Wo aus dem Horror­film eine Liebes­geschichte wird: Der Kultur­palast von Warschau.

Drei Haselnüsse aus Polen

In einem Warschauer Kino schauen Polinnen zu, wie ihr Parlament acht Jahre illiberale Herrschaft beendet. Ein Besuch im schönsten Weihnachts­film des Jahres.

Von Angelika Hardegger (Text) und Jędrzej Nowicki (Bilder), 22.12.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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An der Kino­kasse läuft ein Weihnachts­lied, und auch sonst ist alles warm. Das Gold der Schnörkel­schrift an den Wänden. Der Geruch der Weihnachts­tanne im Foyer. Das Leuchten der Lampen. Die dunklen Teppiche, die in den Kino­saal führen. Die samtenen Sessel. Der Film.

Die Vorschau ist schlicht. Vier Buchstaben nur auf der Leinwand: «Sejm». So heisst das Unterhaus im polnischen Parlament. Der Film ist ein Livestream aus dem Sejm, und alle sind bereit, sich darin einzukuscheln. Es ist Mittwoch, der 13. Dezember, neun Uhr morgens. Es riecht nach Popcorn und Happy End.

Es ist, als habe Polen eine Kerze angezündet in einer Welt, die sich verdunkelt.

Acht Jahre lang arbeitete die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) darauf hin, Polen in die Autokratie zu führen. Sie baute die öffentlich-rechtlichen Medien in Propaganda­sender um. Sie stellte die Gerichte unter ihre Kontrolle. Installierte Partei­leute an Hochschulen, in Theatern oder staatlichen Firmen. Sie machte aus Polen eine illiberale Demokratie. Doch am 15. Oktober dieses Jahres kehrte Polen zurück.

Bei den Parlaments­wahlen wählten die Bürger die Opposition in eine Mehrheit der Sitze. Die autoritäre PiS blieb zwar grösste Partei im Land. Eine renommierte amerikanische Polen-Kennerin verglich die Wahl mit jener von 1989, der ersten freien nach dem Sturz des Kommunismus. Polen beweise, dass autokratischer Populismus besiegt werden könne, schrieb sie. «Weder der Aufstieg der Autokratie noch der Niedergang der Demokratie sind unvermeidlich.»

Im Dezember stand der Macht­wechsel bevor. Ein altes Kino im Warschauer Kultur­palast, die Kinoteka, beschloss, den parlamentarischen Prozess drei Tage lang ins Kino zu übertragen. Es wurde der schönste Weihnachts­film, den man sehen konnte im Dezember. Ein Märchen, das wahr wurde. Und es begann mit einem Witz.

«Was willst du machen in dunklen Zeiten?»

Michał Marszał fingert nervös am Smartphone herum. Eigentlich ist er sehr in Eile. Marszał verdient sein Geld mit Witzen im Internet, und «Witze im Internet», sagt er, seien ein guter Job. «Aber du musst sie permanent machen. Den ganzen Tag hindurch. Selbst in der Nacht.»

Marszał ist Chef­redaktor einer linken Satirezeitung in Warschau. In dieser Funktion produziert er hauptsächlich Memes. Auf X (vormals Twitter) verfolgen 400’000 Leute, wie Marszał sich mit Bild­witzen lustig macht über die polnische Politik. Auf Instagram sind es bald ähnlich viele. Als im Dezember immer mehr Menschen anfingen, die Sitzungen des polnischen Parlaments wie TV zu schauen, schrieb Marszał auf Instagram: Warum nicht ins Kino damit?

«Es war ein blöder Witz», sagt er. Als die Kinoteka die Idee aufgriff, fürchtete Marszał bis zuletzt, er könnte aus Versehen in einen Horror­film geladen haben.

Marszał hat die Politik der PiS über Jahre verfolgt. Er traute ihr zu, sie könnte versuchen, mit «irgend­einem Trick» an der Macht zu bleiben.

Die PiS kam im Jahr 2015 demokratisch in die Regierung. Ihr Programm ist nationalistisch und konservativ. Aber jene Wahlen gewann die PiS mit sozialen Reformen. Die Partei führte ein grosszügiges Kinder­geld für Familien ein. Das Renten­alter, das die liberale Vorgänger­regierung auf 67 Jahre anheben wollte, senkte die PiS auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer. Die Partei zog das ländliche Polen an. Menschen in Dörfern und Klein­städten, die sich von Warschau vergessen fühlten. «Das war das Genie von Jarosław Kaczyński», sagt Michał Marszał. «Er hatte ein Gespür für die normalen Leute.»

Kaczyński, 74 Jahre alt, ist Gründer, Stratege und Präsident der PiS. Ein früherer Solidarność-Anhänger, der sich im Verlauf des politischen Lebens immer weiter nach rechts bewegte. Heute eifert Kaczyński offen Viktor Orbán nach. Wie Orbán in Ungarn stachelte er in Polen zum Kultur­kampf an. Am Vorabend der Wahlen von 2019 zeigte das staatlich kontrollierte Fernsehen einen «Dokumentar­film», der vorgab, eine «LGBT-Invasion» Polens (so lautete der Titel des Films) aufzudecken.

Michał Marszał wurde mit Witzen über Kaczyński und die PiS berühmt. «Was willst du machen in dunklen Zeiten?», fragt er. «Da bleibt dir nur der Humor.»

Zu Beginn der PiS-Herrschaft war Marszał ganz normaler Journalist gewesen. Er schrieb kritische Artikel und hoffte, sie würden die Dinge ändern. «Aber die Jungen erreichst du nicht mit Artikeln», sagt Marszał. «Die Jungen wollen Memes.» Er gab sie ihnen. Das war seine persönliche Form des Widerstands.

Die PiS versuchte, die polnischen Medien gleich­zuschalten. Sie setzte die Partei­inhalte in den öffentlich-rechtlichen Sendern durch. Doch viele private Medien überlebten die Angriffe der Partei. Auch die polnische Zivil­gesellschaft blieb wach.

Als die PiS vor drei Jahren ein faktisches Verbot von Schwangerschafts­abbrüchen durchsetzte – und auf autoritärem Weg, über das von ihr kontrollierte Verfassungs­gericht –, gingen Hundert­tausende auf die Strassen. «Das war der Kipp­punkt», sagt Marszał. Der grosse Fehler der PiS.

Anders als die politische Elite ist Polens Gesellschaft in den vergangenen Jahren liberaler geworden. Das Recht auf Schwangerschafts­abbruch ist in der Gesellschaft fest verankert. Nicht nur, aber besonders bei jungen Menschen und Frauen. Sie waren empört. Sie gingen am 15. Oktober wählen.

Sie waren es, die in die Warschauer Kinoteka kamen, um das Polen, das sie über die Wahlen herbei­geführt hatten, verwirklicht zu sehen.

Die Kinoteka im Kulturpalast hat Marszałs «blöden Witz» umgesetzt.
Michał Marszał: Früher Journalist, heute Witzeschreiber.
Es ist, als habe Polen eine Kerze angezündet in einer Welt, die sich verdunkelt.

Marszał verfolgte am Montag im Kino, wie das Unterhaus dem bisherigen Minister­präsidenten der PiS das Vertrauen verweigerte. Er filmte, wie die Leute aus ihren Sesseln aufsprangen, jubelten und klatschten. Im Parlament, auf der Gäste­tribüne, sass am Montag der berühmte Dissident Lech Wałęsa und kämpfte mit den Tränen.

«Stellt sich heraus, dass es kein Horror­film wurde, sondern eine langweilige, kitschige Liebes­geschichte», sagt Marszał.

Dann muss er weiter zum nächsten Witz. Beim staatlichen Propaganda­fernsehen fürchtet die Belegschaft um ihre Jobs. «Jetzt protestieren die dort für Medien­freiheit», lacht er. Vielleicht Marszałs nächster Hit.

Das Land und die Liebe

Der Kultur­palast von Warschau ist ein einschüchternder Bau. Ein Geschenk, mit dem Stalin von Warschaus Zentrum Besitz ergriff. Lange verhasst in der Stadt, Architektur gewordene Geschichte. So betrachtet ist der Kultur­palast ein angemessener Ort, um darin Zäsuren der Politik zu zeigen.

Wiola Wzorek wollte am Montag kommen und den Sturz der alten Regierung sehen. Doch alle Plätze waren innert Minuten reserviert. Fünfhundert Leute, zwei Kino­säle voll. Am Dienstag kamen um die hundert. Sie hörten Donald Tusk, dem neuen Minister­präsidenten Polens, bei der Regierungs­erklärung zu.

Tusk sagte in den Kinosaal, der 15. Oktober werde als «friedlicher Aufstand» in die Geschichte eingehen. Am Sakko trug er ein Herz, das Zeichen, das die Opposition im Wahlkampf verband. Er sprach im Parlament von Liebe.

Am Mittwoch­morgen wird das Kabinett von Tusk im Präsidenten­palast vereidigt. Im Kino schauen nur noch wenige Leute zu. Aber Wiola Wzorek sitzt in einem der vorderen Sessel und sagt, sie habe acht Jahre auf diesen Tag gewartet. «Das ist ein historischer Moment.»

Am Wahltag hatte Wzorek ihrem Kind gesagt, es gebe Hoffnung. Sie sagte: «Polen wird so sein, wie du es dir erträumt hast.»

Und weil Wzorek ihr 15-jähriges Kind zuvor durch halb Polen gefahren hatte, ihm die Berge gezeigt hatte und das Meer, weil sie gesagt hatte: «Schau nur, wie bunt Polen ist» – weil Wiola Wzorek also keinen Aufwand gescheut hatte, um ihrem Kind eine Liebe zu diesem Land zu vermitteln, trotz PiS, darum sagte sie dem Kind am Wahltag auch: «Hab ichs dir doch gesagt.»

Es war eine schwierige Zeit unter der PiS. Für beide.

Als die PiS die Regierung eroberte, kam Wzoreks Kind in die Schule. Sie durch­lebten, wie die Schule nationalistischer wurde und religiöser. Die PiS machte eine Bildungs­reform rückgängig. Sie führte alte Lehr­methoden nach sozialistischem Vorbild wieder ein. Die Lehrpläne entsprachen neu dem Weltbild der Partei. «Als ich zur Schule ging, begannen wir mit dem Geschichts­unterricht in der Antike», erzählt Wzorek. «Bei meinem Kind begann die Geschichte mit der Gründung des polnischen Staats.»

Blick auf Warschau aus dem Kulturpalast.

Die Schule sollte die Kinder auf ihre Rolle im nationalistisch-konservativen Polen vorbereiten. In Biologie kam die Evolution kaum mehr vor. «Der Biologie­lehrer holte uns Eltern in das Klassen­zimmer und sagte: ‹Wir können die Bücher der Regierung nicht verweigern›», erzählt Wzorek. Aber der Lehrer habe den Eltern auch gesagt: «Wenn Sie ein zusätzliches Buch kaufen wollen, empfehle ich Ihnen dieses oder jenes.»

Alle Eltern kauften das zusätzliche Buch. Acht Jahre PiS haben in Polen viele Menschen hervor­gebracht, die rebellierten.

Wzorek hat Hoffnung.

Sie hofft auf ein Land, in dem die Menschen sich wieder geborgen fühlen. Ein Land, «das wie eine gute Mutter ist», sagt Wzorek. «Eine Mutter, die den Kindern nicht befiehlt, was sie denken sollen und tun. Eine Mutter, die den Kindern Raum gibt, sich zu entfalten.»

Sie erhofft sich Freiheit. «Und zwar für alle Menschen», sagt sie. Für Alte und Junge, Frauen und Männer. Für ihr Kind, das sich zeitweise als «sie» definiert, dann als «er».

Das Kind entdeckte die Zweifel mit dem Geschlecht in einer Zeit, als der Präsident von Polen sagte, LGBTQIA+ sei «eine Ideologie» – vergleichbar mit der Gehirn­wäsche im Kommunismus. Wzoreks Kind erkrankte an Depressionen. «Es ist sehr schwer in einem Umfeld, das einen nicht versteht», sagt sie.

Sie hofft, das neue Polen werde eine Heimat für ihr Kind. Auch wenn sie weiss, dass die Rückkehr schwierig wird.

Polens Präsident Andrzej Duda, ein PiS-Mann, verfügt über Vetorechte. Er kann die Rückkehr in den Rechts­staat und die liberale Demokratie behindern. Die PiS hat sich zudem in wichtigen Institutionen des Staats festgesetzt. Partei­loyalisten besetzen hohe Positionen in Schulen, Medien, Gerichten. Wie die neue Regierung sich davon befreien kann, bleibt offen.

Dazu kommt: Der gemeinsame Nenner der neuen Koalition war und ist der Kampf gegen PiS. In wichtigen politischen Fragen, etwa dem Schwangerschafts­abbruch, gehen die Meinungen der drei Oppositions­parteien auseinander. «Die neue Regierung ist nicht die bestmögliche», sagt Wzorek. «Aber sie ist besser als PiS.»

Wiola Wzorek: «Polen wird so sein, wie du es dir erträumt hast.»
Alles ist warm: Das Leuchten der Lampen, die dunklen Teppiche, die samtenen Sessel, der Film.

Vielleicht auch darum ist Wzorek an diesem Mittwoch­morgen ins Kino gekommen. Der warme, dunkle Saal bietet Zuflucht vor dem Realismus, der draussen in Warschau Einzug hält.

Wzorek schaut in ihrem Sessel auf die Uhr. Zwanzig nach neun. Das Happy End verspätet sich.

Ein Angestellter des Kinos tritt vor die Leinwand und informiert, es gebe Probleme mit den Übertragungs­rechten. Weil die Vereidigung im Präsidenten­palast statt­findet, nicht im Unterhaus, dem Sejm. Der Angestellte führt die Gäste in die Kino-Cafeteria, vor einen riesigen Fernseher, aufgestellt in der Not.

Vor dem Fernseher hat das Kino Absperr­pfosten mit Kordeln aufgestellt, die man aus Museen kennt. Wie um zu zeigen, dass trotz der Umstände kostbar sei, was hier folgt.

Es folgt eine Schalte in den Präsidenten­palast. Dort steht die Regierung, die vereidigt werden soll, aufgereiht auf einem Teppich. Im Hinter­grund ein prächtiger Weihnachts­baum.

Ein künftiger Minister tritt aus der Reihe vor. Schüttelt dem Präsidenten die Hand. Sagt Sätze in ein Mikrofon, die niemand verstehen kann, weil am Tresen die Kaffee­maschine mahlt. Der Politiker setzt sich an ein Pult, setzt eine Unterschrift in eine Mappe. Daraufhin tritt er zurück in die Reihe, nun als Regierungs­mitglied. Und das Schauspiel beginnt von vorn.

Nach einer Stunde hat Polen eine neue Regierung. In der Cafeteria packen die Zuschauerinnen zusammen. Auch Wzorek muss los.

Sie schlüpft in einen Winter­mantel, legt sich einen Schal um den Hals, setzt eine Mütze auf. Draussen geht ein zügiger Wind, in Warschau und in der Welt. Aber so dick eingepackt sieht Wzorek aus, als könnte sie die Wärme des Aufbruchs noch eine Weile behalten.

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