ihr Publikum emotional zu berühren: über die Identifikation mit den verschiedenen Perspektiven einer Erzählung mit weit gespanntem Handlungs­bogen oder durch einen klugen dramaturgischen Kniff in einem maximal reduzierten Setting.

In Polen haben im vergangenen Herbst rund 800’000 Menschen «Green Border» gesehen. Möglicher­weise hat der Film sich sogar auf das Wahl­verhalten der Menschen ausgewirkt. Im Vorfeld der polnischen Regierungs­wahl im Oktober des letzten Jahres, bei der Hoffnungs­träger Donald Tusk an die Macht gekommen ist, hatte Regisseurin Agnieszka Holland Mord­drohungen erhalten.

Auch Lisa Gerigs Film erreicht politische Entscheidungs­träger. Das SEM hat ihn seinen Angestellten gezeigt, auch Bundesrat Beat Jans, zu dessen Departement das SEM gehört, hat den Film gesehen. «Die Anhörung» – Gerigs Langfilm­debüt – wurde an den Solothurner Filmtagen mit dem höchst­dotierten Filmpreis der Schweiz, dem Prix de Soleure, ausgezeichnet. Er ist auch für den Schweizer Filmpreis des Bundesamts für Kultur nominiert.

Trotz ihrer unterschiedlichen Genres – Dokumentar­film bei Gerig, Spielfilm bei Holland – haben die beiden Werke nicht nur wegen ihrer Wirkung Gemeinsamkeiten.

Auch der Spielfilm «Green Border» hat in gewisser Weise dokumentarische Elemente. Die syrische Flüchtlings­familie wird von syrischen Menschen gespielt, die tatsächlich als Flüchtlinge nach Europa gekommen sind. Der Grenzsoldat und seine schwangere Frau sind auch im realen Leben ein Paar. Die Aktivistin wird von einer Schauspielerin verkörpert, die selbst an der Grenze Hilfsgüter verteilt hat.

Lisa Gerigs Dokumentarfilm wiederum setzt auch auf ästhetische Mittel, die in Spielfilmen eingesetzt werden. Eingangs und zwischen den Befragungs­szenen sind Totalen der menschen­leeren Büro­fluchten montiert. Mit ihrer harten Geometrie betonen sie die bürokratische Logik des schweizerischen Asylverfahrens.

Zu den Filmen

Agnieszka Holland (Regie): «Green Border». Mit: Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi, Dalia Naous, Tomasz Włosok u. a. Kinostart Deutsch­schweiz: 22. Februar 2024, 147 Minuten.

Lisa Gerig (Regie und Drehbuch): «Die Anhörung». Mit: Pascal Onana, Victoria Innocent, J. Sael, Living Smile Vidja, Christina Affolter, Christoph Banderet, Demian Cornu, Lara Spinnler. Seit 25. Januar im Kino, 81 Minuten.

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