Binswanger

Was bedroht den Generationen­vertrag?

Der Abstimmungskampf um die 13. AHV-Rente wird aggressiv geführt – auch mit gezielten Unwahrheiten. Wir sollten ein offenes Gespräch führen über die Grundsätze der Altersvorsorge.

Von Daniel Binswanger, 03.02.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Es kommt immer mal wieder vor, dass für das heiligste Ritual der direkten Demokratie – den Urnengang für eine Initiative – so richtig patriotische Gefühle nicht hochkommen wollen. Weil die Debatte polemisch und fakten­frei bleibt. Weil im immer selben Dauerloop der immer selbe Unsinn wiederholt wird. Weil die verschiedenen Interessen­gruppen nicht eine Sekunde zögern, mit massiver Desinformation zu operieren. Der Abstimmungs­kampf zur 13. AHV-Rente ist dafür ein eklatantes Beispiel.

Natürlich gibt es Gründe, gegen einen Ausbau der AHV zu sein: weil man gegen den Sozial­staat ist. Weil man gegen höhere Abgaben ist. Weil man findet, dass es ausreicht, wenn die unteren Lohn­kategorien im Alter ihre mageren Ersparnisse weitgehend aufzehren müssen, um dann mit dem Existenz­minimum über die Runden zu kommen. Aber könnten wir wenigstens eine tatsachen­bezogene Debatte führen? Auch jetzt, wo die Umfragen zeigen, wie gross der Leidens­druck bei einem beträchtlichen Teil der Schweizer Seniorinnen schon heute ist? Und wo eine Chance besteht, dass die Initiative tatsächlich durchkommt?

Ein besonders krudes Beispiel der Propaganda-Schaum­schlägerei lieferte letzte Woche Markus Somm.

Der national­konservative Publizist betreibt den «Nebelspalter» zwar weitest­gehend ohne Leserschaft, ist über seinen Podcast «Bern einfach» aber dennoch zum verlässlichen Stichwort­geber der jeweils neuesten SVP-Kampagne avanciert. Dass er sich seit letztem Sommer simultan um die «Öffentlichkeits­arbeit» der FDP-Lokalsektion Wädenswil kümmert, zeigt nicht nur, mit welch verblüffender Selbst­losigkeit er sich auf Engagements von sehr begrenzter Reichweite einlässt, sondern auch die immer fugenlosere Austausch­barkeit von FDP- und SVP-Diskurs.

«Auslandschweizer sind die grössten Egoisten, die es gibt (…) Es ist ja eigentlich schon erstaunlich, dass sie ihre Staats­bürgerschaft behalten dürfen, (sie) hocken irgendwie seit vierzig Jahren in Deutschland und haben mit diesem Land nichts mehr zu tun (…) und lassen sich aber gerne noch eine AHV auszahlen (…) neben der deutschen Renten­versicherung. Es ist eine Zumutung eigentlich, sie sollten sich schämen! (…) Wie die den Schweizer Staat und den Schweizer Steuer­zahler abmelken wollen, das geht gar nicht.» So schäumte Somm ins Mikrofon – einen Tag bevor an der Delegierten­versammlung der SVP Argumente derselben Couleur ans Parteivolk verfüttert wurden und ganz nach Plan die Nein-Parole zur 13. AHV-Rente abgeholt wurde.

Das kleine Problem mit dem sommschen Furor: Das ist blanker Unsinn.

Bereits seit über zwanzig Jahren ist es für Ausland­schweizer, die in Deutschland oder einem anderen EU-Staat leben, nicht mehr möglich, freiwillig in die AHV einzuzahlen, um dann nach der Pensionierung eine Schweizer Rente zu beziehen. Die Hasstirade ist faktenfrei – was aber offensichtlich nicht ins Gewicht fällt. Wenn es um Abstimmungs­propaganda geht, müssen halt auch sogenannte Nationalisten ganze Teil­kategorien ihrer Landsleute mal rasch mit Schimpf und Schande überziehen. Schliesslich kann man auch die «Ausland­schweizer» schon beinahe als «Ausländer» framen.

Doch ganz abgesehen von diesen eher schrillen Formen des Nonsens ist erstaunlich, wie inkohärent argumentiert wird in der Renten­debatte und wie fundamentale Wert­orientierungen und Grundsätze des guten Wirtschaftens plötzlich nicht mehr gelten sollen.

Es fängt an beim Versicherungs­gedanken. Die AHV ist eine Sozial­versicherung und sollte die Grund­sicherung fürs Alter gewährleisten. Das bedeutet, dass sie nachhaltig finanziert sein muss: Es kann nur so viel ausgegeben werden, wie eingenommen wird. Es bedeutet aber auch, dass die AHV-Berechtigten keine Almosen empfangen und die Renten keine Sozialhilfe sind, sondern ein Anspruch, den man sich durch Einzahlungen über seine ganze Erwerbs­biografie redlich verdient hat. Gerade bürgerliche Politiker, die auf die nachhaltige Finanzierung pochen, müssten diesen Versicherungs­charakter um jeden Preis verteidigen.

Aktuell wird jedoch so getan, als müsse der Alters­armut nicht durch umsichtige und adäquate Vorsorge entgegen­getreten werden – sondern durch staatliche Nothilfe von Fall zu Fall. Die AHV wurde ins Leben gerufen, damit mündige Bürgerinnen Ansprüche auf eine existenz­sichernde Alters­vorsorge erwerben können. Stattdessen werden sie jedoch wie vom Staat abhängige Sozial­fälle behandelt.

Ausgerechnet bürgerliche Politiker singen plötzlich aus voller Kehle das Hohelied der steuer­finanzierten Ergänzungs­leistungen (EL), anstatt auf ein ausgeglichenes System von Sozial­abgaben und Vorsorge­leistungen zu bauen. Wie passt das eigentlich zu Werten wie Eigen­verantwortung und finanzieller Nachhaltigkeit?

Ganz offensichtlich wird unlauter argumentiert. Die plötzlichen neuen Freunde von grosszügigeren Ergänzungs­leistungen sind exakt dieselben, die in der Vergangenheit nichts unversucht liessen, um die Ergänzungs­leistungen zu senken.

Der «SonntagsBlick» hat recherchiert, dass just auf den 1. Januar dieses Jahres Kürzungen der Ergänzungs­leistungen in Kraft getreten sind, die gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe dazu führen dürften, dass Zehn­tausende von Rentnerinnen nun weniger Unterstützungs­leistungen empfangen. Das Bundesamt für Sozial­versicherungen geht davon aus, dass diese Reform zu Einsparungen von gut 400 Millionen Franken im Jahr 2030 führen wird.

Altersarmut wird von vielen politischen Entscheidungs­trägern ganz offensichtlich gar nicht als Problem betrachtet. Dieselben SVP-, FDP- und Mitte-Politikerinnen, die heute beteuern, ein AHV-Ausbau sei nicht nötig, weil man ja die EL erhöhen wolle, haben sich in der Realität für EL-Kürzungen ins Zeug gelegt. Beim besten Willen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren: Hier wird rabenschwarz gelogen.

Eine weitere Grundsatz­frage, die sich stellt: Wer setzt sich eigentlich ein für die Wirtschaftlichkeit der Vorsorge? Nicht die Kräfte, die sich sonst für «Kosten­wahrheit» starkmachen.

Ein Grund, weshalb die Renten­diskussion in der Schweiz so aufgeladen ist, liegt darin, dass wir ein duales System haben, in dem die Vorsorge sowohl durch das Umlage­verfahren (erste Säule, das heisst AHV) als auch durch das Kapital­deckungs­verfahren (zweite Säule, das heisst berufliche Vorsorge) gewährleistet wird. Bürgerliche Politiker wollen in der Regel die zweite Säule stärken, weil sie von den demografischen Verschiebungen und der zunehmenden Über­alterung nicht betroffen sein soll. Das Problem bei diesem Argument ist allerdings: Die empirische Evidenz zeigt in eine andere Richtung.

In der zweiten Säule werden die Leistungen seit Jahren immer bescheidener, sie leidet nicht nur unter der Überalterung, sondern auch am immer schwierigeren Zinsumfeld. Der Umwandlungs­satz wird gesenkt werden müssen, um eine Umverteilung von den jüngeren zu den älteren Generationen zu vermeiden. Auch in der AHV wird man längerfristig die Finanzierung sicherlich anpassen müssen, um die Einnahmen und Ausgaben im Gleich­gewicht zu halten. Doch dass es zu einer Absenkung des Renten­niveaus kommen wird, ist äusserst unwahrscheinlich.

Natürlich trifft es zu, dass über die veränderten demografischen Bedingungen diskutiert werden muss. Die Debatten über eine Rentenalter­erhöhung werden sicherlich weitergehen, und mit einem hinreichend flexiblen Ansatz (der fair nach physischer Belastung und unterschiedlicher Lebens­erwartung der Berufs­kategorien differenziert) ist das sicherlich ein gangbarer Weg. Wozu es jedoch nicht kommen dürfte in der ersten Säule, ist eine Senkung der Renten­höhe. Die AHV ist sicher, im Gegensatz zu den wackligen Pensions­kassen­leistungen.

Der Schweizerische Gewerkschafts­bund hat eine überzeugende Rechnung vorgelegt, dass eine 13. AHV-Rente für den überwiegenden Teil der Bevölkerung viel kosten­günstiger ist, dass also ein Grossteil der Arbeit­nehmerinnen dafür während der aktiven Jahre viel weniger einzahlen müssen, als wenn sie sich diese Absicherung über private Vorsorge verschaffen wollten. Müsste die Effizienz der Vorsorge den bürgerlichen Finanz­politikerinnen nicht zualler­oberst am Herzen liegen?

Je nach vermuteter Zins­entwicklung fahren 90 oder 80 Prozent der Lohn­empfänger besser mit einem AHV-Ausbau als mit entsprechenden Einzahlungen in die private Vorsorge, viel, viel besser. Es gibt also ein schlichtes Argument der Wirtschaftlichkeit für den Ausbau der AHV. Natürlich hat das mit dem Umverteilungs­effekt zu tun, das heisst, im Gegenzug würden die obersten Lohn­kategorien (die obersten 10 bis 20 Prozent) weniger Rente bekommen, als wenn sie nur für sich selber sparten.

Man kann sich selbst­verständlich auf den Standpunkt stellen, dass es wichtig ist, die obersten Einkommens­schichten nicht zusätzlich zu belasten. Aber dann sollte man diese Ansage auch in aller Klarheit so machen.

Schliesslich und endlich: Im Zentrum der Debatten steht immer die Behauptung, mit einer ausgebauten AHV würde der Generationen­vertrag gekündigt. Die Erhöhung der AHV belaste die Jugend in unverantwortlichem Mass und sei nur dem Egoismus der heutigen Rentner­generation geschuldet. Das ist insofern erstaunlich, als es sich nicht um eine Renten­erhöhung auf Zeit handelt: Eine zum Leben ausreichende Vorsorge ist ja nicht nur im Interesse der heutigen Seniorinnen, sondern auch der Berufs­tätigen, die sich in zehn, zwanzig oder dreissig Jahren pensionieren lassen.

Dass angesichts der demografischen Verschiebungen ein immer grösserer Teil des Volks­einkommens an die Menschen im Ruhestand gehen wird, trifft natürlich zu. Dass damit die Belastung der werktätigen Bevölkerung grösser wird, ist ebenfalls richtig. Aber warum zum Teufel soll das ein existenzielles Problem sein?

Offensichtlich ist: Wir schaffen das! Die Löhne und die Wirtschafts­leistung wachsen deutlich schneller als die Lebens­erwartung. Die Lohnprozente werden langfristig zwar zunehmen müssen, aber die Nettolöhne werden trotzdem steigen. Auch die heutigen Berufs­tätigen haben eine hohe Lebens­erwartung, noch einmal höher als die aktuellen Rentnerinnen, und sie werden ihrerseits von den nachfolgenden Generationen finanziert werden müssen. Dass die Menschen älter werden, ist eine Errungenschaft. Sie wurde möglich gemacht durch den medizinischen Fortschritt und ein ständig steigendes Wohlstands­niveau. Was ist eigentlich los mit uns, dass gesellschaftlicher Fortschritt nun ständig als massive soziale Bedrohung verkauft wird?

Insbesondere jüngere Bürgerinnen scheinen sich die Frage zu stellen, ob eine Erhöhung der AHV nicht bloss zu ihren Lasten gehe. Das ist extrem ernüchternd: Warum soll ich mich heute nicht an einem solidarischen Zusatz­effort beteiligen, von dem ich morgen oder übermorgen dann selbst der Nutzniesser bin? Warum haben die jüngeren Generationen so felsenfest das Gefühl, man nehme ihnen etwas weg? Vielleicht ist es ein sozial­politischer Spillover-Effekt der Klimakrise. Das macht dieses Gefühl nicht rationaler.

In gewisser Weise wird die Abstimmung über die 13. AHV-Rente zu einem Referendum über den sozialen Fortschritts­glauben. Auch deshalb ist sie so wichtig. Eine Gesellschaft, die nicht mehr an eine bessere Zukunft glaubt, hat wirklich ein Problem.

Illustration: Alex Solman

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