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Was der Fachkräfte­mangel mit unfähigen Chefs zu tun hat

Wir brauchen mehr Pflegerinnen, mehr Ingenieure. Stimmt. Doch die Fachkräfte müssen ihrem Beruf auch treu bleiben. Dazu braucht es Vorgesetzte, die Führung neu denken und ihre Mitarbeiter motivieren können.

Von Cornelia Eisenach, 03.01.2024

Vorgelesen von Jonas Gygax
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«Du musst arbeiten, was?», sagt ein Freund zu Tom in Mark Twains Roman «Die Abenteuer des Tom Sawyer».

Es ist Samstag, die Sonne brennt und der junge Held ist von seiner Tante Polly zum Zaun­streichen verdonnert worden. Er versucht, die Aufgabe seinem Freund Jim zu übergeben, bietet ihm gar eine weisse Murmel an. Ohne Erfolg.

Als Ben vorbeikommt und Tom wegen der Strafarbeit aufzieht, erwidert Tom mit ernstem Gesicht: Das sei doch keine Arbeit. Das mache Spass. Und überhaupt, so etwas Kompliziertes könne nicht jeder.

Jetzt will Ben auch mal. Doch Tom lässt ihn nicht. Die Arbeit sei so wichtig, die müsse er selbst machen. Erst als der Junge Tom einen Apfel anbietet, darf er streichen. Das wollen bald immer mehr Kinder. Am Ende verbringt Tom den Nachmittag mit Faulenzen, hat allerlei Geschenke eingeheimst und der Zaun ist dreimal gestrichen.

Tom Sawyer schafft, wovon die CEOs dieser Welt nur träumen. Hoch motivierte Arbeits­kräfte. Und das am Wochenende.

Zugegeben, Tom verarscht seine Freunde. Dennoch schafft er es, sie zu motivieren, der Arbeit einen Sinn zu geben.

Aber das ist nur eine Geschichte. In der echten Welt gilt eher: Hier ist das Unternehmens­ziel, da der Bonus. Oder die Abstrafung. Transaktional heisst dieser Führungsstil, der weitverbreitet ist.

Das Problem: Er funktioniert nicht. Nicht auf Dauer. Nicht, wenn Fachkräfte fehlen. Dann wird schlechte Führung zum Wettbewerbs­nachteil.

Fachkräfte­mangel auf Rekord­niveau

Der Index, der hierzulande den Fachkräfte­mangel misst, ist 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 24 Prozent gestiegen. Höchststand – trotz Inflation, starkem Franken und sich abschwächender Weltwirtschaft. Gefragt sind vor allem Gesundheits­spezialistinnen, IT-Fachkräfte und Ingenieure.

In diesen Berufen fällt es Unternehmen immer schwerer, gute Leute zu finden. Der Index steigt, mit Ausnahme der Pandemie­jahre 2020 und 2021, seit 2016. Ein Hauptgrund: Die Gesellschaft wird älter. Babyboomer gehen in Rente.

Doch auch die Fachkräfte gehen. Sie verlassen die Unter­nehmen, manchmal sogar ihren Beruf. Wechseln wollen gerade die gefragtesten Berufsleute. Etwa Pflege­personal. «Primär müssen wir schauen, dass die Leute im Beruf bleiben», sagte vor kurzem der Gesundheits­vorsteher der Stadt Zürich zum Personal­mangel in der Pflege.

Das Gleiche gilt für Menschen in Ingenieur­berufen. Dies zeigt eine von Economie­suisse und Swiss Engineering in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage unter mehr als 3300 Ingenieurinnen der Deutsch­schweiz von 2017. Die Mehrheit hatte in der Vergangenheit mindestens einmal die Stelle gewechselt, meist auf eigene Initiative. Rund ein Drittel der Befragten gab an, nicht mehr in einer klassischen Ingenieurs­funktion zu arbeiten.

Allgemeine Zahlen liegen für Deutschland vor. Laut einer repräsentativen Umfrage des amerikanischen Meinungs- und Personal­forschungs­instituts Gallup unter deutschen Angestellten waren sich 2018 noch 78 Prozent der Befragten sicher, dass sie in einem Jahr weiterhin für ihre derzeitige Firma arbeiten würden. 2022 waren es nur noch 55 Prozent.

Warum die Leute gehen

Gefragt, warum sie ihre Stelle wechselten, antworteten die Schweizer Ingenieure am häufigsten: fehlende Entwicklungs­möglichkeiten (33 Prozent), unsichere Aussichten des Arbeit­gebers (25 Prozent) und fehlende Wertschätzung (21 Prozent). Ausserdem werden langweilige Arbeit (18 Prozent) und zu tiefes Salär (16 Prozent) als Gründe genannt. Auch bei jenen, die ihre klassische Tätigkeit verlassen hatten, waren «bessere Entwicklungs­möglichkeiten» ausschlaggebend.

Eine Umfrage des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) unter 1000 Angestellten der Deutsch­schweiz von 2023 zeichnet ein ähnliches Bild: Es geht um Respekt, Wertschätzung, Entwicklungs­möglichkeiten, Werte­kongruenz.

Wenn diese Dinge fehlen, sinkt das Engagement am Arbeitsplatz. Das zeigt der sogenannte «Employee Engagement Index» von Gallup schon seit vielen Jahren. Es handelt sich um einen der wichtigsten Indikatoren für die Qualität der Führungs­kultur und misst die Haltung von Beschäftigten gegenüber ihren Arbeitgebern.

Gemäss dem aktuellen Report für 2023 sind nur 11 Prozent der Angestellten in der Schweiz «engaged», das heisst leistungs­bereit aus eigenem Antrieb. Der Rest macht im besten Fall Dienst nach Vorschrift. Im schlechtesten Fall unterminiert er die Leistungen der Team­kolleginnen.

Dazu kommt, dass immer mehr Angestellte aus gesund­heitlichen Gründen ausfallen oder berufsunfähig werden. Stichwort: Long Covid. Fehlzeiten nehmen zu, wie das GDI in seiner aktuellen Studie schreibt. Ebenso die Krank­schreibungen wegen psychischer Beschwerden. Burn-out und arbeits­bedingter Stress seien wesentliche Treiber für das Fehlen am Arbeitsplatz, heisst es in der Studie.

«Nach einem Burn-out wird oft der Arbeit­geber gewechselt, aber auch die Branche, weil das verbrannte Erde ist», sagt die Arbeits­psychologin Hannah Schade, die sich in ihrer Forschung mit den Bedürfnissen und der Motivation von Arbeit­nehmerinnen beschäftigt. Bei diesen Wechseln gehe extrem viel Wissen verloren und es entstünden hohe Kosten für die Gesamtwirtschaft.

Unfähige Chefs

Es kommen also viele Faktoren zusammen: gesundheits­schädliche Belastung, geringe Motivation, Unzufriedenheit aufgrund fehlender Wertschätzung und Entwicklungs­möglichkeiten – die Arbeits­bedingungen in ihrer Gesamtheit, für die vor allem einer verantwortlich ist: der Chef.

«Extrem viele Leute nennen ihre Führungskraft als Haupt­faktor in dem Entstehen von Burn-out und Arbeits­unzufriedenheit und beim Wunsch, den Arbeitgeber zu wechseln», sagt Arbeits­psychologin Schade.

Gute Führung ist essenziell nicht nur für das Wohlergehen der einzelnen Unternehmen, sondern der Gesamt­wirtschaft. Doch das ist noch nicht überall angekommen. «Viele Unternehmen haben es nicht auf dem Schirm, wie wichtig Führungs­qualitäten sind», sagt Schade.

Eine Leitungs­funktion bekommen meist die, die in ihrem Fach die Besten sind. Der beste Arzt wird Oberarzt. Egal, ob er sich in die Bedürfnisse seiner Team­mitglieder einfühlen kann oder nicht.

«Die Manager wollen, dass der Laden läuft», sagt Schade. Der Grossteil meine noch immer, das Gehalt müsse reichen als Motivation. Geführt wird nach dem Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche, der transaktionalen Methode. Dass diese langfristig nicht funktioniere, wisse die Forschung aber schon seit Jahrzehnten, sagt Schade.

Die US-amerikanischen Forscher Richard Ryan und Edward Deci beobachteten Anfang der 2000er-Jahre, was passiert, wenn wir für etwas, das wir gerne tun, plötzlich belohnt werden: Die intrinsische Motivation sinkt. Um diese zu erhalten, braucht es gemäss der sogenannten Selbst­bestimmungs­theorie der Forscher drei Dinge: Selbst­wirksamkeit, Autonomie und Gemeinschafts­gefühl.

Eine rein transaktionale Führung kann diese Motivations­quellen nicht gewährleisten. Sie führt eher zu Dienst nach Vorschrift. Die Lust am Job nimmt ab, und schliesslich schaut man sich anderswo um.

Wie es besser geht

Moderne Führung setzt deshalb nicht bei Zielvorgaben an, sondern bei der Motivation der Mitarbeitenden. Der eigentliche Job von Chefs besteht darin, die individuellen Ziele und Bedürfnisse der Angestellten zu kennen und diese mit den Zielen des Unternehmens in Einklang zu bringen.

«Es ist wichtig, dass man sich auf jede einzelne Person einlässt und fragt: Was brauchst du, um deinen Beitrag zu leisten?», sagt Schade. Für den einen kann das mehr Flexibilität sein, um Familie und Job unter einen Hut zu bringen. Eine andere braucht Weiter­bildung. Und wieder jemand anderes braucht eine Auszeit zum Durchschnaufen.

Klar, manches davon kostet Geld. Aber nicht alles. Wertschätzung zum Beispiel. Fehlt sie, verlassen Mitarbeitende häufig ihre Stelle. «Wertschätzung ist eine klassische Führungs­aufgabe», sagt Schade.

Eine gute Führungskraft macht aber mehr, als auf die Bedürfnisse der Arbeit­nehmer einzugehen. Sie kann sie auch für ein gemeinsames Ziel begeistern. So wie Tom Sawyer.

Sawyer habe seinen Freunden das Gefühl gegeben, Teil eines wichtigen Projekts zu sein, schreibt Wolfgang Jenewein, der an der Universität St. Gallen zum Thema Führung forscht und lehrt, in seinem Buch «Warum unsere Chefs plötzlich so nett zu uns sind». Ungeachtet der List, die hinter Toms Vorgehen steht, habe er die intrinsische Motivation seiner Freunde geweckt, ihre Leidenschaft für die Arbeit entfacht.

Es ist ein Beispiel für transformationale Führung – eines von drei Führungs­prinzipien, die Jenewein in seinem Buch nennt. Er nennt die Prinzipien Puppen­spieler, Hängematte und Expeditionsleiter.

Das Prinzip Puppenspieler ist das erwähnte Zuckerbrot und Peitsche – die transaktionale Führung.

Das Prinzip Hängematte folgt einem «Laisser-faire», das aber zu Frustration und Konflikten führe, weil bei gegenläufigen Interessen im Team niemand einschreite oder moderiere und die Mitarbeiter somit auf der Stelle träten. «Es ist eigentlich eine inhumane Art von Führung. Die Mitarbeiter werden nämlich nicht gesehen, und das ist so ziemlich das Schlimmste, was man Menschen antun kann», schreibt Jenewein.

Der Expeditions­leiter führt im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Druckmittel, dafür mit einer gemeinsamen Vision. Diese Person brauche Vertrauen und Respekt, vielleicht sogar die Bewunderung der ihm anvertrauten Leute. «Dafür muss die Führungs­person ihr Team kennen, die Stärken und Schwächen sowie die Leidenschaften und Ängste jedes Einzelnen.» Das ist die sogenannte transformationale Führung, die jeden Einzelnen und die ganze Gruppe auf ein höheres Niveau bringe.

Zwar sei gute Führung eine Mischform dieser drei Typen, folge jedoch am ehesten dem Prinzip Expeditions­leiter, schreibt Jenewein.

Mit guter Führung allein lässt sich der Fachkräfte­mangel zwar nicht aus der Welt schaffen. Aber Unternehmen könnten viel gegen den Fachkräfte­mangel tun, heisst es etwa in der Studie zu den Ingenieurinnen in der Schweiz, «indem sie verstärkt in ihre Mitarbeiter investieren». In ihre Gesundheit, ihre Motivation und ihre Entwicklungs­möglichkeit. Und das fängt bei den Führungs­kräften an.

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