Challenge Accepted

Wie viel Unbehagen ist die ganze Welt wert?

Mit Gleich­gesinnten allein lässt sich die Welt nicht verändern. Eine Anleitung zum Allianzen­schmieden.

Von Kelly Hayes, Mariame Kaba (Text) und David Bauer (Übersetzung), 05.12.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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Die ganze Welt – als Metall­kugel in Tamera, Portugal. Anne Gabriel-Jürgens

Erfolgreicher Aktivismus besteht nicht darin, möglichst viele Gleichgesinnte zu finden. Es ist nun mal so, dass die meisten Leute andere politische Ansichten haben als wir. Und dass auch jene, mit denen wir in vielem über­einstimmen, in anderen Punkten wiederum stark von uns abweichen. Wer eine vielfältige, generationen­übergreifende Bewegung aufbauen will, muss mit Konflikten und Unbehagen klarkommen. Wer sich nach kuscheliger Überein­stimmung sehnt, wird keine schlag­kräftige Bewegung formen.

Jene Kräfte, gegen die wir uns als Aktivistinnen auflehnen, mögen sich bisweilen bekämpfen oder gar bekriegen. Aber wenn es darum geht, die kapitalistische Ordnung und bestehende Macht­strukturen aufrecht­zuerhalten, spannen sie zusammen, um ihre Interessen durch­zusetzen. Marginalisierte Gruppierungen hingegen tolerieren oft wenig ideologische Abweichung. Diese Haltung verschafft den Mächtigen einen Vorteil, der nicht leicht zu überwinden ist.

Zu diesem Text

Das Buch «Let This Radicalize You. Organizing and the Revolution of Reciprocal Care» der beiden amerikanischen Bürgerrechts­aktivistinnen Kelly Hayes und Mariame Kaba ist gewisser­massen eine Anleitung dazu, breit abgestützte Bewegungen aufzubauen und zum Erfolg zu führen. Sie beziehen sich dabei nicht primär auf Klima­aktivismus, aber was sie über Aktivismus «in Zeiten von Instabilität und Katastrophen» schreiben, trifft sehr genau darauf zu. Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch. Eine etwas längere Fassung des Texts ist am 6. September 2023 unter dem Titel «How Much Discomfort Is the Whole World Worth?» bei «Boston Review» erschienen.

Die Sache ist die: Wir brauchen mehr Menschen.

Aber die finden wir nicht, indem wir uns auf die Suche machen nach Gleich­gesinnten, nach Menschen mit perfekt zu uns passenden politischen Ansichten, mit denen wir uns sofort verstehen werden.

Nein, wenn wir so viele Menschen mobilisieren wollen, wie die Heraus­forderungen unserer Zeit es nötig machen, dann müssen wir ein breites Spektrum von Menschen finden, mit denen wir sonst nicht in Berührung kommen würden. Und mit ihnen zusammen eine Grundlage aufbauen, um gemeinsam für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.

Klar, wir können Erwartungen formulieren und Regeln für einen respekt­vollen Umgang miteinander aufstellen. Aber das ändert nichts daran, dass wir Reibung und Konflikte aushalten müssen.

Wenn wir eine echte Bewegung aufbauen wollen, dann müssen wir uns auch auf Menschen einlassen, die uns nicht nahestehen. Die wir vielleicht nicht einmal mögen.

Wir müssen uns über die Grenzen unserer Komfort­zone hinaus zusammen­schliessen. Sonst werden die zerstörerischen Kräfte, gegen die wir ankämpfen, immer stärker bleiben.

Einige Gruppierungen haben aus der Not heraus gelernt, mit Unterschieden und Feind­seligkeiten umzugehen. Inhaftierte etwa, die sich in Gefängnissen organisieren, lernen Rivalitäten und persönliche Differenzen beiseite­zuschieben. Weil sie die Notwendigkeit erkennen, mit denen gemeinsame Sache zu machen, die nun mal dort sind.

Die Aktivistin und Polit­strategin Ejeris Dixon brachte es mal so auf den Punkt:

«Wer erfolgreich mobilisieren will, sollte in der Lage sein, mit Menschen zusammen­zuarbeiten, die er sich nicht selbst ausgesucht hat. Einschliesslich Menschen, die er nicht mag. (…) Wenn eine Menschen­gruppe von der Polizei angegriffen wird, dann gibt es nur noch zwei Seiten: die bewaffnete Polizei und alle anderen. Dann müssen wir uns nicht damit aufhalten, was uns unterscheidet. Dann müssen wir zusammen­stehen und uns gegenseitig beschützen.»

Das ist alles andere als einfach. Die bestehenden Macht­strukturen haben viele Keile zwischen unsere Gemeinschaften getrieben. Aber wer in diesem historischen Moment davor zurückschreckt, Brücken zu bauen, entzieht sich der Verantwortung. Die ganze Welt steht auf dem Spiel. Wir können es uns nicht leisten, uns wegzuducken.

Das soll nicht heissen, dass wir uns nie mehr zurück­ziehen dürfen. Wir alle brauchen Räume, wo wir uns komplett innerhalb unserer Komfort­zone bewegen können. Wir brauchen Menschen, von denen wir uns voll und ganz gesehen und gehört fühlen und mit deren Werten wir uns zutiefst verbunden fühlen.

In einer Welt voller Gewalt und Unter­drückung haben wir alle ein Recht auf ein gewisses Mass an Zuflucht.

Aber breitere Bewegungen sind Kämpfe, keine Zufluchts­orte. Sie sind voller Wider­sprüche und Heraus­forderungen, die uns im ersten Moment überfordern mögen.

Die Frage ist also: Wie viel Reibung halten Sie aus? Wie viel Empathie können Sie Menschen entgegen­bringen, die Ihre Identität oder Ihre Erfahrungen nicht vollends verstehen? Wie viel Unbehagen sind Sie bereit in Kauf zu nehmen?

Wenn wir uns dem verschliessen, bleibt unsere politische Reichweite arg begrenzt.

Man stimmt niemanden um, indem man ihr eine Liste von politischen Ansichten in die Hand drückt und sagt: «Deine Ansichten sind falsch, nimm stattdessen die hier.» Wenn wir wollen, dass sich Menschen uns anschliessen, müssen wir sie an die Hand nehmen. Und unsere eigenen Positionen nicht als unverrückbar ansehen. Auch wir werden uns weiter verändern.

Entscheidend ist dabei die Fähigkeit, zuzuhören.

Wenn Menschen sich für Aktivismus entscheiden, treiben sie oft Fragen um wie «Wie weit bin ich bereit zu gehen?». Viel wichtiger wäre zu fragen: «Bin ich bereit zuzuhören, auch wenn es schwerfällt?»

Ruth Wilson Gilmore ist Wissen­schaftlerin und Aktivistin. Zuhören hat sie bei den Anonymen Alkoholikern gelernt. «Reinreden ist dort strikt verboten. Es war das Beste, was mir passieren konnte: dass ich niemandem ins Wort fallen konnte. Ich musste zuhören. Ich musste lernen, einfach nur zuzuhören.»

Der Drang, sich einzumischen oder zu wider­sprechen, war bei Gilmore tief verwurzelt. «Ich war schon immer ein Nerd und eine Besser­wisserin», erzählt sie. «Ich will alles wissen. Ich will aber auch, dass alle wissen, dass ich schon alles weiss.»

Zu Beginn fiel es ihr schwer, nur zuzuhören; es fühlte sich einfach nicht besonders produktiv an. «Ich sass in diesen Meetings und hörte anderen Menschen beim Reden zu, ich lauschte und lauschte und dachte mir: Was soll das? Ich war nicht da, um zuzuhören. Ich hatte ein anderes Ziel: Ich wollte trocken bleiben.»

Erst mit der Zeit verstand Gilmore, wie entscheidend das Zuhören für den Erfolg der Gruppe war. Sie lernte das Zuhören zu schätzen – selbst dann, wenn ihr nicht gefiel, was gesagt wurde. «Ich regte mich fürchterlich auf über diesen einen sexistischen Typen, der abschätzig über seine Frau und andere Frauen sprach. Aber ich lernte, einfach dazusitzen, zuzuhören und mein Ziel im Blick zu behalten. Und ich verstand, dass ich nur trocken bleiben kann, wenn wir alle trocken bleiben.» Und dafür musste sie die anderen ernst nehmen, ihnen zuhören.

Es bringt uns selbst und unsere Anliegen weiter, wenn wir uns aktiv auf andere einlassen. Wir leben in einer Gesellschaft, die dieser Fähigkeit oft wenig Bedeutung zumisst – umso wichtiger ist es, dass wir sie selber kultivieren.

«Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie stehen», heisst es so schön. Aber wie will man jemanden dort abholen, wo er steht, wenn man nicht weiss, wo er steht? Das weiss man erst, wenn man ihm oder ihr richtig zugehört hat, die Gelegenheit gegeben hat, sich zu erklären.

Was treibt dich um? Woher stammen deine Überzeugungen? Was beeinflusst dich, was stärkt deine Entschlossenheit? Was bräuchte es, damit du dich unserer Bewegung anschliesst?

Beziehungen entstehen nicht durch Vermutungen oder Vorurteile. Wir müssen verstehen, dass jeder Mensch seine eigenen Erfahrungen und Traumata mitbringt, dass jeder auf seine Weise mit sich ringt, jeder von eigenen Ideen angetrieben ist – und dass all dies mitspielt, wenn er sich überlegt, ob er zu unserer Bewegung passt.

Wir sollten nie vergessen: Viele von uns sind nur darum heute in politischen Bewegungen aktiv, weil jemand sich die Zeit genommen hat, uns aufzunehmen.

Selbst wenn wir Mühe haben, gegenseitigen Respekt zu entwickeln; selbst wenn wir uns nicht vollständig verstehen; selbst wenn wir die Menschen, mit denen wir zusammen­spannen, nicht mögen, können wir dennoch gemeinsam mit ihnen Grosses schaffen.

Vermutlich bleibt uns gar nichts anderes übrig. Schliesslich steht die ganze Welt auf dem Spiel. Und wir müssen uns fragen: Wie viel Unbehagen ist uns die ganze Welt wert?