Jeder Augenblick zählt: Lielle Anne Hirschi.

Solange das Herz schlägt

Nur wenige Frauen tragen ein Kind aus, wenn es während oder kurz nach der Geburt sterben könnte. Zwei Paare entschieden sich dafür.

Von Stefanie Müller-Frank (Text) und Annick Ramp (Bilder), 27.01.2024

Vorgelesen von Miriam Japp
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Immer wieder bekommt die Hebamme Anna Margareta Neff einen dieser dringlichen Anrufe: eine Frau am Telefon, im Schock, kurz nach einem Ultra­schall mit schwer­wiegender Diagnose. Oder bereits mit dem Termin für einen Abbruch am nächsten Tag. Unter Druck und völlig ausser sich, weil sie sich nur falsch entscheiden kann.

Gegen ihr Kind – oder dafür, ihm beim Sterben zusehen zu müssen.

«Dabei ist es nur in Ausnahme­fällen medizinisch notwendig, sofort zu handeln», sagt Anna Margareta Neff. Meist ist der Abbruch eine emotionale Kurzschluss­handlung: der Wunsch, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. «Aber nachher ist es nicht vorbei. Hinterher fragen sich die Frauen praktisch immer: Was wäre wohl aus meinem Kind geworden?»

Diagnose: Trisomie 18

Jessica Della-Vedova konnte ihre Tochter im Bauch schon spüren, als die Ärzte eine Trisomie 18 diagnostizierten. Die Gynäkologin sah sich im Ultra­schall bestimmte Stellen immer wieder an, dann rief sie einen Kollegen dazu, dieser schaute noch einmal.

Die Ärztinnen entdeckten Fehl­bildungen an den Organen, dazu einen Herz­fehler und Wasser im Hirn. Man bot ihr an, die Schwangerschaft abzubrechen.

«Mich hat die Traurigkeit überflutet», sagt die 32-Jährige. «Eigentlich habe ich tagelang gar nichts mehr gefühlt.»

Laut Statistik sterben die meisten Kinder mit Trisomie 18 bereits in der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt. Nur 5 bis 10 Prozent werden mehr als 1 Jahr alt.

Jessica und Matthias Della-Vedova arbeiten beide als Lehrer in der Oberstufe und sind ansonsten viel draussen unterwegs, zum Surfen oder Klettern. Das Leben ihrer Tochter wollten sie nicht vorzeitig beenden, darin waren sie sich schnell einig. Das Kind sollte sterben, wenn es selbst so weit war. Jeden Abend legten sie eine Musikdose auf Jessicas Bauch, einen kleinen Walfisch aus Plüsch, spürten die sanften Tritte und beteten gemeinsam.

Ein Schwangerschaftsabbruch kam nicht infrage: Jessica Della-Vedova (links) und Mirjam Hirschi.

Ein schwerer Herz­fehler

Auch für Mirjam Hirschi kam die Diagnose überraschend. Die 33-Jährige war in der 21. Woche und wusste von der letzten Kontrolle, dass es ein Mädchen werden sollte. Sie und ihr Mann hatten schon zwei Söhne, daher freuten sie sich besonders. Beim Organ­screening schien zunächst alles in Ordnung. Bis sich die Frauen­ärztin das Herz anschaute und sah: Die linke Kammer ist nicht richtig ausgebildet.

Als medizinische Pflegekraft ahnte Mirjam Hirschi, was das bedeutete. «Für mich war klar: Wenn es tatsächlich so ist, dann will ich nicht alles daransetzen, dass sie überlebt. Dann gebe ich ihr möglichst viel Liebe, rede ihr gut zu und streichle sie in meinem Bauch.»

Schwangerschafts­abbrüche nach einer Pränatal­diagnose

Rund 95 Prozent aller Frauen, die mit einer schwer­wiegenden Pränatal­diagnose in der späteren Schwangerschaft konfrontiert sind, brechen vorzeitig ab, schätzt die Fachstelle Kindsverlust. Im Jahr 2022 fanden in der Schweiz 593 Abbrüche nach der 12. Woche statt, die überwiegende Mehrheit davon, weil eine Fehl­bildung oder Erkrankung beim Fötus festgestellt wurde.

Letztlich bestätigte sich der Verdacht auf ein «hypoplastisches Linksherz­syndrom». Was hiess: Das Herz würde nicht ausreichend Blut in den Körper pumpen.

Wollte man versuchen, das Herz zu operieren, müsste man vermutlich die Geburt einleiten und das Kind sofort danach von der Mutter trennen, um es künstlich zu beatmen und auf mehrere Herz-OPs vorzubereiten. Aber selbst dann wäre unklar, ob und wie lange es mit einem unheilbaren Herzfehler noch weiterleben könnte.

Nach drei oder vier Terminen mit Kardiologen stand für Mirjam Hirschi fest: «Ich will nicht mit meiner Tochter ein Leben lang im Spital leben. Ich habe auch noch zwei andere Kinder, die mich brauchen.»

Die zweite Option, die man dem Paar vorschlug, war ein Abbruch. Das lehnte es ab, aus ethischen Gründen. Die beiden sind religiös.

Aufgrund ihrer Ausbildung als Pflege­fachfrau kannte Mirjam Hirschi zufällig noch einen dritten Weg. «Ich habe gefragt, ob ich mein Kind auch palliativ zur Welt bringen kann.» Ein Team aus Gynäkologen, Pränatal­diagnostikerinnen, Kardiologen, Geburts­helfern, Hebammen und Neonatologinnen diskutierte den Fall und stimmte dem Wunsch zu.

Palliative Care bei Neugeborenen

Nur sehr wenige Paare entscheiden sich dafür, ihr Kind auszutragen, wenn es während oder kurz nach der Geburt sterben könnte. Die meisten erfahren gar nicht von dieser Möglichkeit. Nach einer schwerwiegenden Pränatal­diagnose schlagen Ärzte den Eltern oft nur vor, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden.

Dabei deuten Erfahrungen aus anderen Ländern darauf hin, dass eine sogenannte «palliative Geburt» weniger traumatisierend ist für die Eltern als ein Abbruch, weil sie ihr Kind noch kennen­lernen und sich von ihm verabschieden können. Die Nationale Ethik­kommission im Bereich der Human­medizin (NEK) empfiehlt daher, das Konzept der «palliativen Geburt» an allen Zentrums­kliniken der Schweiz anzubieten. Noch ist das nicht der Fall.

Das «Pädiatrische-Palliative-Care-Team» am Inselspital in Bern gibt es seit 2018. Und es hat im vergangenen Jahr zwei Familien dabei unterstützt, ihr Kind trotz einer schwer­wiegenden Diagnose zur Welt zu bringen und nach der Geburt auf intensiv­medizinische Massnahmen zu verzichten: die Familie von Jessica Della-Vedova und die von Mirjam Hirschi.

Simone Keller hat das PPC-Team mit aufgebaut, sie arbeitet seit 23 Jahren als Pflege­fachfrau auf der Kinder­intensivstation am Inselspital. In der Regel betreut sie schwer kranke Babys und Kinder, unterstützt deren Eltern und Geschwister. Die Familie Hirschi lernte sie im Frühsommer 2023 kennen, als das Kind noch im Bauch war.

«Für mich war es etwas Neues, ein Kind zu begleiten, das noch gar nicht auf der Welt ist», sagt Simone Keller. «Das macht alles noch mal fragiler.»

Nach einer auffälligen Pränatal­diagnose sorgen sich viele Frauen, dass ihr Kind im Mutterleib Schmerzen haben könnte. In der Neonatologie geht man jedoch davon aus, dass der Fötus in der Gebär­mutter gut geschützt ist und eine Fehlbildung ihm nicht wehtut, da der Kreislauf anders funktioniert und das Kind noch nicht selbst­ständig atmen muss. Es wird über Plazenta und Nabelschnur praktisch von der Mutter beatmet.

Fernrohre aus WC-Rollen

Mit ihren beiden kleinen Söhnen kaufte Mirjam Hirschi Baby­kleidchen und bereitete sie zugleich behutsam darauf vor, dass ihre Schwester nicht lange leben würde. Die Buben kümmerte das nicht gross, sie bastelten Fernrohre aus WC-Rollen, um zum Baby in den Bauch reinzuschauen.

Für sich selbst fand die 33-Jährige ein eigenes Ritual: Hier und da las sie Vogel­federn auf, die ihr zufällig in die Hände fielen.

«Wir sind sehr gläubige Menschen», sagt Mirjam Hirschi. «Wir wollten den Weg offenlassen, dass ein Wunder passieren kann. Und trotzdem realistisch sein, dass der Tod zum Leben dazugehört.»

Für die Geburt wünschte sie sich, möglichst schnell wieder zu Hause zu sein. «Ich wusste ja nicht, wie lange meine Tochter noch lebt. Für mich war es wichtig, dass alle aus der Familie sie kennen­lernen und wir ein bisschen Alltag mit ihr verbringen können.»

So schulte das Palliativ­team vom Inselspital die Hebammen im Regional­spital in Langenthal – vor allem darin, worauf sie alles verzichten dürfen. «Eine palliative Geburt verläuft meist ganz still und friedlich», sagt Simone Keller. «Allein schon dadurch, dass sie ohne CTG auskommt, also ohne ständige Überwachung der Herztöne. Weil das Kind bei der Geburt ja auch sterben darf.»

Für ein Geburtshilfe­team, das darauf trainiert ist, das Leben eines Kindes um jeden Preis zu retten, ist diese Situation sehr ungewöhnlich. Kommt ein Baby unerwartet mit einem schweren Herz­fehler auf die Welt, wird üblicher­weise die komplette intensiv­medizinische Maschinerie angeworfen. «Die Notfall­equipe aus dem Inselspital rückt aus, holt das Kind im Regional­spital ab und bringt es auf die Intensiv­station. Sehr oft unter viel Stress.»

Bei einer «palliativen Geburt» geht es vor allem darum, dass das Neugeborene keine Schmerzen hat und nicht von den Eltern getrennt wird. Die Eltern halten es möglichst ununterbrochen am eigenen Körper und die Kinder­ärzte vermeiden alle medizinischen Eingriffe. Man wiegt das Neugeborene nicht, nimmt kein Blut ab, legt keine Infusionen und misst auch nicht Fieber.

Der Natur ihren Lauf lassen

Ein paar Wochen nach der Diagnose hörten Jessica und Matthias Della-Vedova zufällig von einer Hebamme, die Frauen dabei unterstützt, ihr Kind weiter­zutragen. Das heisst: erst mal abzuwarten, wie es sich entwickelt – ohne einzugreifen. Es war Anna Margareta Neff.

«Ich wünschte, wir wären direkt nach der Diagnose so begleitet worden», sagt Jessica Della-Vedova. «Statt dass man uns nur anbietet, die Schwangerschaft abzubrechen.»

Anna Margareta Neff überlegte zusammen mit dem Paar, was nach der Geburt geschehen soll: OP? Sauerstoff? Magen­sonde? Die Hebamme hat selbst lange im Spital gearbeitet, heute leitet sie die Fachstelle Kinds­verlust. Dort berät sie Frauen nach einem Abbruch oder einer Fehlgeburt ebenso wie Eltern, deren Kind nach einer Geburt vermutlich sterben oder schwer beeinträchtigt sein wird.

Jessica und Matthias Della-Vedova meldeten sich im Herbst 2022 für eine ambulante Geburt im Inselspital an. Eine Operation schlossen sie aus, alles andere wollten sie nach der Geburt spontan entscheiden. «Wenn unser Kind schon stirbt, dann wenigstens bei uns im Arm und nicht alleine auf der Intensiv­station.»

Ihre Tochter hatte eine eindeutige Diagnose, deshalb war klar: Die Kinder­ärztinnen müssen nicht alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen. Sind die Überlebens­chancen eines Kindes unklar, kommt vor der «palliativen Geburt» ein Team aus verschiedenen Fach­disziplinen zusammen, um die Wünsche der Eltern sowie das Kindes­wohl zu besprechen.

Kleine Kämpferin: Rosa Della-Vedova.

Entgegen aller Statistik war Jessica Della-Vedova davon überzeugt, dass ihre Tochter leben würde. Sie hatte sich mit dem Verlust auseinander­gesetzt, aber sie fand auch, sie könne noch genug trauern, wenn ihre Tochter tatsächlich stürbe.

Bei der letzten Kontrolle im Inselspital schaute eine Hebamme die Schwangere traurig an und fragte, ob sie und ihr Mann schon Abschied genommen hätten.

Jessica Della-Vedova musste lachen. «Nein», antwortete sie. «Ich freue mich darauf, sie endlich kennen­zulernen.»

Die Eltern begleiten

Die Infrastruktur für eine «palliative Geburt» ist schweizweit sehr unterschiedlich ausgebaut. Die Nationale Ethik­kommission im Bereich der Human­medizin hat die Praxis sowie die Rahmen­bedingungen in den Schweizer Universitäts- und Kantons­spitälern untersucht und dabei festgestellt, dass nicht klar ist, inwiefern «palliative Geburten» in der Schweiz praktiziert werden.

In ihrer Stellungnahme aus dem Jahr 2018 fordert die Ethik­kommission, dass die Schwangerschaft, die Geburt sowie die Zeit danach sorgfältig geplant und von einem Team aus unter­schiedlichen Fach­personen begleitet werden, wenn das Kind schwer krank ist und eine Frau die Schwangerschaft nicht abbrechen will.

Die Eltern professionell, kontinuierlich und rechtzeitig zu begleiten, kostet aber Zeit und personelle Ressourcen. Noch haben die wenigsten Spitäler in der Schweiz speziell geschulte Teams oder interne Leitlinien für eine «palliative Geburt».

Immer wieder vermitteln Spitäler Paare nach einer Pränatal­diagnose, einem Abbruch oder einer Totgeburt zu einem Beratungs­gespräch an die Fachstelle Kinds­verlust, wo die Eltern kostenlos unterstützt werden, zum Beispiel um eine spezialisierte Hebamme oder einen Rückbildungs­kurs zu finden.

Die Fachstelle füllt damit eine Lücke in der Versorgung, ohne von staatlichen oder kantonalen Leistungs­trägern finanziert zu sein. Ihre Arbeit speist sich aus Stiftungs­geldern, Spenden und Mitglieder­beiträgen. Sie setzt sich auch für eine fundierte Aus- und Weiter­bildung aller begleitenden Fach­personen ein und bietet selbst Schulungen an.

Viel Besuch

Bei Mirjam Hirschi ging die Geburt sehr schnell. An einem Sommer­abend um 21 Uhr begannen die Wehen, zwei Stunden später fuhr sie mit ihrem Mann ins Spital. Dort stieg sie in die Wanne, und noch bevor das Wasser komplett eingelassen war, kam um 23.34 Uhr ihre Tochter Lielle Anne auf die Welt.

Ihr Mann nahm ein Video auf und auch ihre Schwester durfte Fotos im Gebärsaal machen. Sie selbst schaute als Erstes nach, ob es tatsächlich ein Mädchen war. Dann hoffte sie, dass ihr Kind anfangen würde zu atmen. «Das waren sehr lange Sekunden.»

Ihre Tochter lag bei ihr auf der Brust und trank. Sie brauchte keine Unter­stützung beim Atmen, im Spital fanden weder Kontrollen noch Unter­suchungen statt. Nachdem bei Mirjam Hirschi der Damm genäht war, fuhren sie und ihr Mann ganz früh am nächsten Morgen mit der Tochter nach Hause. Als die Buben aufwachten, wollten sie ihre kleine Schwester sofort anfassen, wickeln und anziehen.

«Wir haben ihnen vor der Geburt erklärt, dass Lielles Herz krank ist und wir nicht wissen, wie lange sie leben würde.»

Die Buben sind immer mit eingebunden: Familie Hirschi.

Von Anfang an redeten die beiden mit ihren Söhnen offen darüber, was es heisst, wenn jemand stirbt. Zum Beispiel, dass das Herz dann aufhört zu schlagen. «Wir haben uns auch Kinder­bücher über den Himmel angeschaut», erzählt Mirjam Hirschi, «denn für uns geht das Leben nach dem Tod weiter.»

Noch am selben Morgen kam erst die Familie von Marcel Hirschi in das Einfamilien­haus in Langenthal, nach und nach auch die vier Schwestern von Mirjam Hirschi mit ihren Kindern. Auch die Nachbarn, die das Neugeborene kennen­lernen wollten, durften kommen.

Lielle trug eine bunte Blümchen­hose und ein passendes Stirnband, immer war sie bei jemandem auf dem Arm, zwischen­durch schlief und trank sie. Eine Kinder­pastorin segnete Lielle, eine Fotografin kam. Man sah der Kleinen am ersten Tag nicht an, dass sie schwer krank ist.

Die Atemnot beginnt

Am zweiten Tag hörte eine Hebamme das Herz ab. Lielle war ein wenig gelblich im Gesicht und hatte Blähungen, aber das haben Neugeborene oft. Am Abend dann wurde sie sehr blass und in der Nacht begann die Atemnot. Die Kleine lag bei Mirjam Hirschi auf der Brust und atmete viel zu schnell. Ihr Mann schickte dem Palliativ­team vom Inselspital mitten in der Nacht ein Video.

Simone Keller riet den Eltern, ihrer Tochter Morphin­tropfen in den Mund zu träufeln und sie in engem Körper­kontakt zu halten. Sie telefonierte mit der Hebamme in Langenthal, die kam sofort und gab Lielle die Tropfen. Danach beruhigte sich die Kleine ein wenig. «Das war das letzte Mal, dass sie an meiner Brust getrunken hat.»

Am nächsten Morgen wirkte die Haut von Lielle bläulich, rötlich und blass marmoriert. Das Palliativ­team kam zur Familie Hirschi nach Hause und zeigte den Eltern, wie sie das Mündchen mit abgepumpter Mutter­milch befeuchten und die Kleine am besten halten würden, damit sie besser atmen kann.

Mirjam Hirschi hatte ihre Tochter dicht bei sich und spürte plötzlich, wie bei Lielle das erste Mal der Atem aussetzte.

«Ich bin recht erschrocken. Ich habe mich gefragt: Ist das jetzt der Moment, in dem sie stirbt?»

Kurz darauf fing ihre Tochter wieder an zu atmen. Beim Wickeln machte sie noch einmal die Augen auf und schaute sich um. Ein paar Minuten später hörte sie noch mal auf zu atmen, fing wieder an, schnappte tief nach Luft und hörte schliesslich ganz auf zu atmen.

«Wir hatten nicht das Gefühl, dass sie leidet. Ihr Gesicht war entspannt, sie hat sich aufs Atmen konzentriert, hat nicht geweint oder so. Sie hatte auch gar keine Kraft mehr dazu.»

Sterben ohne Schmerzen

Den Moment, in dem ihr Kind stirbt, fürchten Eltern am meisten. Sie haben Angst davor, zusehen zu müssen, wie ihr Kind starke Schmerzen hat oder erstickt – ohne dass sie etwas dagegen tun können.

Nach heutigem Wissensstand handelt es sich bei einer Schnapp­atmung am Lebens­ende aber nicht um ein Ersticken, sondern um den natürlichen Sterbe­prozess, wenn der Körper die Atmung nach und nach verlangsamt, um sie dann ganz einzustellen.

Inzwischen ist auch untersucht, dass Neugeborene, die noch im Kreiss­saal sterben, selten bis nie Schmerz­medikamente brauchen.

Das liegt daran, dass Wehen durch eine hohe Konzentration des Hormons Oxytocin ausgelöst werden, was der Frau wiederum hilft, die Geburts­schmerzen besser auszuhalten. Gleichzeitig werden hohe Dosen von Vasopressin, einem körper­eigenen Hormon, im kindlichen Organismus freigesetzt. Stirbt das Kind unmittelbar nach der Geburt, lindert Vasopressin die Schmerzen und beruhigt zugleich.

Hat ein unheilbar krankes Neugeborenes dennoch Schmerzen, geben Palliativ­mediziner beziehungs­weise Neonatologinnen ihm Morphin­tropfen oder Fentanyl als Nasenspray, um den engen Körper­kontakt zwischen Eltern und sterbendem Kind nicht durch das Legen eines Zugangs in der Vene zu stören.

Allerdings achten sie dabei auf eine möglichst geringe Dosierung, um die wenige Zeit mit dem Neugeborenen nicht noch weiter zu verkürzen.

Noch eine Woche zu Hause

«Wenn das eigene Kind stirbt, braucht man Begleitung», sagt Mirjam Hirschi. Die Hebammen und das Palliativ­team wechselten sich in Langenthal ab, ihre Schwestern waren die ganze Zeit über da. Die eine Schwester nahm Fuss­abdrücke von Lielle, die anderen bemalten mit den Buben einen winzigen Sarg, bauten die Kiste zusammen und überlegten, was sie der Schwester mitgeben wollten.

Die Nachbarin brachte zweimal das gleiche Kleidchen für Lielle – eins für den Sarg und eins zur Erinnerung. Mirjam Hirschi schnitt ihrer Tochter ein paar dunkle Haar­strähnen ab. Die Nachbars­kinder durften mit dem verstorbenen Baby im Kinder­wagen noch eine Runde durch die Siedlung drehen.

Eine Woche behielten sie den Leichnam nach dem Tod bei sich zu Hause, die Schweizer Behörden sind in solchen Fällen kulant. Eltern haben das Recht, ihr verstorbenes Kind sogar aus dem Spital mit nach Hause zu nehmen.

Mirjam und Marcel Hirschi wollten, dass ihre Buben erleben, wie sich der Körper ihrer kleinen Schwester verändert, wie er erkaltet, wie die Lippen bläulich werden und sich die winzigen Finger­nägel lila verfärben. Es sehe aus wie Nagellack, fanden sie.

Auch für Mirjam Hirschi war es wichtig, diesen Prozess mitzuerleben. An einem Morgen lief dem toten Kind Blut aus der Nase. «Da war für mich klar: Jetzt will ich sie nicht mehr zu Hause haben.» Zwei Tage später wurde Lielle beerdigt.

Die Geburt von Rosa

Bei der Tochter von Jessica und Matthias Della-Vedova verlief vieles anders, als es die Ärzte erwartet hatten. Rosa kam an einem dunklen Winter­abend in einem komplett stillen Gebärsaal mit 2340 Gramm auf die Welt, sie trank an der Brust ihrer Mutter und entleerte erst mal Blase und Darm. Ihr Herz­schlag war schwach, Atemnot aber hatte sie nicht, auch sonst wirkte sie stabil.

Am nächsten Morgen gingen die Eltern mit Rosa nach Hause. Keine Stunde später kam die Hebamme Anna Margareta Neff dazu. «Ich habe die beiden gefragt: Habt ihr schon ein Foto gemacht zu dritt? Sonst machen wir doch jetzt gleich eins.»

In ihrer Arbeit erlebt sie, wie wichtig es für die Eltern sein kann, im Nach­hinein ein Foto zu haben von den letzten Momenten, in denen das Kind noch lebt.

Trotz ihrer zwanzig Jahre als Hebamme waren die ersten Tage von Rosa auch für Anna Margareta Neff sehr emotional. «Ich war wie die Eltern in einem Notfall­modus. In den ersten Stunden und Tagen habe ich immer gedacht, jetzt stirbt sie gleich.» Aber die Kleine kämpfte.

Drei Wochen schlief sie in einem Bonding-T-Shirt auf der Brust ihrer Mutter, die schlief nur noch halb im Sitzen. Durch den Körper­kontakt regulierten sich Rosas Herzschlag und ihre Atmung, die Körper­temperatur der Mutter wärmte sie mit, wodurch das Neugeborene die eigene Energie für andere lebens­wichtige Funktionen aufsparen konnte.

Die kleine Rosa im Mittelpunkt: Familie Della-Vedova.

Auch Jessica Della-Vedova gab die Nähe zu ihrem Kind Sicherheit. «Es war sehr schön zu spüren, sie ist da, ihr Herz schlägt tatsächlich. Und so wusste ich auch, dass ich es merke, wenn sie irgendwie nicht gut atmet.»

Aber Rosa atmete und trank – wenn auch nur langsam und in winzigen Mengen. Aufgrund der Trisomie 18 hatte sie einen Herzfehler, das Trinken war für sie körperlich sehr anstrengend. Als das Neugeborene nur spärlich zunahm, mussten die Eltern eine schwierige Entscheidung treffen. Das Palliativ­team vom Inselspital unterstützte sie dabei.

«Wir haben überlegt, die Mutter­milch mit zusätzlichen Kalorien anzureichern, damit sie keinen Hunger hat», erzählt Simone Keller. Aber mehr Gewicht bedeutet auch, dass so ein kleines Herz mehr pumpen muss und es das vielleicht gar nicht leisten kann.

Letztlich entschieden sich Jessica und Matthias Della-Vedova auch in dieser Situation wieder dafür, es ihrer Tochter zu überlassen. «Sie wird selbst zeigen, wie lange sie leben möchte.»

Zeit geschenkt

Die Intensivpflegerin Simone Keller hat Respekt vor Familien, die sich diesem natürlichen Verlauf stellen – und damit einem Auf und Ab von heftigen Gefühlen, weil so existenzielle Entscheidungen alle paar Tage abgewogen und eventuell auch wieder korrigiert werden müssen. «Da hat man sich lange mit dem Tod dieses Kindes auseinander­gesetzt und dann kommt es auf die Welt und plötzlich merkt man: Huch, jetzt müssen wir alles wieder umplanen. Das braucht Stärke und Offenheit.»

Eine «palliative Geburt» heisst nicht zwangsläufig, dass ein Neugeborenes tot zur Welt kommt oder kurz nach der Geburt stirbt. Manchmal haben Familien auch noch Wochen, Monate oder sogar Jahre mit ihrem Kind.

In Simone Kellers Büro im Inselspital hängt ein Monats­kalender an der Wand, in den sie die Geburtstage der schwer kranken Kinder einträgt, die sie gepflegt hat. Gerade ist das Blatt vom Dezember offen, am 20. steht der Name von Rosa.

Die Intensiv­pflegerin wischt sich eine Träne aus dem Augen­winkel, als ich sie darauf anspreche. «Stimmt, Rosa hat ja Geburtstag», sagt sie. «Morgen wird sie ein Jahr alt.»

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