Der erste US-Präsident mit einem Polizeibild: Eine Bearbeitung von Trumps «mug shot». Mark Peterson/Redux/laif

«Der zweite Versuch der Macht­ergreifung ist gefährlicher»

Donald Trump hat gute Chancen, im nächsten Jahr noch einmal US-Präsident zu werden. Was würde das für die amerikanische Demokratie bedeuten? Ein Gespräch mit dem Harvard-Politologen Daniel Ziblatt.

Von Daniel Binswanger und Elia Blülle, 30.11.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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In einem Jahr sind amerikanische Präsidentschafts­wahlen, und Donald Trump liegt gemäss jüngsten Umfragen in entscheidenden Bundes­staaten vorn. Wie ist das überhaupt möglich?
Bei den Umfragen ist vorderhand grosse Vorsicht geboten. Die Zahlen zeigen aber: Donald Trump hat reelle Chancen, zu gewinnen. Das ist besorgnis­erregend. Wenn Trump der Präsidentschafts­kandidat der Republikaner wird, haben wir es mit einem Kandidaten zu tun, der versucht hat, die geordnete Macht­übergabe zu untergraben. Er ist eine ernste Bedrohung.

Ist Trump wirklich eine Gefahr für die Demokratie? Wir hören das schon so lange: Es ist eine fast obligatorische, floskel­hafte Beschwörung geworden.
Lassen Sie es mich genauer begründen. Ab wann ist jemand eine ernsthafte Bedrohung für die Demokratie? Es gibt eine Reihe von Kriterien: Wir sollten uns dann Sorgen machen, wenn ein Politiker die demokratischen Spielregeln ablehnt, seinen Gegnern die Legitimität abspricht, die bürgerlichen Freiheiten seiner Opponenten beschneiden möchte, Gewalt toleriert oder dazu aufruft. Donald Trump erfüllt diese Kriterien, und zwar alle gleichzeitig. In seiner ersten Amtszeit hatte er jedoch nur wenig Ahnung, wie er seine Macht einsetzen soll. Er war inkompetent, blieb auf etabliertes Personal angewiesen, das ihm half, das Land zu regieren. Mit der Zeit begann er diesen Leuten zu misstrauen. Er drängte sie an den Rand und brachte seine loyalen Anhänger in die Regierung. Das ist typisch für populistische Demagogen. In eine zweite Amtszeit würde Trump mit viel mehr Erfahrung starten, und er könnte von Anfang an seine eigenen Leute auf Schlüssel­positionen setzen.

Die zweite Trump-Präsidentschaft würde also schlimmer ausfallen als die erste?
Viel schlimmer. Denken Sie an Viktor Orbán, der Ende der 1990er-Jahre in Ungarn zum Premier­minister gewählt, später aber wieder abgewählt wurde und in der Folge entschied, alles zu tun, um nie wieder eine Niederlage zu erleiden. Er kam für eine zweite Amtszeit zurück und war nun viel besser gerüstet. Heute hat er das Land unter seine autoritäre Kontrolle gebracht. Es gilt allgemein die Regel: Der zweite Versuch der Macht­ergreifung ist in vielerlei Hinsicht gefährlicher.

Sie glauben, Trump würde in einer zweiten Amtszeit versuchen, sich seine Macht längerfristig zu sichern.
Um länger als acht Jahre Präsident zu bleiben, müsste er die Verfassung ändern. Das ist sehr schwierig in den USA. Aber selbst vier weitere Jahre würden genügen, damit Trump seine Macht stark ausbauen und missbrauchen könnte. Er hat bereits angekündigt, dass er das Justiz­system nutzen will, um gegen seine politischen Gegner vorzugehen. Das sage nicht ich, das sagt er selbst. Gleichzeitig spricht er offen über seine Pläne für die Migrations­politik. Er will eine Behörde einrichten, die illegale Einwanderer aufsucht und sie ohne ein ordentliches Verfahren abschiebt. Autokraten versuchen immer, die Justiz, die Schiedsrichter des Staates, zurück­zubinden – oder für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Aber haben Sie kein Vertrauen in die Resilienz der US-Demokratie?
Ich befürchte, dass die USA bei einer erneuten Wahl von Trump ein hohes Mass an Instabilität, Protest, Gewalt und Dysfunktionalität erleben werden. Aber ich glaube nicht, dass Trump in der Lage wäre, ein Regime im Stil von Wladimir Putin oder wie Viktor Orbán einen Einparteien­staat zu etablieren. Anders als in Ungarn oder Russland gibt es in den USA eine starke und gut finanzierte politische Opposition gegen Trump. Mindestens die Hälfte der Amerikaner unterstützt ihn nicht. Und es gibt diverse Bundes­staaten wie etwa New York oder Kalifornien, die ein Gegen­gewicht bilden. Auch wenn Trump noch einmal Präsident würde, bliebe die Macht dezentralisiert. Und im öffentlichen Dienst, ebenso wie an den Gerichten, herrscht eine ausgeprägte Professionalität. Das sind alles Kräfte des Widerstands: Menschen, die es Trump erschweren werden, zu tun, was er gerne tun würde.

Zur Person

Der US-amerikanische Politik­wissenschaftler Daniel Ziblatt ist seit 2018 Professor für Regierungs­wissenschaften an der Harvard-Universität und seit Oktober 2020 Direktor der Abteilung Transformationen der Demokratie am Wissenschafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung. Sein gemeinsam mit Steven Levitsky verfasstes Buch, der «New York Times»-Bestseller «How Democracies Die» (Crown, 2018; «Wie Demokratien sterben»), wurde in über fünfzehn Sprachen übersetzt. Für sein Buch «Conservative Parties and the Birth of Democracy» erhielt er diverse Auszeichnungen. In seinem neuesten Buch «Die Tyrannei der Minderheit» beschäftigt er sich mit der Frage, wie es gelingen kann, die Demokratie vor radikalen Minderheiten zu schützen, die sie von innen untergraben, destabilisieren und sogar zu zerstören drohen.

Während eines Aufenthalts als Schüler im Schwarzwald lernte Ziblatt Deutsch, das er heute fliessend spricht. Die Republik hat Ziblatt im Rahmen der Veranstaltung «Democracies under Threat» des UBS Center for Economics in Society der Universität Zürich getroffen.

In Ihrem neuen Buch «Die Tyrannei der Minderheit» schreiben Sie aber auch, dass die Institutionen allein die Demokratie nicht schützen können. Wie kommen Sie darauf?
Die amerikanischen Institutionen sind anfällig für die Macht­ergreifung durch eine Person wie Trump. Einerseits, weil jede beliebige Person Präsident werden kann, ohne bei den Wahlen eine Mehrheit überzeugen zu müssen, andererseits, weil die Wahlen ein verworrener Prozess sind. Statt dass eine Wahl abgehalten wird und die Person mit den meisten Stimmen gewinnt, veranstaltet man ein unglaubliches Theater: Erst findet das Prozedere mit dem Electoral College statt, und dann muss sich auch noch der Kongress versammeln, um die Wahl zu bestätigen. Bei jedem dieser Schritte gibt es Möglichkeiten, das System zu missbrauchen, den Prozess zu verfälschen oder zum Entgleisen zu bringen. Bis zur Trump-Ära hat es zwar meistens reibungslos funktioniert, weil sich fast alle an ungeschriebene Regeln gehalten haben. Aber dann kam Trump, der auf alle Normen pfeift. Was hinzukommt: Unser Wahlsystem hat die Republikanische Partei in den vergangenen vierzig Jahren massivst radikalisiert.

Wieso?
Aufgrund des Wahlsystems können die Wähler die Partei nicht abstrafen, wenn sie demokratie­feindliche Politiker ins Rennen schickt. Dadurch ist die Partei gegenüber Extremisten toleranter geworden. Die Republikaner haben mit Trump noch bei keiner einzigen Wahl eine Mehrheit gewonnen, und trotzdem bleibt er ihr Präsidentschafts­kandidat.

Liegt das nicht einfach darin begründet, dass Trump weiterhin sehr populär ist?
In den meisten westlichen Demokratien, in der Schweiz, in Deutschland, in Polen, in den Vereinigten Staaten, in Schweden wählen etwa 20 bis 30 Prozent der Bürger rechtsextreme Parteien – unsere Gesellschaften sind sich in dieser Hinsicht sehr ähnlich. In den USA macht der «Make America Great Again»-Kern der Republikanischen Partei nur etwa 30 Prozent der Wählerschaft aus. Der Unterschied zwischen den westlichen Demokratien besteht nicht darin, wie gross das Mobilisierungs­potenzial des Rechts­populismus ist, sondern darin, wie viel Macht sie erhalten. Das hängt ausschliesslich von den politischen Institutionen ab. Das amerikanische Zweiparteien­system neutralisiert und verwässert extreme Positionen bestenfalls. Sie gehen in den riesigen Parteien unter. Gefährlich wird es, wenn es den Extremen gelingt, eine Partei zu übernehmen. Das ist heute in den USA der Fall. Die extreme Rechte erhält so unbeabsichtigt viel mehr Einfluss, als ihr angesichts ihrer Grösse zustehen würde. In einem Mehrparteien­system wie der Schweiz ist die Macht viel besser verteilt.

Nachdem Trump die letzten Wahlen verloren hat und seine Anhänger versuchten, das Capitol zu stürmen, hätte man erwarten können, dass sich die Republikanische Partei von ihm distanziert. Wieso ist das nicht passiert?
Weil sie versagt hat. Die übliche Erklärung ist: Politiker sind Karrieristen. Sie gehen dorthin, wo die Wähler sind – und die Republikaner vermuten, dass die Wählerinnen bei Trump sind. Deshalb distanzieren sie sich nicht von ihm: Sie glauben, das könnte ihrer Karriere schaden. Aber in den vergangenen Wochen wurde mir bewusst, dass es auch noch einen anderen Grund für dieses Verhalten gibt.

Nämlich?
Republikaner, die sich gegen Donald Trump auflehnen, fürchten teilweise um ihr eigenes und das Leben ihrer Familie. Sie erhalten Mord­drohungen. In einer neuen Biografie über den früheren republikanischen Präsidentschafts­kandidaten Mitt Romney erzählt dieser, wie sich Gewalt­androhungen auf die republikanischen Politikerinnen ausgewirkt haben. Wie Republikaner im Kongress zwar ein Amtsenthebungs­verfahren gegen Trump befürworteten, es aber nicht gewagt hatten, sich zu exponieren – aus Angst. Wenn Gewalt­androhungen das Verhalten von Politikerinnen prägen, hat die amerikanische Demokratie ein schwer­wiegendes Problem.

Es gab immer wieder Republikaner, die es wagten, sich gegen Trump zu wehren. Mitt Romney war einer davon. Allerdings sind alle gescheitert. Wieso?
Politikerinnen wie Liz Cheney oder Adam Kinzinger haben mit ihrer Trump-Kritik ihre Karriere ruiniert. Das Problem ist, dass es nie einen kollektiven Aufstand des republikanischen Establishments gegeben hat. Ein zweites Problem ist das Timing. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine republikanische Führungs­figur chancenlos, wenn sie einen Aufstand gegen Trump organisieren würde. Aber zwischen November 2020 und Januar 2021, direkt nach den Wahlen, hätte es ein Zeitfenster gegeben, um diesem Irrsinn ein Ende zu setzen. Hätten sich die Republikanerinnen damals gemeinsam gegen Trumps Wahl-Lügen gewehrt und ihn angeklagt, wäre der Spuk endgültig vorbei gewesen. Dann wäre es ihm jetzt gesetzlich verboten, erneut für das Amt zu kandidieren. Aber selbst Leute wie Mitch McConnell, der frühere Fraktions­vorsitzende der Republikaner, der selbst gesagt hatte, Trump sei verantwortlich für den Sturm auf das Capitol, stimmten gegen die Amts­enthebung. Ich glaube, viele Republikaner bereuen das heute.

Auch der Fernseh­sender Fox News, der grossen Anteil an seinem Aufstieg hat, wandte sich ab von Donald Trump. Wieso zeigt das alles keine Wirkung?
Zu wenig, zu spät. Trump hat enorme Unterstützung bei der republikanischen Wählerschaft. Daran führt nun kein Weg mehr vorbei. Alle Versuche, dem heute etwas entgegen­zusetzen, sind zum Scheitern verurteilt. Jetzt können nur noch die Demokraten Trump schlagen. Die Republikaner haben aufgegeben.

Trump oder Tod: Radikale Anhänger zelebrieren ihr Idol im September 2023 vor dem Trump Tower in New York. Mark Peterson/Redukx/laif

Aber wie erklärt sich diese scheinbar unzerstörbare Beliebtheit von Trump bei der Parteibasis?
Die Trump-Basis – überwiegend weiss und christlich – erlebt, wie sich die amerikanische Gesellschaft demografisch stark gewandelt hat, vielfältiger geworden ist. Was sich nicht verändert hat und nicht verändern will, ist die Republikanische Partei. Der harte Kern ihrer Basis reagiert auf die Veränderungen mit Verlust­ängsten. Sie sagen: Wir verlieren unser Land. Und Donald Trump kann diese Ängste noch immer gut instrumentalisieren.

Solche politischen Bewegungen treten in vielen westlichen Demokratien auf. Auch in der Schweiz oder Deutschland. Wieso scheint sie in den USA aber so viel radikaler zu sein?
Die AfD ist sicher auch kein Picknick. Aber Sie haben recht: In den USA ist die Transformation hin zu einer multi­ethnischen Demokratie weiter fortgeschritten als in vielen anderen Gesellschaften. Auch spielt hier das historische Erbe der Sklaverei bis heute eine Rolle. Das alles rückt race politisch in den Fokus und trägt zur Polarisierung bei. Auch geschlechts­spezifische Unterschiede werden immer wichtiger: Weisse Männer fürchten plötzlich um ihren Status in der Gesellschaft. Und wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihre Lebensweise grundlegend bedroht ist, dann ist es für sie schwierig, politische Veränderungen zu akzeptieren.

Andererseits gewinnt Trump bei Latinos und Schwarzen in den Umfragen an Unterstützung.
Auch wenn sie zunehmen, sind seine Popularitäts­werte in diesen Communitys aber immer noch sehr tief. Die Latinos, die Trump unterstützen, kommen fast alle aus denselben Bezirken, ländlichen Regionen in Texas oder Florida. Es sind mehrheitlich ehemalige Migranten aus Ländern wie Venezuela, die schlechte Erfahrungen mit dem Sozialismus gemacht haben und Joe Biden als eine Art Hugo Chávez wahrnehmen. Das Gesamtbild ist aber ein anderes: Es ist erstaunlich, wie wenig Unter­stützerinnen die Republikaner bei diesen Bevölkerungs­gruppen noch immer haben.

Wie erklärt sich das?
Die meisten Parteien passen sich an, wenn sie verlieren. Wenn sie wiederholt verlieren, versuchen sie neue Wähler­schichten zu erreichen. Die Republikanische Partei hat ab 2013 erkannt, dass sie elektoral in der Defensive ist, und wollte deshalb mehr Latinos für sich gewinnen. Das ist jetzt zehn Jahre her – doch bis heute kommen die Republikaner auf kaum mehr als 30 Prozent der Stimmen von Latinos. Dabei wäre dort das Potenzial für eine konservative Wählerschaft vorhanden.

Würden Sie es begrüssen, wenn die Republikanerinnen ihre Basis verbreitern könnten?
Es wäre ein grosser Fortschritt, wenn die Republikanische Partei eine multi­ethnische Wählerschaft hätte. Dann könnte sie auch wieder richtige Mehrheiten gewinnen. Und wenn sie wieder eine Chance hätte, echte Mehrheiten zu gewinnen, hätte sie auch nicht mehr so viel Angst vor der Demokratie. Aber dieser Wandel bleibt schwierig, solange die Partei von weissen Nationalisten und Rassisten angeführt wird.

Trump hat mit Ron DeSantis einen potenten Heraus­forderer, der viel klüger und mit der gleichen politischen Agenda ausgestattet ist. Die natürliche Entwicklung wäre, dass er Trump im Wahlkampf ersetzt, weil dieser mit all seinen Gerichts­verfahren sehr belastet ist. Aber das passiert nicht. Es existiert ein beispiel­loser Personenkult um Donald Trump.
Es gibt eine Kernwählerschaft, die Trumps Persönlichkeit mag. Aber ich zögere, von Kult zu sprechen. Das würde suggerieren, dass die Unterstützung von Trump irrational ist. Das trifft nicht zu – zumindest nicht für die Partei­führung. Kurz nach der verlorenen Wahl 2020 kamen die Republikaner auf der Insel Amelia vor der Küste Floridas zusammen und fragten sich: Was tun? Sie entschieden sich, ihre Strategie voll auf Trump auszurichten. Das war eine sehr kühle, rationale Berechnung: Aus ihrer Sicht war das einfach die beste Strategie, um wieder zurück an die Macht zu gelangen.

Die Demokratische Partei hingegen will eine weitere Amtszeit von Donald Trump um jeden Preis verhindern. Wieso fällt ihr das so schwer?
Die Demokraten machen einen guten Job. Sie haben bisher alle Kongresswahlen gewonnen. Biden hat die Präsidentschafts­wahlen gewonnen. Aber die Demokratische Partei ist einer Gefahr ausgesetzt, der jede demokratische Widerstands­bewegung ausgesetzt ist, wenn sie auf einen autoritären Gegner trifft: Um zu gewinnen, muss sie geschlossen auftreten. Und diese Geschlossenheit ist in einem Zweiparteien­system, in dem beide Parteien sehr heterogen sind, immer unglaublich anspruchsvoll. Fällt sie zusammen, drohen sie wichtige Wählergruppen zu verlieren. Das besorgt mich gerade besonders. Nehmen Sie das Beispiel Ungarns: Viktor Orbán konnte in Ungarn nur deshalb die Wahlen immer wieder gewinnen und seine Macht konsolidieren, weil die Opposition so zersplittert ist.

Was könnte die Demokraten denn spalten? Der Krieg in Israel und Gaza?
Wenn Biden jetzt sagen würde: Okay, wir kappen alle Beziehungen zu Israel, dann wären Teile des linken Flügels glücklich, der rechte Flügel aber würde sich wahrscheinlich abwenden. Lässt Biden hingegen die Bombardierungen von Gaza unkommentiert, verliert er linke Anhänger. Ein tragisches Dilemma. Meine Sorge ist, dass noch weitere Themen mit Spaltungs­potenzial virulent werden könnten.

Woran denken Sie? Etwa die Polemiken, um Berechtigung oder Exzesse von Wokeness?
Zum Beispiel. Ich denke, sie stellen eine unnötige Ablenkung dar. In den Debatten über Wokeness-Kultur werden die Probleme aufgeblasen – und diese Debatten haben in der Tat das Potenzial, die Demokratische Partei zu spalten. Wenn man die Leute fragen würde: Was glauben Sie, ist die woke Kultur an den Universitäten oder Donald Trump die grössere Gefahr für die Demokratie?, dann wären sich alle darüber einig, dass Trump die echte Bedrohung ist.

Was müssen die Demokratinnen denn unternehmen, um eine Spaltung zu verhindern?
Es gilt ganz allgemein: Demokratische Gegen­mächte können Autokraten verhindern, wenn sie über politische Differenzen, die sie untereinander haben, hinwegsehen und klare Prioritäten setzen. Die amerikanischen Demokraten müssen verstehen, dass die grösste Bedrohung darin besteht, gegen Trump zu verlieren. Es gibt diesen Song aus der amerikanischen Bürgerrechts­bewegung der 1950er, der gut beschreibt, was in so einem Fall die notwendige Strategie ist: «Keep Your Eyes on the Prize».

Dies ist ein Youtube-Video. Wenn Sie das Video abspielen, kann Youtube Sie tracken.
Keep Your Eyes on the Prize (Pete Seeger, 1963)

Nur die Wiederwahl von Biden zählt also. Wird Donald Trump als politischer Ober­bösewicht seine Gegner nicht automatisch zusammen­schweissen?
Ich hoffe es. Das ist die Voraus­setzung, um die Demokratie zu erhalten. Es braucht eine Koalition von der linken Alexandria Ocasio-Cortez bis zur rechten republikanischen Trump-Gegnerin Liz Cheney. Diese Koalition muss über die Demokratische Partei hinausgehen. Mitt Romney hat bei den Präsidentschafts­wahlen, wie er kürzlich in seiner Biografie ausplauderte, den Namen seiner Frau auf den Wahlzettel geschrieben. 2024 muss auch jemand wie er verstehen, dass er Biden wählen muss.

Trump ist in mehreren Gerichts­verfahren angeklagt. Könnten die ihm zusätzlich schaden?
Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr Trump von der Sorge getrieben ist, dass er im Falle einer Wahl­niederlage möglicherweise ins Gefängnis muss. Für Trump steht unglaublich viel auf dem Spiel, und das ist eine schlechte Nachricht. Er wird alles unternehmen, um nicht im Gefängnis zu landen.

Sie haben Viktor Orbán einige Male erwähnt. Jüngst wurde Javier Milei, ein exzentrischer und libertärer Rechts­extremist, Präsident von Argentinien. In den Niederlanden hat der Rechts­populist Geert Wilders gerade die Wahlen gewonnen. Donald Trump ist keine Ausnahme mehr.
Es gibt eine Rebellion gegen etablierte Politiker – egal, wer gerade die Macht innehat. Vielleicht ist das eine Folge der Covid-19-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen. In vielen Ländern Latein- und Nordamerikas sowie auch Westeuropas wählen die Bürgerinnen amtierende Politiker ab. Diese Ablehnung bestehender Regierungen kann den rechts­radikalen Aufschwung tatsächlich begünstigen.

Gibt es ein Patent­rezept gegen diese Entwicklungen?
Diese Bewegungen entstehen aus einem tief sitzenden und anhaltenden Fieber heraus. Manchmal steigt die Temperatur unserer Politik. Manchmal sinkt sie. Demokratien sind zerbrechlich. Wir müssen verstehen, dass es wichtig ist, sie zu verteidigen, dass ihre Werte und Institutionen keine Selbst­verständlichkeiten sind. Aber – auch das ist wichtig – in fast allen Demokratien sind die demokratischen Kräfte weiterhin in der Mehrheit. Ihre Koalition darf nicht zerbrechen, und sie dürfen ihr Selbst­vertrauen nicht verlieren. Sonst wird es gefährlich.

Hinweis: Wir haben das in der ersten Version verwendete Wort «Rassenfrage» durch «race» ersetzt. Besten Dank für den Hinweis aus der Leserschaft.

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