Alinari Archives, Florence/Bridgeman Images

Was heisst in diesen Zeiten feministische Solidarität?

Die Hamas hat am 7. Oktober systematisch sexualisierte Gewalt ausgeübt. Viele feministische Organisationen haben zu lange dazu geschwiegen. Doch auch in der Debatte darüber läuft vieles falsch. Ein persönlicher Essay.

Von Franziska Schutzbach, 16.12.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 25:55

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Selten ist es mir so schwergefallen, einen Text zu beginnen. Seit Wochen sind wir konfrontiert mit Bildern unfassbarer Gewalt an Menschen. Die Terror­anschläge der Hamas am 7. Oktober, die entsetzlichen Zurichtungen der Opfer, die Geiselnahmen und die darauf­folgende israelische Reaktion, die Bombardierungen, die Tausenden Kriegstoten in Gaza, die katastrophale humanitäre Lage dort, die vielen Verletzten, flüchtende und hungernde Menschen, das Fortdauern des Krieges und unendliches Leid auf beiden Seiten.

In den letzten Tagen und Wochen wurde zunehmend auch das Ausmass der sexualisierten Gewalt vom 7. Oktober deutlich. Die Hamas-Terroristen haben Frauen vergewaltigt, Genitalien verstümmelt, weibliche Körper zur Schau gestellt. Indizien für sexualisierte Gewalt gab es bereits von Beginn an, Recherchen, Berichte und Interviews haben diese Gräueltaten in ihrer Systematik mittlerweile für alle sichtbar gemacht.

Ich will ehrlich sein: Trotz der Bilder und der Berichte übersteigt diese Gewalt und das damit verbundene Leiden oftmals meine Vorstellungs­kraft. Obwohl ich es, rein intellektuell und auch mit Blick auf die Geschichte, besser weiss, fühlt es sich an, als wäre solche Gewalt nicht Teil dieser Welt. Ob es sich um die Opfer des Hamas-Terrors oder die zivilen Opfer in Gaza handelt: Wir ringen um Worte, um Positionierungen, um Solidarität, um Forderungen. Mehr können wir von hier aus kaum tun. Und weil wir nichts wirklich tun können, zerfleischen wir uns darüber auch. Das Gefühl der Ohnmacht bewirkt, wie mir scheint, eine Art Ersatz­handlungs-Dogmatismus: Wenigstens wollen wir – und ich spreche hier explizit von nicht­betroffenen Menschen – angesichts des Unfassbaren recht haben mit unserer Einordnung und unseren Schluss­folgerungen, auch über die richtige oder falsche Art der Solidarität und die Frage nach dem angemessenen oder versäumten Zeitpunkt, das Geschehen explizit zu verurteilen.

Mir scheint, wir versuchen die Ohnmacht aufzulösen, indem wir uns auf eine bestimmte Position festlegen. In der Hoffnung, das unvorstellbar Entsetzliche so erträglicher zu machen. Dabei attackieren wir einander mit Vorwürfen. Und verursachen zuweilen genau das, was wir kritisieren: Sprachlosigkeit. Manche sprechen anstatt über die Gewalt nur noch über die «richtige» oder «falsche» Art der Positionierung. Fast scheint es, als ginge es ihnen mehr um sich selbst als um das Leid. Viele wiederum sind völlig verstummt. Die Situation führt zu Zerwürfnissen, zu Anfeindungen und weiterem Hass – den «Nahost­konflikt zweiter Ordnung» hat der Soziologe Peter Ullrich dies genannt.

Ich möchte versuchen, in diesem Text Worte zu finden. Ich konzentriere mich dabei auf die sexualisierte Gewalt der Hamas und die Frage nach feministischen Positionierungen dazu. Verschiedene Expertinnen haben bereits einiges gesagt zum Einsatz sexualisierter Gewalt im Krieg im Allgemeinen und durch die Hamas im Speziellen. Ich möchte darüber schreiben, wie feministische Solidarität angesichts dieser Gewalt möglich ist und sein muss, mit welchen Heraus­forderungen sie konfrontiert ist und wie wir mit diesen Heraus­forderungen umgehen.

Ich liefere keine abschliessenden Antworten, sondern Anregungen für weitere Gespräche. Meine Hoffnung und mein Wunsch sind, dazu beizutragen, dass wir die feministischen Möglichkeiten trotz allem nutzen. Und sie immer weiter ausbauen, verbessern, in gemeinsamen Gesprächen, und ja, manchmal auch im Streit.

Solidarität

Als Feministinnen gehört unsere Solidarität den Opfern dieser geschlechts­spezifischen Gewalt, die wir aufs Äusserste verurteilen müssen. Gewalt gegen Frauen ist ein Verstoss gegen die Menschen­rechte. Feminismus bedeutet, dazu nicht zu schweigen.

Gleichzeitig sind wir aufgrund der komplexen politischen Gemenge­lage aufgefordert, auch die Schwierigkeit von feministischer Solidarität und Positionierung zu thematisieren. Wie kann feministische Solidarität aussehen, wenn sowohl der Feminismus wie auch die Gewalt gegen Frauen im Krieg von verschiedenen Seiten instrumentalisiert werden? Was tun, wenn aufgrund der Gewalt gegen Frauen weitere schreckliche Gewalt legitimiert wird oder wenn mithilfe einer «feministischen» Argumentation, Frauen schützen zu wollen, Rassismus, Militarisierung und Autoritarismus voran­getrieben werden?

Es steht für mich ausser Frage, dass es eine globale feministische Solidarität mit den Opfern der geschlechts­spezifischen Gewalt der Terror­anschläge vom 7. Oktober und mit den Angehörigen und Familien braucht. Es ist aus meiner Sicht nötig – besonders aus einer inter­sektionalen feministischen Perspektive –, dass die geschlechts­spezifische Gewalt der Hamas-Terroristen als solche benannt und in ihrer Spezifik verurteilt wird. Die systematische Vergewaltigung von israelischen Frauen und Mädchen darf auf keinen Fall als Kollateral­schaden in einem palästinensischen «Freiheits­kampf» hingenommen werden. Es gibt für diesen Terror keinerlei Rechtfertigung, und Israel hat das Recht zur Selbst­verteidigung. Auch angesichts des grossen Leids und der wöchentlich ansteigenden Anzahl ziviler Opfer auf palästinensischer Seite kann die systematische sexualisierte Vorgehens­weise des Hamas-Terrorismus nicht einfach abgetan oder ignoriert werden. Man darf verschiedene Formen des Unrechts nicht gegeneinander aufrechnen und damit wechselseitig relativieren.

Vielmehr sollten wir versuchen, diese Gewalt genau zu analysieren. Aus meiner Sicht ist gerade der intersektionale Feminismus dazu hilfreich. Inter­sektionalität bedeutet, dass neben dem Geschlecht auch andere Faktoren von Gewalt und Diskriminierung berücksichtigt und zum Gegenstand von politischen Analysen und Auseinander­setzungen gemacht werden. In Bezug auf die Hamas-Gewalt würde das bedeuten, zu fragen, wie diese frauen­feindliche Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt wird, inwiefern diese Gewalt mit Antisemitismus, religiösem Fundamentalismus, Männlichkeit, geopolitischen Macht­strategien und/oder anderen Faktoren zusammenhängt.

Daneben betrachte ich es insgesamt als eine feministische Aufgabe, beim Thema Antisemitismus genauer zu analysieren und engagierter zu werden. Dazu gehört auch, selbstkritisch die eigenen anti­semitischen Prägungen und Haltungen zu reflektieren – genau so, wie wir es zum Beispiel in Bezug auf Rassismus oder in Bezug auf Ableismus, Queer­feindlichkeit, Klassismus und anderen Formen von Diskriminierung tun.

Antisemitismus ist tief in unserer Gesellschaft verankert, das gilt es, ernst zu nehmen und zu adressieren. Es gibt dazu bereits wichtige Voten, zum Beispiel das Buch «Gojnormativität» von Judith Coffey und Vivien Laumann, in dem die beiden Forscherinnen zeigen, dass Antisemitismus häufig eine Leerstelle in inter­sektionalen Debatten ist. Auch die verschiedenen Ausformungen von Antisemitismus müssen wir thematisieren. Antisemitismus zeigt sich als linker, rechter, israel­bezogener, muslimischer, christlicher Antisemitismus oder als Antisemitismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Wir können hier nicht weniger genau sein, als wir es in Bezug auf andere Formen von Ressentiments und Diskriminierung einfordern.

Gegen eine falsche Indienstnahme

Die derzeitige politische Gemenge­lage ist schwierig und komplex. In jedem Krieg werden Ereignisse, Informationen, Positionierungen, Solidarität und Debatten propagandistisch benutzt. Besonders in Bezug auf die Gewalt gegen Frauen und Kinder.

Wir wissen aus zahlreichen historischen Beispielen, dass Gewalt gegen Frauen oft auch als rassistisches Argument missbraucht wurde: Koloniale Eroberungen fanden auch unter dem Vorwand statt, schwarze Frauen von schwarzen Männern zu befreien (wie zahlreiche postkoloniale Forscher gezeigt haben). Der Feminismus wurde aber auch innerhalb westlicher Länder für rassistische Vorhaben instrumentalisiert: Wie Angela Davis untersuchte, wurden bis in die 1940er-Jahre Lynchmorde an afro­amerikanischen Männern mit dem Argument verübt, weisse Amerikanerinnen vor sexualisierter Gewalt zu schützen. In der heutigen Zeit argumentieren viele rechtsextreme Parteien mit pseudo­feministischem Anschein, wenn sie versprechen, sie würden die Grenzen schliessen oder Migranten ausschaffen, um hiesige Frauen zu schützen. (Einen wichtigen Text zur rassistischen Indienstnahme des Feminismus und darüber, was wir dagegen tun können, hat unter anderen Ina Kerner geschrieben.)

Israelische Feministinnen forderten in den letzten Tagen, dass die sexualisierte Gewalt der Hamas thematisiert werden müsste und es dringend feministische Solidarität brauche. Einige dieser Stimmen benannten dabei auch das Problem, dass Gewalt gegen Frauen mitunter auch als Rechtfertigung für ein bestimmtes Handeln dient. Sie forderten deshalb, dass die sexualisierte Gewalt keine Legitimation oder Plattform für weitere Kriegsgewalt in Gaza sein könne. Wie die israelische feministische Theoretikerin und Friedens­forscherin Hagar Kotef in einem nicht öffentlichen Beitrag auf Social Media schreibt: «Unser Schmerz [über die Vergewaltigungen] wird nicht durch weitere Katastrophen, die wir jetzt verursachen, behoben werden. Die Lösung für unser Leid – die eigentliche Möglichkeit unserer Zukunft – kann nicht dadurch erreicht werden, dass wir so viel, so viel Zerstörung und Leid verursachen.» Sie forderte rechte israelische Politiker wie Gilad Erdan dazu auf, die vergewaltigten Körper israelischer Frauen nicht für noch mehr Gewalt in Gaza zu instrumentalisieren.

Aus meiner Sicht können wir viel lernen von solchen feministischen Stimmen, die in der gegenwärtigen Lage diesen Balanceakt versuchen: Sie benennen und verurteilen die Gewalt der Hamas gegen Frauen unmissverständlich. Zudem verwehren sie sich dagegen, dass diese Gewalt für die Legitimierung weiterer Gewalt gegen Zivilistinnen genutzt wird. Diese wiederum hat auch geschlechts­spezifische Auswirkungen, weil etwa Frauen und Kinder im Krieg zu den besonders vulnerablen Gruppen gehören. Auch einige linke französische Feministinnen haben diese Aspekte in einem Schreiben zusammengedacht.

Bei der Frage, wie feministische Solidarität angesichts der sexualisierten Gewalt der Hamas aussehen kann, ist Solidarität mit den Opfern natürlich der erste und wichtigste Schritt. Angesichts der Gefahr, dass diese Gewalt instrumentalisiert werden kann, ist es aus meiner Sicht zusätzlich wichtig – man mag da unterschiedlicher Meinung sein –, dass feministische Positionierungen auch an Stimmen aus der (feministischen) Friedens­bewegung anschliessen. So können wir uns dafür aussprechen, dass das Trauma der israelischen Frauen nicht ausgenutzt werden darf, die Missachtung von internationalem Kriegsrecht und von Menschen­rechten zu legitimieren. Dabei muss man friedenspolitische Forderungen selbstverständlich auch an die palästinensische Seite richten, wie Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss jüngst betonte.

Die Debatten in Europa

Die sexualisierte Gewalt der Hamas kann nicht nur im Krieg selbst, sondern auch hier in Europa von verschiedenen Akteuren für die eigene Agenda benutzt werden. So werden etwa antisemitische Verschwörungs­erzählungen konstruiert (dass es gar keine Hamas-Terroristen waren, sondern Israel oder die USA dahintersteckten). Die Indienstnahme der Hamas-Gewalt für antisemitische Äusserungen, aber auch die Zunahme direkter Angriffe gegen jüdische Menschen und Institutionen in Europa ist alarmierend und muss auch von feministischer Seite thematisiert und verurteilt werden.

Gleichzeitig wird geschlechts­spezifische Gewalt instrumentalisiert, um antimuslimischen Rassismus zu schüren und die Migrations­gesellschaft zu diskreditieren. Der Aufruf, sich mit den israelischen Vergewaltigungs­opfern zu solidarisieren, kommt teilweise auch aus Kreisen, die Gewalt gegen Frauen vor allem dann anprangern, wenn diese mit dem Islam oder mit Menschen in Verbindung gebracht werden kann, die nach Europa eingewandert sind. Dieselben Leute, die in solchen Situationen vermeintlich für Frauenrechte eintreten, bleiben aber häufig untätig, wenn es um die geschlechter­spezifische Gewalt im Allgemeinen geht, oder stellen sich sogar oft quer, wenn es etwas um die Finanzierung von Gewalt­prävention geht.

Wir sind solchen rassistischen Instrumentalisierungen allerdings nicht hilflos ausgeliefert. Wir können unsere feministische Solidarität mit den Opfern der sexualisierten Hamas-Gewalt und die Kritik an islamistischer Misogynie verbinden mit einer klaren Positionierung gegen antimuslimischen Rassismus. Wir können uns mit Opfern von spezifisch islamistischer Gewalt solidarisieren und uns gleichzeitig gegen antimuslimischen Rassismus stellen. Wir können Antisemitismus und Islamismus verurteilen und uns mit feministischen antirassistischen Kämpfen solidarisieren und eine plurale Gesellschaft verteidigen.

Anders ausgedrückt: Wir sollten das Problem, dass Feminismus und Gewalt gegen israelische Frauen für eine rechte und rassistische Politik in Europa instrumentalisiert werden, sehr ernst nehmen. Aber diese Indienstnahme darf kein Argument sein, zur sexualisierten Gewalt gegen Frauen in Israel oder anderswo in Schweigen zu verfallen – oder diese Gewalt gar zu relativieren. Schweigen ist keine gute Entscheidung, auch dann nicht, wenn das Sprechen mit Risiken einhergeht – zumal auch das Schweigen instrumentalisiert werden kann und wird.

Um es mit der pakistanisch-amerikanischen Theoretikerin und Feministin Sadia Abbas noch etwas differenzierter (und eben deshalb nicht nur in einem Satz) zu sagen: Die rassistische Indienstnahme feministischer Anliegen gilt es, zu kritisieren, sie ist ein Problem. Ebenfalls ein Problem ist, dass feministische Kritik von westlichen Menschen an «anderen Kulturen» oft bevormundend daherkommt und rassistische Hierarchien und Vorstellungen, etwa vom aufgeklärten Westen und den unzivilisierten anderen, reproduziert. Es wird also oft so getan, als wäre patriarchale Gewalt nicht ein Problem aller Gesellschaften, Kulturen und Milieus, sondern nur von manchen. All das wiederum heisst aber nicht, dass nicht tatsächlich Frauen­unterdrückung und Gewalt auch von muslimischen Männern, von religiösen Minderheiten in westlichen Ländern oder durch religiös-fundamentalistische Strukturen in verschiedenen Weltregionen gegen Frauen ausgehen. Feministische Kritik und Solidarität kann vor dieser Feststellung nicht haltmachen. Sie zu formulieren, erfordert aber Sensibilität und ein Bewusstsein für die komplexe Problemlage öffentlicher Debatten.

Eine feministische Positionierung sollte patriarchale Gewalt nie nur bei anderen verorten; und sie sollte weder Kultur noch Religion essenzialisieren. Zwar können, wie überall auf der Welt, Religionen und besonders religiöser Fundamentalismus ein Nährboden für Frauen­unterdrückung sein. Aber weder Religion noch andere Faktoren sind pauschal die Ursache dafür. Frauen­unterdrückung ist in jedem Kontext komplex, und nicht selten hängt sie auch mit der Kolonial­geschichte zusammen, etwa mit dem Import bestimmter christlicher oder anderer Geschlechter­ideologien durch den Westen.

Kritik am Feminismus

Ich komme zu einem letzten Punkt: In den letzten Tagen wurde von unterschiedlichen Seiten die Kritik laut, dass Frauen­organisationen und Feministinnen nicht schnell genug auf die sexualisierte Gewalt der Hamas reagiert hätten. Diese Kritik hat ihre Berechtigung.

Es gibt sicher Gründe, warum sich eine Organisation wie UN Women bei einer zunächst noch ungesicherten Fakten­lage zuerst nicht oder nur zögerlich positionierte (inzwischen hat sie es getan, nachdem die Faktenlage auch aus unabhängigen Quellen bestätigt worden ist). Trotzdem kann man diese Organisationen dafür kritisieren, dass sie zu spät dran waren. Man kann ausserdem kritisieren, dass es bei anderen Gewalt­ereignissen aus feministischen Organisationen und Gruppierungen einen schnelleren Aufschrei gab. Diese Kritik sollten wir uns zu Herzen nehmen, zumal sie eben nicht nur von rechten Hardlinern kommt, sondern auch von israelischen und anderen Frauen. Ihr Gefühl, allein gelassen worden zu sein, gilt es, ernst zu nehmen. Wir müssen auch hinsichtlich unserer Solidarität stetig dazulernen.

Viele der derzeitigen Anschuldigungen gegen den Feminismus verirren sich allerdings, wenn sie den gesamten Schwerpunkt ihrer Empörung auf die Kritik an den Feministinnen richten. Diese Form der pauschalen Anschuldigung wird den gewalt­betroffenen israelischen Frauen nicht nützen. Vielmehr wird die pauschale Aburteilung des Feminismus (besonders des linken, postkolonialen, inter­sektionalen Feminismus) vor allem eines bewirken: dass die Gesellschaft weiter nach rechts driftet. Und das wird keine gute Ausgangslage sein. Für keine Art von Feminismus. Die Angriffe kommen häufig von Akteurinnen, die mit ihren Voten oder mit ihrer Politik seit Jahren dafür sorgen, dass wir es in zahlreichen Ländern mit einer zunehmend rechts­autoritären Stimmung und Politik zu tun haben. Die Konstruktion antifeministischer (oder antiwoker) Feindbilder hat an vielen Orten der Welt erfolgreich dazu geführt, dass rechts­extreme und rechts­konservative politische Kräfte gewählt und in Regierungs­verantwortung gebracht wurden. Auf diese Weise verbessert sich weder feministische Solidarität, noch können feministische Anliegen vorangebracht werden, im Gegenteil: Beides wird um Jahrzehnte zurückgeworfen.

Wichtig scheint mir im Kontext der Hamas-Gewalt: Antifeministische Anschuldigungen führen dazu, dass wir am Ende nicht mehr über männliche Gewalt und ihre vielfältigen Ursachen sprechen, sondern nur noch darüber, was Feministinnen alles falsch machen. Um jedes Missverständnis auszuschliessen: Selbstverständlich machen auch Feministinnen Fehler. Aber das kann nicht der Kern einer Debatte zu Gewalt an Frauen sein.

Wenn mithilfe von Pauschalisierungen das Bild von einem orchestrierten, fehlgeleiteten «inter­sektionalen» oder «linken» Feminismus konstruiert wird, dann vollzieht sich eine Verkehrung der Debatte: Als das eigentliche Problem erscheint nicht die Gewalt selbst, sondern das Handeln oder Nichthandeln feministischer Kreise. Der Feminismus wird zum eigentlichen Täter, am Ende steht nicht Männer­gewalt, sondern das Fehlverhalten von Frauen im Zentrum – anders jedenfalls kann ich mir nicht erklären, warum die Kritikerinnen nicht auch Männer oder Männer­organisationen in die Pflicht nehmen, sich zu äussern und sich zur sexualisierten Hamas-Gewalt von Männern zu verhalten.

Noch einmal: Die Kritik an der mangelnden Solidarität für die Opfer der sexualisierten Gewalt vom 7. Oktober ist berechtigt. Die kritischen Stimmen von feministischen Jüdinnen und israelischen Fachleuten müssen endlich gehört werden. Es ist grausam für Opfer, wenn Gewalt­taten nicht thematisiert werden, wenn ihnen gar vermittelt wird, man spreche nicht über die Täter und ihre Taten aus Angst vor einer Instrumentalisierung des Gesagten.

Wir sollten nicht den gleichen Fehler machen wie manche antifeministischen Kommentatoren und, anstatt über die Gewalt selbst zu reden, nur über diskursive Versäumnisse sprechen.

Es fällt mir auch am Ende dieses Textes schwer, die richtigen Worte zu finden.

Trotzdem möchte ich zum Schluss eine vorläufige persönliche Bilanz versuchen: Wir müssen die Kritik an der mangelnden feministischen Solidarität annehmen. Das bedeutet aber nicht, dass wir den MeToo-Feminismus oder inter­sektionale feministische Perspektiven über Bord werfen, wie es in Teilen der Öffentlichkeit jetzt gefordert wird. Das wäre eine reaktionäre Schluss­folgerung. Wir müssen die Werte und Analyse­instrumente eines inter­sektionalen Feminismus im Gegenteil noch ernster nehmen, noch konsequenter umsetzen, präziser darin werden – und ja, auch selbstkritischer. Nur wenn wir die der Inter­sektionalität inhärente Aufforderung, die eigenen Perspektiven stets selbstkritisch zu prüfen, umsetzen, kann der inter­sektional gedachte Feminismus glaubwürdig bleiben und seine wichtige Gesellschafts­kritik weiterhin entfalten.

PS: Dieser Text wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung und das kritische Mitdenken von zahlreichen Menschen. Ich möchte allen von Herzen danken.

Zur Autorin

Franziska Schutzbach ist Soziologin, Geschlechter­forscherin und Autorin. Ihre Forschungs- und Themen­schwerpunkte sind: Geschlechter­verhältnisse, reproduktive Gesundheit und Biopolitik, rechts­populistische Kommunikations­strategien, Antifeminismus und Maskulismus. Zuletzt erschien von ihr «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit».

Die Aussagen von Sadia Abbas stammen aus ihrem Buch «At Freedom’s Limit. Islam and the Postcolonial Predicament». Fordham University Press, New York 2014.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!