Kommt der AHV-Ausbau?
Das Schweizer Rentensystem ist eine Dauerbaustelle. Doch jetzt entsteht eine neue Dynamik. Zu Recht.
Von Daniel Binswanger, 27.01.2024
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Die Abstimmung über die 13. AHV-Rente ist brisant. Die Vorlage bringt politische Frontlinien durcheinander, wirft ein harsches Schlaglicht auf die Defizite des Schweizer Rentensystems – und dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Volksmehr erringen. Am Ständemehr könnte die 13. Rente trotzdem scheitern – und würde dann wieder einmal vor Augen führen, dass sogenannte Volksentscheide in der heutigen Schweizer Direktdemokratie mit dem Willen der Bevölkerung nur noch begrenzt etwas zu tun haben.
Eher clownesk erscheint, wie die Rechte sich nun windet und elektorale Bauchtänze aufführt. Christoph Blocher bekundete im «Tages-Anzeiger», dass er «grundsätzlich für eine 13. AHV-Rente, sogar für eine 14.» wäre. Grundsätzlich! Doch dann kriegt er flugs die Kurve und denunziert eine Erhöhung der AHV als verantwortungslos, weil man sie nicht finanzieren könne. Schon immer war die SVP-Kommunikation in Rentenfragen ausgesprochen wendig. Die Volkspartei hat hohe Wähleranteile bei finanziell schlecht gestellten Rentnerinnen und will diese Klientel auf keinen Fall vor den Kopf stossen. Was sie aber noch weniger will: die sozialstaatlichen Sicherungssysteme ausbauen. Das würde Geld kosten.
Also ist Blocher «grundsätzlich» für höhere Renten, de facto aber dagegen. Natürlich nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass man sich die 13. AHV-Rente schon leisten könnte, wenn wir nicht «viele Milliarden Entwicklungsgelder ins Ausland schicken» würden. Die Ausländer, deren Zuwanderung in die Schweiz einen entscheidenden Beitrag leistet zur Finanzierung der Sozialwerke, sind jetzt also auch noch schuld an tiefen Renten. Es scheint in der SVP-Rhetorik inzwischen gar keinen Argumentationsnotstand mehr zu geben, den man nicht mit einem herzhaften Appell an Fremdenfeindlichkeit zu überbrücken versuchen würde.
Dumm ist nur: Die SVP-Wählerinnen folgen der Parteiparole nicht. Spektakuläre 70 Prozent der SVP-Sympathisanten wollen der AHV-Erhöhung gemäss einer Tamedia-Umfrage zustimmen.
Xenophobie in Ehren: Die Leute wollen ihre Mieten und Krankenkassenprämien bezahlen. Auch im Alter.
Die bürgerliche Presse ist nun allerdings voller herzzerreissender Kommentare, die den vermeintlichen Untergang der helvetischen Tugenden beklagen, den Verlust von Kostenbewusstsein, Frugalität und Verzicht im Dienst der Allgemeinheit. Einen politischen Wendepunkt dürfte die kommende AHV-Initiative jedoch in ganz anderer Hinsicht darstellen – und genau deshalb so grosse Irritationen auslösen.
Bisher gehörte es zum Schweizer Sonderweg, dass der Rechtspopulismus einen strategischen Pakt mit dem Wirtschaftsliberalismus aufrechterhalten konnte, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern, wo die Kräfte am rechten Rand sich in der Regel für nationalistische Umverteilung zugunsten der Volksgemeinschaft starkmachen. Im Hinblick auf die Fortsetzung des bilateralen Weges ist dieser Pakt schon länger äusserst zweifelhaft geworden. Unter dem Druck der Verschärfung des Einkommensgefälles und der zunehmenden Prekarität des unteren Mittelstandes dürfte er auch sozialpolitisch mehr und mehr obsolet werden.
Die Schweiz kommt aus den Dauerdebatten über Rentenreformen ja gar nicht mehr heraus. Erst vor gut einem Jahr hat die Stimmbevölkerung ein knappes Ja zur AHV 21 gesprochen, das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre erhöht – und die Leistungen der AHV abgebaut. Im März werden wir nicht nur über die 13. AHV-Rente, sondern auch über eine offensichtlich chancenlose Rentenaltererhöhung abstimmen, noch 2024 wird das Referendum über die geplante Senkung des Umwandlungssatzes der Pensionskassen folgen. Das Schweizer Rentensystem: eine Dauerbaustelle. Die Grundstossrichtung ist fast immer dieselbe, die Leistungen werden gesenkt. Doch jetzt könnte es zu einem Ausbau kommen.
Das System ist hauptsächlich deshalb in einer Krise, weil die zweite Säule ständig sinkende Erträge bringt. In einem Niedrigzinsumfeld erwirtschaftet das Kapitaldeckungsverfahren, mit dem in der betrieblichen Vorsorge die Renten zusammengespart werden, schlicht zu geringe Leistungen. Es mag sein, dass die Niedrigzinsphase definitiv hinter uns liegt und die finanzielle Situation der Pensionskassen sich langfristig wieder verbessert. Es gibt jedoch keinen Anlass, darauf zu zählen.
Niemand kann die Zinsentwicklung zuverlässig prognostizieren, und ein paar der weltführenden Makroökonomen, etwa Olivier Blanchard, gehen davon aus, dass so mächtige strukturelle Faktoren eine exzessive Kapitalakkumulation favorisieren (unter anderem die sich ständig verschärfende Überalterung), dass die Wirtschaft auch in Zukunft mit Niedrigzinsen leben wird. Das würde bedeuten: Die Leistungen des heutigen Schweizer Rentensystems werden auf Dauer ungenügend bleiben.
Der aktuelle Zustand jedenfalls ist pitoyabel: Die AHV ist – entgegen dem Verfassungstext – nicht existenzsichernd, die berufliche Vorsorge ist hochgradig ineffizient, und die dritte Säule ist de facto einem so schmalen Bevölkerungssegment vorbehalten, dass sie für die breite Altersabsicherung quasi irrelevant bleibt.
Die Statistik spricht eine deutliche Sprache: Die Schweizer Lohnersatzquote für einen Medianlohn ist stark zurückgegangen und liegt gemäss OECD-Statistik gerade einmal noch bei 40 Prozent – was auch im internationalen Vergleich sehr tief ist. Eines der reichsten Länder der Welt ist seinen Seniorinnen gegenüber, nachdem sie ihre Erwerbsbiografien beendet und zu ebendiesem Reichtum ihren Beitrag geleistet haben, schockierend knausrig.
Natürlich ist es richtig, dass dieser Missstand teilweise kompensiert wird und dass es den heutigen Rentnern im Vergleich zu anderen Alterskohorten nicht so schlecht geht. Hier spielen zwei Faktoren: Zum einen sorgen die Ergänzungsleistungen dafür, dass alle Rentnerinnen wenigstens auf das Existenzminimum kommen, zum anderen führt die in der Schweiz enorm hohe Vermögensbildung dazu, dass viele Pensionierte nicht nur von Renten, sondern auch von ihrem Vermögen leben (eine differenzierte Analyse findet sich hier).
Auf Einkommensbasis ist die Armutsquote unter Rentnern schockierend hoch, wenn man die Vermögen miteinbezieht, sieht die Situation deutlich besser aus.
Dennoch ist der aktuelle Zustand nicht haltbar. Es sollte nicht sein, dass ein signifikanter Teil der Pensionierten trotz lebenslanger Arbeit von den Renten, die sie verdient haben, nicht leben können. 2021 bezogen 12,5 Prozent der AHV-Bezügerinnen Ergänzungsleistungen. Bezieht man auch die Leute mit ein, die Anspruch auf Ergänzungsleistung hätten, sich aber scheuen, diese zu beantragen, kommt man auf etwa einen Viertel der Pensionierten, der mit seiner Rente nicht das Existenzminimum erreicht. Gemäss einer Studie von Pro Senectute befinden sich «geschätzt 15,7 Prozent der zu Hause lebenden Schweizer Bevölkerung ab 65 Jahren in einer Situation des Nichtbezugs und hätten rein rechnerisch Anspruch auf Ergänzungsleistungen». Über ein Viertel: Das ist ein krasses sozialpolitisches Versagen. Warum haben wir ein Vorsorgesystem, das einen so grossen Teil der Bevölkerung im Alter wie Sozialfälle behandelt?
Auch das Argument, dass die Vermögensbildung die schlechten Renten kompensiere, ist problematisch. Es trifft zwar zu, dass die Vermögen in der Schweiz enorm hoch sind – sie sind aber auch extrem ungleich verteilt. Im Durchschnitt geht es den Schweizer Rentnern gut, auch deshalb, weil sie im Durchschnitt über beträchtliche Rücklagen verfügen. Da die Vermögen sehr konzentriert sind, verfügt jedoch ein grosser Teil der Rentnerinnen kaum über substanzielle Rücklagen. Für einen grossen Teil der Pensionierten – nicht nur die untersten Einkommenskategorien, sondern auch die untere Mittelschicht – bleiben auch unter Einbezug der Vermögen die Einkommensverhältnisse im Alter sehr prekär.
Es gibt eine ganze Reihe weiterer Argumente gegen die 13. AHV-Rente, die allesamt nicht überzeugen können.
Die 13. Rente sei abzulehnen, weil sie allen AHV-Berechtigten zugutekomme, auch den gut betuchten, die sie nicht brauchen. Das ist Unsinn: Die Giesskanne ist das Grundprinzip der AHV. Christoph Blocher und seine Frau Silvia beziehen eine AHV-Rente, und sie brauchen weder die 13. noch die 12. noch die 11. Tranche. Der sozialpolitische Pakt der AHV besteht genau darin, dass sie bedarfsunabhängig von allen Bürgern bezogen wird – aber die Grossverdiener sehr stark überproportional einzahlen.
In anderen Ländern ist die Sozialversicherungspflicht der Löhne begrenzt, was dazu führt, dass die oberen Einkommenskategorien nur in reduziertem Umfang an der Rentenfinanzierung partizipieren. In Ostdeutschland zum Beispiel liegt die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze bei einem Jahreslohn von 85’200 Euro. Alle darüber hinausgehenden Einkünfte werden nicht belastet. In der Schweiz jedoch wird von jedem Franken eines Millionensalärs stur der AHV-Satz von 4,35 Prozent abgezogen. Das ist der simple und prosaische Grund, weshalb die bürgerlichen Kräfte sich konsequent gegen jede Form des Ausbaus der AHV wehren. Das Giesskannen-Argument ist vorgeschoben. Was bekämpft wird, ist die Umverteilung. Sie ist nicht im Interesse der obersten Lohnkategorien.
Weiter wird geltend gemacht, dass die 13. Rente der Generationengerechtigkeit widerspreche, weil sie finanziert werden müsse von den heutigen Berufstätigen und bezogen werde von Rentnerinnen, die während ihres eigenen Berufslebens eine 13. Rente für die Pensionierten nicht finanzieren mussten.
Auch dieses Argument ist absurd: Wer es ernst nimmt, hätte die AHV nie einführen dürfen. Im Umlageverfahren – das Finanzierungssystem der AHV, bei dem die heutigen Berufstätigen über ihre Lohnabgaben die Renten der aktuellen Pensionierten finanzieren – führt ein Ausbau des Systems immer zu «Generationenungerechtigkeit», insofern als die erste Generation von Bezügern zu Vorteilen kommt, für die sie selber nicht bezahlen musste. Wer dieses Argument gelten lässt, muss jede Form des sozialen Fortschritts bekämpfen. Ist das die richtige Auffassung von Gerechtigkeit?
Schliesslich wird nun sogar ins Feld geführt, dass die 13. Rente frauenfeindlich sei, weil vor kurzer Zeit beschlossen wurde, das Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Jahre zu erhöhen mit dem Argument, die Einsparungen seien nötig, da die AHV nicht mehr genügend Mittel habe. Da sei es ein Affront, wenn nur kurze Zeit später ein Ausbau beschlossen werde, der neue Kosten von 4 Milliarden Franken verursache.
Dieses Argument ist besonders absurd. In der Tat kann man es als skandalös betrachten, dass beschlossen wurde, auf dem Rücken der Frauen die AHV zu sanieren, aber dieser Entscheid ist gefällt und steht nicht mehr zur Debatte. Soll das nun der Grund sein, weshalb für alle Zeiten ein neuer Ausbau der AHV als frauenfeindlich zu betrachten ist? Das Argument ist umso grotesker, als die 13. AHV sehr überproportional den weiblichen Rentnerinnen zugutekommen wird: Erstens kennt nur die AHV Erziehungsgutschriften und damit eine gewisse Anerkennung der Care-Arbeit. Zweitens sind insbesondere Frauen von Altersarmut betroffen und generell auch heute noch bei der Vorsorge viel schlechter gestellt als Männer. Vor allem Frauen wären angewiesen auf eine Verbesserung der Rentenhöhe, und diese soll nun aus «feministischen Gründen» verweigert werden?
Schliesslich wird das Finanzierungsargument geltend gemacht. Ja, wenn die 13. AHV-Rente eingeführt wird, muss trotz der erklecklichen Reserven des AHV-Fonds über kurz oder lang eine entsprechende Finanzierung aufgegleist werden, am besten durch eine Erhöhung der AHV-Lohnprozente um 0,8 Punkte. Natürlich würde das die niederen Einkommen belasten, aber auch dieses Argument ist heuchlerisch. Die Lohneinbusse während des Erwerbslebens wäre für die niederen Einkommen minimal – und der Einkommensgewinn nach der Pensionierung viel substanzieller. Über den gesamten Lebenszyklus würde für die unteren Einkommenskategorien die Kaufkraft deutlich steigen. Per saldo einen Verlust erleiden würden nur die höchsten Einkommen – der Grund, weshalb sich nun auch wirtschaftsliberale Politiker ganz atypische Sorgen um die «Kaufkraft der Bevölkerung» machen.
Es gibt wohl nichts, was so viel erzählt über den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft, wie die Art und Weise, wie sie mit ihren Seniorinnen umgeht, mit den Menschen, die ihren Beitrag geleistet haben zum Wohlstand, den wir geniessen, die heute aber nicht mehr eine Produktivkraft, sondern eine Belastung sind. Die Geschichte, die das Schweizer Vorsorgesystem über uns erzählt, ist keine besonders erhebende: Tagaus, tagein missachten wir im Grunde den Geist der Bundesverfassung und belassen die AHV-Renten auf einem Niveau, das nicht dem Existenzbedarf entspricht.
Die 13. AHV-Rente wäre ein Schritt, um diesen Missstand abzumildern. Die Mittel, um sie zu finanzieren, lassen sich finden. Die Frage ist allerdings: Gibt es dazu den politischen Willen?