Wenn die Gesellschaft den Weg in die Arbeitswelt behindert

Rebekka Weber findet keinen Job, trotz Studium. Sie ist Autistin. Ihr Beispiel zeigt, wie heraus­fordernd der Berufs­einstieg ist abseits der neurotypischen Norm. Und viele der Hürden sind völlig überflüssig, wie auch zwei andere Geschichten zeigen.

Von Alexandra Müller (Text) und Lina Müller (Illustration), 13.01.2024

Vorgelesen von Dominique Barth
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Dass auf ihrem Schreibtisch ein gerahmtes Porträt von Goethe steht, sei ironisch gemeint, sagt Rebekka Weber. Zwar mag sie Goethe, aber er repräsentiere auch die männliche Uni-Elite. Wenn sie erzählt, verwendet sie ungewöhnlich viele Metaphern. Rebekka Weber, die in Wirklichkeit anders heisst, kann gut singen, sie schreibt gerne lyrische Texte, Tolkiens «Herr der Ringe» ist ihr Lieblingsbuch.

Ihr pinker Eyeliner harmoniert mit ihren Haaren, das Outfit ist farblich perfekt darauf abgestimmt. Die Sonnen­untergänge im Juni bringen sie zum Weinen, der Geruch von Zigaretten am Bahnhof zum Erbrechen. Alles mit Technik findet sie «total langweilig», manchmal versteht sie nicht, was ihr Gegenüber gerade meint. Wenn ihre Freundin sie fragt, wie sie aussehe, sagt Rebekka Weber ihr die Wahrheit, auch wenn ihr das Kleid nicht steht. Weil sie ihr helfen möchte. Weil sie Menschen mag.

Rebekka Weber ist autistisch. Und sie sucht einen Job.

In einer NGO, einer Stiftung, beim Bund, beim Kanton, irgendwo im sozio­politischen Bereich. Am liebsten in einer Organisation, die sich für die Inklusion von Behinderten einsetzt. Etwas, was «die Gesellschaft weiterbringt. Oder wenigstens ein wenig hilft.»

Weber ist 25 und hat einen Bachelor in Geistes­wissenschaften der Universität Bern. «Siehst du die Prosecco-Flasche auf dem Pult? Die habe ich als Auszeichnung für die beste Präsentation einer Bachelor­arbeit in meinem Jahrgang gewonnen», sagt sie.

Unsichtbare Frauen

Vor zwei Jahren hat Weber ihre Autismus-Diagnose erhalten, da war sie 23 Jahre alt. Eine späte Diagnose ist gerade bei Frauen nicht selten. Einerseits weil Frauen mehr maskieren, also ihre autistischen Symptome aktiv verdecken. Andererseits werden gewisse Verhaltens­weisen irrtümlicher­weise je nach Geschlecht anders interpretiert: So fällt ein zurück­gezogenes Mädchen weniger auf als ein schüchterner Junge.

Vor allem aber ist die weibliche Symptomatik weniger erforscht. «Ich wurde im Austausch­semester in England von autistischen Freundinnen auf meinen Autismus angesprochen, davor war ich nie damit konfrontiert gewesen», erzählt Weber. «Lustigerweise hatten meine englischen Freunde angenommen, dass ich schon diagnostiziert sei.»

«Autismus-Spektrum-Störung» heisst die Diagnose offiziell nach der Klassifikation der Welt­gesundheits­organisation (WHO). Medizinisch gesehen handelt es sich um eine angeborene Entwicklungs­störung. Laut dem Verein Autismus Schweiz ist etwa 1 Prozent der weltweiten Bevölkerung betroffen, gewisse Studien gehen von bis zu 3 Prozent aus.

Soziale Regeln und Konzepte nicht verstehen, repetitives Verhalten oder Detail­wahrnehmung nennt der Verein Autismus Schweiz unter anderem als klassische Symptome. Doch nicht bei jeder Autistin sind alle Symptome gleich vorhanden, und die Ausprägung ändert sich auch im Verlauf des Lebens. Da Fach­personen heute von einem fluiden Spektrum ausgehen, wird die Diagnose mittlerweile nicht mehr weiter unterteilt – nach «Asperger» oder «atypischem Autismus» beispielsweise.

«Trotz der grossen Breite des Spektrums gibt es Stränge, die alle autistischen Menschen verbinden, beispielsweise das Verarbeiten von sensorischen Informationen», sagt Andreas Eckert. Er ist Professor für Kommunikation und Partizipation bei Autismus an der Interkantonalen Hochschule für Heil­pädagogik (HfH). Dieser Punkt werde von Betroffenen immer wieder als die grösste Barriere im Alltag genannt. Gemeint ist, dass autistische Menschen teilweise sehr stark reagieren auf Geräusche, Gerüche, Berührungen, Farben und Licht – oder auch sehr schwach. All diese Reize einzuordnen, ist das, was autistischen Menschen das Leben so schwer macht. Gleichzeitig setzt diese Hyper­sensibilität bei vielen Personen mit Autismus ein Potenzial gesteigerter Aufmerksamkeit frei.

Im Alltag bedeutet dies: Wenn Rebekka Weber einen Müll­container riecht oder Staub und Schmutz berührt, empfindet sie einen starken Schmerz, deshalb braucht sie Hilfe im Haushalt. Gegen Geräusche auf der Strasse trägt sie Gehör­schutz, Hunger spürt sie erst, wenn sie zu zittern beginnt. Während sie als Hilfs­assistenz unterrichtete, musste sie sich aus Nervosität jedes Mal vor der Lektion übergeben. Zweimal wöchentlich, vier Monate lang. Ob sie das nochmals durchziehen würde, weiss sie nicht. Wie die Prosecco-Flasche auf dem Pult zeigt, hat sie so gelernt zu präsentieren. Aber um welchen Preis?

«Plötzlich wusste ich: Es ist nicht meine Schuld»

Es kostet Rebekka Weber sehr viel Energie, anders zu sein und dennoch normal funktionieren zu müssen – einen Haushalt zu führen, eine Ausbildung zu machen, einen Nebenjob zu haben. Mit 25 Jahren hat sie deshalb bereits zwei Burn-outs hinter sich.

So kam es auch zur Diagnose: Da sie aus Erschöpfung das Semester nicht abschliessen konnte, brauchte sie ein Arztzeugnis – und wollte bei dieser Gelegenheit auch gleich den in England aufgekommenen Autismus-Verdacht abklären lassen. Doch der Psychiater behauptete, Autismus komme bei Frauen gar nicht vor. «Ich war zwar darauf vorbereitet, dass eine Diagnose schwierig sein kann, aber ich fühlte mich sehr wenig ernst genommen», erzählt sie. Beim zweiten Anlauf bei einer auf Autismus spezialisierten Praxis klappte es nach ein paar Monaten Wartezeit: Seither weiss sie mit Sicherheit, dass sie autistisch ist.

«Die Diagnose war eine Achterbahn­fahrt der Gefühle», sagt Weber. «Mein ganzes Leben lang wurde mir klargemacht, dass ich mich einfach zusammen­reissen muss. Plötzlich wusste ich: Es ist alles nicht meine Schuld. Ich funktioniere einfach von Grund auf anders. Allerdings war es auch ein Schock. Ich musste mich nun damit konfrontieren, dass ich behindert bin.»

Für ihre Ausbildung und ihren Berufs­einstieg hat die IV ihr einen Dolmetscher­coach organisiert. Dieser übersetzt alles, was nicht direkt in Worten gesagt wird: Gestik, Mimik, Tonfall, Betonung – all die nonverbalen Zeichen, die signalisieren, ob etwas wichtig ist. Oder schlecht. Oder ironisch. Oder als Witz gemeint.

Gerade bei einer Besprechung für die Bachelor­arbeit wäre so ein Dolmetscher­coach sehr nützlich gewesen. Webers betreuender Dozent weigerte sich allerdings, ein Gespräch zu dritt zu führen. Stattdessen bat er sie, sich eine andere Betreuungs­person zu suchen. Sie hatte die Recherche bereits abgeschlossen, ein Drittel der Arbeit war schon geschrieben. Hilfe bekam sie von ihrem Dozenten keine, die Fachstelle der Universität Bern war überfordert, ein weiteres Semester ging verloren.

Das Elon-Musk-Klischee

In der Schweiz wird Gleichstellung in Schulen mithilfe von Begleitung, Einzel­stunden und angepassten Prüfungs­bedingungen ermöglicht. An den Hochschulen werden Nachteils­ausgleiche angeboten, die jeweils individuell verhandelt werden müssen. Aber welche Bedingungen brauchen Menschen mit Autismus?

«Klare und eindeutige Kommunikation, Strukturierung, Visualisierung, Schutz vor Reiz­überflutung», sagt Andreas Eckert. Dies wäre auch für Menschen ohne Autismus von Vorteil. Doch diese hätten mehr Strategien, um mit nicht idealen Bedingungen umzugehen, während Menschen mit Autismus auf diese Rahmen­bedingungen angewiesen seien – «sonst droht ein Scheitern».

Vor allem aber muss laut Eckert die Bevölkerung aufgeklärt und sensibilisiert werden. Damit autistische Menschen eben nicht klischiert als einzel­gängerische, empathie­lose Genies à la Elon Musk wahrgenommen werden, sondern als individuelle Personen mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen und Stärken.

Weber kehrt diese Stereotype um: Das sei etwa so, als würde sie alle neuro­typischen Menschen als Herden­tiere bezeichnen, die blind ihrer Gruppe folgten und nicht individuell nachdenken könnten. «Alles, was andersartig ist, grenzen sie aus», sagt sie.

Seit sie mit ihrem Autismus konfrontiert wurde, hat sie sich mit ihrer eigenen Verhaltens­weise auseinander­gesetzt, aber auch viel über die Beweg­gründe von neuro­typischen Menschen gelernt. «Das gibt mir etwas Hoffnung: Wenn ich die neuro­typische Seite verstehen kann, dann geht das auch andersherum.»

Neurotypische Kommunikation ist für Weber manchmal genauso irritierend, wie es wohl auch umgekehrt ist. Es stört sie, dass gewisse Symptome der Autismus-Spektrum-Störung so pathologisiert seien. «Zum Beispiel fehlender Augen­kontakt. Nur weil ich dir nicht in die Augen sehe, bedeutet es nicht, dass ich nicht aufmerksam bin. Im Gegenteil, ich höre dir sogar sehr gut zu, weil ich auf eine neutrale Fläche schaue. Ich kann dir schon in die Augen schauen, aber dann bin ich wie ein hypnotisiertes Häschen: Ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren, was du sagst.»

Dieser Sturm aus Eindrücken

Rebekka Weber bezeichnet sich selbst als behindert, sie würde ihren Autismus aber auch nicht heilen wollen. «Wenn ich nicht autistisch wäre, dann wäre ich nicht ich. Gleichzeitig merke ich, dass ich in der Gesellschaft auf viele Barrieren stosse, weil ich anders funktioniere. Allein dadurch bin ich im sozialen Sinn behindert.»

Gemäss dem aus der Behinderten­bewegung hervor­gegangenen sozialen Modell von Behinderung entsteht die Behinderung erst durch die Gesellschaft, die durch Strukturen Menschen von der Teilnahme ausschliesst. Weber erklärt das so: Um von einer Ebene zur nächsten zu gelangen, brauchen alle Menschen Hilfsmittel. Für die meisten sind das Treppen, nicht aber für Menschen im Roll­stuhl. Für Autistinnen wiederum sind Hürden in der Gesellschaft beispiels­weise fehlende Rückzugs­orte oder die soziale Situation eines Bewerbungs­gesprächs.

Gleichzeitig kann Weber sehr schnell komplexe Texte analysieren oder abstrakte philosophische Konzepte verstehen. Wie passt das zusammen: dass jemand Literatur und Filme liebt, aber nicht verstehen kann, was in einem Gespräch ironisch gemeint ist?

Der springende Punkt ist Kontext­information.

«Vieles, was die meisten Menschen intuitiv erschliessen, ist für Menschen mit Autismus auch verständlich und nachvollziehbar – allerdings erst mit Zusatz­informationen», sagt Eckert. «Möglicherweise reicht ein Gesichts­ausdruck alleine nicht aus, um die Gefühle eines Gegenübers lesen zu können.» Autistische Menschen sind genauso empathisch wie andere Menschen, der Unterschied ist ihre Wahrnehmung: dieser Sturm aus Eindrücken, der immerzu auf sie einprasselt.

An Fähigkeiten mangle es ihr nicht, sagt Weber. «Ich arbeite sehr genau, sehr konzentriert und zielstrebig. Wofür andere acht Stunden brauchen, brauche ich vielleicht vier.» Dafür benötigt sie viel Erholungszeit.

Vollzeit arbeiten könnte sie nicht, das bestätigt ihr Psychiater und mittlerweile auch die IV. Erst beim zweiten Anlauf wurde ihr eine Teil­rente zugesprochen. Webers erster Antrag wurde abgelehnt, ohne dass die Ärzte der IV sie jemals gesehen hätten. Nun hat sie zwar Anspruch auf eine Teilrente, sie sucht aber nach einer Möglichkeit, Aufklärungs­arbeit zu leisten. «Damit andere autistische Menschen nicht das Gleiche durchmachen müssen wie ich.»

Rebekka Weber sucht bereits seit fünf Monaten eine Stelle. Die Job­suche gestaltet sich für sie auch deshalb so schwierig, weil sie sich nicht für Technologie oder Informatik interessiert. In diesem Bereich gäbe es einige Unternehmen, die explizit auf autistische Mitarbeiterinnen ausgelegt sind. Das IT-Unternehmen Auticon beispiels­weise oder die Brand-Agentur Twofold. Auch Microsoft hat ein entsprechendes Programm.

Ein bisschen wie ein Radio

Doch auch in diese Unternehmen passen nicht alle Autisten, wie Nico Rossi erfahren musste. Dabei interessiert er sich sehr für Technik.

Nico Rossi, der in Wirklichkeit ebenfalls anders heisst, spricht sehr schnell und ununterbrochen, man sage ihm, er sei ein bisschen wie ein Radio. Am liebsten erzählt er von Servern und Prozessoren und vom «Minecraft»-Spiel, dem Ursprung seiner Computer­faszination. Wenn sein Vater ihn nicht zum Schlafen­gehen zwingt, bleibt er stundenlang wach und hilft fremden Menschen im Internet mit ihren Computer­problemen. Wenn Rossi mit dem Support eines Herstellers von Computer­chips telefoniert, kann ihm niemand helfen, so komplex sind seine Fragen.

Rossi ist ungeduldig, und er ärgert sich, dass er immer wieder etwas vergisst: was er gerade gemacht hat oder was er gerade machen wollte. Wenn er das Gefühl hat, etwas besser zu wissen, dann korrigiert er. Egal ob eine Lehrerin, ein Vorgesetzter oder eine Gleichaltrige vor ihm steht. Wenn man ihm kein überzeugendes Gegen­argument gibt, ignoriert er auch mal ein Verbot. Rossi hasst Tiktok und liebt Züge. Er hätte gerne mehr Freunde ausserhalb des Internets, um sich auszutauschen und etwas zu unternehmen. Einen Roboter zu bauen, beispielsweise.

Nico Rossi ist 17 Jahre alt, wurde in Taiwan geboren und lebt erst seit knapp drei Jahren bei seinem Vater im Aargau. Er ist autistisch, hat zudem ADHS und er sucht eine Lehrstelle. Schon lange.

Während der Schulzeit hat Rossi bei der Stiftung Rafisa geschnuppert, die autistischen Menschen geschützte Lehrstellen im technischen Bereich anbietet. Bei ihm wollte es allerdings nicht klappen, er brauche ein Eins-zu-eins-Setting, fand die Stiftung. Auch die Deutsch­kenntnisse seien nicht ausreichend, und er halte sich zu wenig an die gesetzten Regeln. Kurz: Er sei noch nicht bereit.

Worauf sich die Frage stellte: Wenn eine Stiftung, die Arbeits­plätze für autistische Menschen bietet, nicht mit Rossi klarkommt – wer kann es dann?

Die lange Suche nach dem richtigen Ort

Als er mit der Schule fertig war, schickte die IV Aargau ihn zur Stiftung Wendepunkt. In einem Arbeits­integrations­programm musste er Fenster schleifen und bei Zügel­arbeiten helfen. Nach sieben Monaten hielt er es nicht mehr aus und verweigerte die körperlich schwere, kognitiv jedoch unter­fordernde Arbeit. Die Tage hätten sich wie Copy-and-paste wiederholt, sagt er, immer und immer wieder.

Dann passierte erst mal zwei Monate nichts. Zumindest vonseiten der IV Aargau.

Dafür organisierte Nico Rossis Vater ihm eine Schnupper­lehre bei der ABB, wo er selber arbeitet. Doch obwohl die ABB von der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» als «Vorbild in Vielfalt und Diversity» ausgezeichnet worden war, wollte sie Rossi keine Lehrstelle anbieten. Sein Vater war verzweifelt: «Es wird immer von Diversität und Inklusion gesprochen, nur gelebt wird sie selten.»

Während sein Vater zur Arbeit ging, blieb Nico Rossi danach wieder zu Hause. Bloss am Morgen und am Abend braucht er Hilfe. Sonst weiss er nicht, welche Kleider er anziehen muss, er isst nichts und er geht nicht schlafen – weil ihm das alles nicht in den Sinn kommt.

Problematisch wurde es, als Nico Rossis Vater geschäftlich reisen musste. Er suchte jemanden, der seinem Sohn ein paar Tage die Struktur bieten könnte, die er braucht. Durch einen Tipp stiess er auf die Stiftung Fair Rates, ein weiteres IT-Unternehmen, das ausschliesslich autistische Menschen einstellt. Diese hätte ihm ausnahms­weise sogar eine Übernachtungs­möglichkeit angeboten.

Zwar konnte Nico Rossi dann bei seiner Cousine übernachten, doch tagsüber ging er zu Fair Rates – obwohl man ihn noch nie gesehen hatte und nichts über ihn wusste. «Ich hab nur gehört: Da hat einer ein Problem, also helfe ich», sagt Christian Gruenhut, der operative Leiter.

So kam Nico Rossi zur Stiftung Fair Rates.

Auch dort waren die Mitarbeiter weder vor seinen vielen Fragen noch vor seinen Rede­schwallen sicher. Auch dort widersetzte Rossi sich teilweise den Anleitungen. Verwendete Geräte, deren Benutzung ihm untersagt war.

Doch die Reaktionen darauf waren anders. «Er ist jung und testet seine Grenzen aus», sagt Gruenhut, «aber die muss man ihm auch klar setzen. Wenn er sich inkorrekt verhält, gibt es Konsequenzen.»

Geld oder Hilfe

Klare Kommunikation, klare Struktur, darauf reagiert ein autistischer Mensch. Einerseits muss man Nico Rossi erklären, wieso etwas entschieden wird. Andererseits muss er auch lernen, Autorität zu akzeptieren. Dafür brauche er Zeit und ein verständnisvolles Umfeld, sagt Gruenhut. «Aber wenn man ihn richtig lenkt, wird etwas ganz Grosses aus ihm. Was er alles weiss und wie schnell er Zusammenhänge erkennt – der ist ein Genie.»

Nico Rossi ging es gut bei Fair Rates, bleiben konnte er aber nicht.

Die IV Aargau hätte zwar seinen Lehrlings­lohn übernommen, nicht aber die weiteren nötigen Betreuungs­kosten. Auch den Antrag für eine fixe Zusammen­arbeit mit der Stiftung Fair Rates und Deckung der Ausbildungs- und Betreuungs­kosten von Lernenden im geschützten Rahmen hat die IV abgelehnt.

Als Begründung sagt die IV Aargau auf Anfrage der Republik, dazu sei eine Bewilligung des Kantons nötig sowie «fundierte Betriebs­konzepte, eine ausreichende Anzahl an Betreuungs­personen sowie ausgebildetes oder geschultes Personal mit den notwendigen Kompetenzen für die Begleitung und Betreuung der IV-Versicherten».

Für Rossi hätte all das keine Rolle gespielt.

«Ich kann es einfach nicht verstehen», sagt sein Vater. «Wir hätten hier eine Lösung, die IV könnte nun vier Jahre lang zahlen, und dann müsste sie nichts mehr mit uns zu tun haben.» Anschliessend an die Ausbildung bei Fair Rates hätten bis jetzt alle eine Stelle im ersten Arbeits­markt gefunden.

Stattdessen muss Rossi weitersuchen. Und die Stiftung Fair Rates wurde mittlerweile liquidiert.

Eine IV-Rente will sein Vater nicht beantragen: «Dann ist er für die IV weg vom Fenster, dann zahlen sie zwar, aber es wird nichts mehr passieren.» Sein Sohn aber brauche echte Hilfe und Inklusion – nicht einfach eine finanzielle Entschädigung. Die IV aber hat Nico Rossis Akte bis zu seinem 18. Geburtstag im Mai als «geschlossen» erklärt und empfiehlt, bei Wieder­eröffnung direkt eine Rente zu beantragen.

Wer früher lernt, kann schneller mitreden

Ganz ohne Unterstützung lebt Tanja Chvojan. Vielmehr bietet sie selbst Hilfe an.

Tanja Chvojan ist 29, lebt im Baselbiet und möchte gerne namentlich genannt werden. Seit einem Jahr arbeitet sie nebst ihrer 80-Prozent-Tätigkeit als Fachfrau Haus­wirtschaft 20 Prozent selbstständig als Autismus-Coach. «Aber wenn ich zu viel über meine Firma erzähle, musst du mich bremsen», warnt sie vor. «Ich bin eigentlich ein sehr emotionaler, mitfühlender Mensch, aber manchmal merke ich nicht, wenn ich zu stark auf mich lenke oder wenn etwas nicht angemessen ist.»

Chvojan braucht viel Zeit für sich. Sie fährt gerne nach Winterthur in die Selbsthilfe­gruppe – vor allem deshalb, weil sie das Ritual mag. In Winterthur im gleichen Restaurant essen zu gehen, am nächsten Tag im gleichen Hotel in Zürich den Wellness­bereich geniessen. Veränderungen sind oft schwer für sie, trotzdem möchte sie in Zukunft viel reisen. Sie mag Körper­kontakt, geht offen auf andere Menschen zu und sagt über sich selber, sie tratsche gerne.

Die neurotypische Sprache habe sie gelernt wie jede andere Sprache auch, sagt sie. «Man musste mir lange beibringen und erklären und begründen, was angemessen ist und was nicht.» Lange – das sind in Tanja Chvojans Fall 27 Jahre, als Zweijährige wurde sie diagnostiziert.

«Ich hatte Glück», sagt sie. Denn je früher die Diagnose, desto besser.

«Zwar besteht oft die Befürchtung, dass eine Diagnose zu einer Stigmatisierung führt», sagt Andreas Eckert von der HfH. Aber die Diagnose helfe, die betroffene Person besser zu verstehen und zu unterstützen – was auch die Entwicklung eines Kindes positiv beeinflusse.

Nach zehn Jahren Sonder­schule absolvierte Tanja Chvojan zuerst eine Hauswirtschafts­lehre im geschützten Bereich, anschliessend eine zweite im ersten Arbeitsmarkt.

Seit sieben Jahren arbeitet sie in einem Altersheim im Basel­biet. Obwohl ihre erste Vorgesetzte sie nach zwei Monaten entlassen wollte. «Die hat mich eingestellt und gesagt: ‹Machen Sie!› Aber das konnte ich nicht, ich kannte den Betrieb doch nicht. Ich brauchte mehr Infos, genauere Erklärungen bis ins letzte Detail.»

Der Konflikt wurde weiter zum Heimleiter getragen, der ihren Willen, ihr Pflicht­bewusstsein und ihre Genauigkeit sah und beschloss, sie zu behalten. Erst da klärte sie alle über ihren Autismus auf. «Heute würde ich das viel schneller kommunizieren. Meine Chefin hat mich damals als Betrügerin beschimpft. Sie meinte, ich hätte die Diagnose extra verheimlicht, damit ich die Anstellung bekomme.»

Tanja Chvojan weiss seither, dass sie offen mit der Diagnose umgehen muss. Auch wenn ihr nicht alle glauben: Sie sei zu sozial, zu extrovertiert, bekommt sie zu hören.

«Die meisten autistischen Menschen mögen Kontakte, nur brauchen sie auch viel Zeit zur Erholung allein», sagt Eckert. Zudem fehlten oft die nötigen Strategien. Wer immer wieder scheitere, gebe irgendwann auf. Entsprechend kommt mit Autismus ein deutlich erhöhtes Risiko von Depressionen.

Bei solchen Schwierigkeiten hilft Chvojan: Sie gibt Coaching­sessions und organisiert Ausflüge, sie leitet Fach­tagungen und Small-Talk-Gruppen. Ihr Ziel ist, irgendwann ausschliesslich davon leben zu können. «Ich möchte allen Autistinnen raten: Steht zu euch und seid stolz auf euch. Wer euch wegen eures Andersseins nicht will, hat euch nicht verdient», sagt sie.

Bloss: Es ist nicht nur eine Frage des Wollens oder Verdienens.

Zwar sieht das Gesetz gemäss Schweizer Bundes­verfassung «Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten» vor. Die Schweiz hat zudem die Uno-Behinderten­konvention unterzeichnet und verpflichtet sich damit, «Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierungen zu schützen und ihre Inklusion und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern». Und der Bundesrat findet, Menschen mit Autismus müssten «besser integriert werden». Um die Massnahmen umzusetzen, sind jedoch alle möglichen Akteure zuständig: nichtstaatliche Organisationen, kantonale Einrichtungen, Schulen und nicht zuletzt die Invaliden­versicherung.

Um Personen mit Behinderungen ein Mitsprache­recht zu geben, werden aktuell Unterschriften für die Inklusions­initiative gesammelt. Das überparteiliche Komitee will, dass der Anspruch auf Unterstützungs- und Anpassungs­massnahmen in der Bundes­verfassung verankert wird.

Im Bereich Autismus braucht es daneben aber vor allem auch mehr Aufklärung – sowohl bei Fach­personen als auch der breiten Bevölkerung, wie Eckert sagt. Sonst bleiben die Wege vorwärts für Menschen wie Rebekka Weber, Nico Rossi und Tanja Chvojan unnötig kompliziert.

Zu Anlaufstellen für Hilfe

Sind Sie oder Ihre Angehörigen im autistischen Spektrum und brauchen Sie Hilfe in der Ausbildung oder im Beruf? Hier finden Sie Info- und Beratungs­möglichkeiten:

Verein Autismus Schweiz
www.autismus.ch
beratung@autismus.ch
Tel. +41 44 341 13 13

Stiftung Profil – Arbeit & Handicap
www.profil.ch
Tel. +41 58 775 20 20
info@profil.ch

Stiftung Kind & Autismus
Tel. +41 44 736 50 77
www.kind-autismus.ch
info@kind-autismus.ch

Zur Autorin

Alexandra Müller hat Kommunikation an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften studiert. Diesen Text hat sie im Rahmen ihrer Bachelor­arbeit verfasst.

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