Weil wir keine Wilders wollen: Die Mitte muss antreten
Es gibt leider viele Parallelen zwischen der politischen Entwicklung der Niederlande und der Eidgenossenschaft. Aber es gäbe in diesem Land nach wie vor eine klare Mehrheit gegen eine rechtspopulistische Regierung.
Von Daniel Binswanger, 25.11.2023
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Am Mittwochabend ging eine Schockwelle durch Europa. Geert Wilders, der Rechtspopulist, der ein bekennender Trump-Verehrer ist und sich als radikaler Migrations-, Islam- und EU-Feind profiliert, hat in einem Erdrutschsieg die niederländischen Parlamentswahlen gewonnen. Zwar kommt er gemäss den noch nicht ganz definitiv bestätigten Resultaten mit seiner «Partei für die Freiheit» nur auf knapp 24 Prozent der Stimmen, verweist damit in der zersplitterten niederländischen Parteienlandschaft die gesamte Konkurrenz aber klar auf die Ränge.
Das zweitplatzierte Linksbündnis von Grünen und Sozialdemokraten kommt lediglich auf 15,5 Prozent. Wilders, der gemäss seinem Parteiprogramm den Koran verbieten, die Moscheen schliessen, die Einwanderung vollständig unterbinden und aus der EU austreten will, ist der neue starke Mann der Niederlande. Sämtliche rechtsradikalen Kräfte in Europa sind in Ekstase.
Schon nach den ersten Hochrechnungen kamen die ersten prominenten Glückwünsche an Wilders – und zwar aus Zürich. Hier weilte gerade der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zu Besuch, auf Einladung von Roger Köppel. Am Mittwochmorgen hatte Orbán selbst noch seiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass der nächste amerikanische Präsident erneut Donald Trump heisse – und damit im Dolder Grand ein Parkett von SVP-Honoratioren zu Standing Ovations verleitet.
Auch Alt-Bundesrat Christoph Blocher und Alt-Bundesrat Ueli Maurer waren mit von der Partie. Die Zeiten, als die Schweizer Nationalkonservativen sich mit den paneuropäischen Netzwerken der äussersten Rechten nicht gemein machen wollten, sind schon lange Geschichte.
Wilders Sieg kam völlig überraschend – so überraschend, dass er selbst am Wahlabend bekannte, er hätte niemals mit einem derartigen Triumph gerechnet. Während der «Spiegel» ein Interview mit einer niederländischen Parteienforscherin veröffentlichte, die erklärte, warum absolut niemand mit diesem Resultat gerechnet hatte, und der «Economist» von einer «Bombe» und einem «Schock für alle in der niederländischen Politik» sprach, hatte ein Zürcher Leitmedium eine diametral entgegengesetzte Sicht der Dinge: «Der Rechtsruck in den Niederlanden ist keine Überraschung», titelte die NZZ am Donnerstagmittag.
Dass die Niederländer Protest einlegen gegen die «unkontrollierte Einwanderung» und deshalb auf einen aggressiven Rechtspopulisten setzen wollen, ist aus Sicht der NZZ-Redaktion offenbar von zwingender Logik. Schliesslich stellt sie sich schon länger auf den Standpunkt, dass die asylpolitische «Realitätsverweigerung» der etablierten Parteien unweigerlich zum «Aufstieg der Rechtspopulisten» führe. Wenn der Durchmarsch von Figuren wie Wilders wirklich die unausweichliche Folge heutiger Migrationsbewegungen wäre, dann müsste der niederländische Rechtsrutsch, mit dem absolut niemand gerechnet hatte, in der Tat nur banal und erwartbar sein. Dann müsste Geert Wilders auch beispielhaft sein dafür, wie sich andere Länder politisch entwickeln. Nicht zuletzt die Schweiz.
Schliesslich bestehen gerade im Hinblick auf die Migrationspolitik zwischen der Schweiz und den Niederlanden ausgeprägte Parallelen. Beide Länder sind sehr wohlhabend, haben eine exportorientierte Wirtschaft, die angewiesen ist auf die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte, und liegen deshalb an der Spitze des zuwanderungsgetriebenen Bevölkerungswachstums in Europa. In beiden Ländern beherrscht jedoch nicht die Ausländerfrage als solche die politische Agenda, sondern konkrete, unmittelbar relevante Problemfelder wie die Wohnungsnot und die Gesundheitsversorgung. In beiden Ländern versuchen die Rechtspopulisten, für die Schwierigkeiten in diesen Bereichen ausschliesslich die Zuwanderung verantwortlich zu machen – was zwar eine groteske Verkürzung des Sachverhalts darstellt, aber bei breiten Kreisen auf Gehör zu stossen scheint. Es ist verblüffend, wie parallel die Debatten inzwischen verlaufen.
Geert Wilders machte den «Flüchtlings-Tsunami» zu seinem Haupt-Wahlkampfslogan, die SVP stellt das vermeintliche «Asyl-Chaos» ins Zentrum. Auch die Propagandastrategien des Rechtspopulismus werden europaweit inzwischen austauschbar. Sowohl in den Niederlanden als auch in der Schweiz fällt allerdings die Arbeitsmigration viel stärker ins Gewicht als das Asylwesen. Über die wollen die Rechtspopulisten allerdings lieber nicht so viel reden – denn ihre Senkung würde eine Anpassung des Wirtschaftsmodells erfordern. Auch das ist in den Niederlanden nicht anders als in der Schweiz.
Interessant sind allerdings vor allem die parteipolitischen Parallelen zwischen den beiden Ländern. Wo liegt der unmittelbare Grund für Wilders heutigen Triumph? In der dreizehnjährigen Herrschaft der traditionellen, rechten Establishmentpartei, der «Volkspartei für Freiheit und Demokratie» unter Mark Rutte. Rutte hat sich sehr lange an der Macht gehalten und zahlreiche schwere Skandale überlebt, wobei er immer nur eine Strategie verfolgte: sich so weit rechts zu positionieren, eine so harte Sozial-, Law-and-Order- und Einwanderungspolitik zu verfolgen, dass Wilders der politische Raum abgeschnitten wird. Unbedingt die rechte Flanke sichern: Das war Ruttes Credo.
Das politische System der Niederlande wurde durch die Rutte-Dauerherrschaft stark destabilisiert, verschiedene Protestbewegungen sind heute plötzlich neue Machtfaktoren. Endgültig zerbrochen ist die letzte Rutte-Koalition jedoch an einem Streit über die Migrationspolitik. Rutte wollte den Familiennachzug für in den Niederlanden anerkannte Flüchtlinge frühestens nach zwei Jahren gestatten – eine extreme Massnahme, die bei den Christdemokraten und der linksliberalen D66, mit der er eine Koalition bildete, auf prinzipielle Ablehnung stiess. Doch Rutte machte den Wilders, im Glauben, er würde damit seiner Volkspartei die Macht erhalten. Geschehen ist das exakte Gegenteil: Ruttes zynische Anbiederung an den Rechtspopulismus hat Wilders jetzt den Weg zur Macht eröffnet.
Eine bürgerliche Traditionspartei, die sich dem Rechtspopulismus immer hemmungsloser andient und damit ihr eigenes Grab schaufelt? Auch hier gibt es eine frappierende Parallele zwischen den Niederlanden und der Eidgenossenschaft.
Auffällig war schon im Wahlkampf diesen Herbst, dass FDP-Präsident Thierry Burkart sich vom Rutte-Playbook inspirieren zu lassen schien: In einer Last-Minute-Anti-Asylrechts-Aktion skandalisierte Burkart plötzlich, dass afghanische Frauen in der Schweiz Asyl bekommen sollen. Seine Begründung war der Familiennachzug. Die FDP-Frauen schwiegen devot, und der Freisinn fuhr – so wie jetzt die Konservativen in den Niederlanden – ein absolut desaströses Resultat ein.
Inzwischen haben auch die Ständeratswahlen spektakulär bestätigt, dass die FDP den Anspruch auf einen zweiten Bundesratssitz verwirkt hat. Vielleicht wird sie Ignazio Cassis noch über eine Legislatur retten können. Doch wer seine Regierungsmacht lediglich opportunistischem Taktieren und der Trägheit des Systems verdankt – auch das zeigt der Rutte-Fall exemplarisch –, tut seiner langfristigen Glaubwürdigkeit ganz gewiss keinen Gefallen.
Verblüffend im Fall des Freisinns ist seine Unbelehrbarkeit. Schon in den Nullerjahren, als Fulvio Pelli die Nachfolge von Marianne Kleiner als Parteipräsident der FDP antrat, hiess die vermeintlich rettende Losung: alles stramm nach rechts! Erfolgreich war das beim besten Willen nicht: Der Niedergang hat sich beschleunigt.
Das hindert den Freisinn aber in keiner Weise daran, dasselbe Reaktionsmuster in verschärfter Form noch einmal zu reproduzieren. Nachdem Petra Gössi die Klimawahlen 2019 verloren hatte, hob man mit Thierry Burkart den SVP-affinsten Parteipräsidenten aller Zeiten auf den Schild. Das Resultat ist erneut ein Desaster. Aber auch jetzt scheint niemand auch nur eine Sekunde an Burkart zu zweifeln – oder daran, dass der Freisinn im SVP-Seitenwagen am besten fährt.
Als wollte sie die unverbrüchliche SVP-Allianz nun definitiv besiegeln, hat die Zürcher FDP allen Ernstes eine Überraschungskandidatur von Filippo Leutenegger beherzigt und den Zürcher Stadtrat zu ihrem Kantonalpräsidenten gemacht. Sicherlich: Es mag dafür pragmatische Gründe geben. Leutenegger ist eine bekannte Persönlichkeit sowie parteiintern und -extern gut vernetzt. Seit er als Rechtsausleger im rot-grün beherrschten Zürcher Stadtrat sitzt, hat er auch kaum mehr ein politisches Profil: Er darf in würdevoller Wirkungslosigkeit ergrauen.
Im heutigen Kontext ist das Präsidium Leutenegger trotzdem eine glasklare politische Botschaft. Als der ehemalige «Arena»-Moderator 2003 für den Nationalrat kandidierte, war er vor allen Dingen für seine engen Verbindungen zu Roger Köppel und Christoph Blocher bekannt. Sein erster Akt als gewählter Nationalrat bestand darin, dem Komitee für das Referendum gegen den Mutterschaftsurlaub beizutreten, das damals einzig die SVP unterstützte (ja, es ist unfassbar: Aber über die Einführung eines Mutterschaftsurlaubs musste im Jahr 2003 (!) in der Schweiz tatsächlich abgestimmt werden).
Während seiner Zeit als Nationalrat profilierte sich Leutenegger gemeinsam mit der SVP-Vertreterin Natalie Rickli dann führend und hauptsächlich als knallharter SRG-Abwracker. Allerdings war in den Nullerjahren die SVP-Anbiederung innerhalb der FDP immer noch umstritten. Prominente FDP-Grössen nannten Leutenegger off the record häufig nur «das U-Boot»: will sagen, das U-Boot von Christoph Blocher, der Agent einer immer stärkeren Anbindung und Überflüssigmachung des Schweizer Freisinns durch die SVP.
Ausgerechnet der Zürcher Freisinn setzt jetzt allerdings auf Leutenegger. Die Kantonalpartei hat für ihren SVP-Pakt einen besonders bitteren Preis gezahlt: Nicht nur wurde mit Regine Sauter eine aussichtsreiche Ständeratskandidatin dem völlig chancenlosen Rechtshardliner Gregor Rutz geopfert. Die Zürcher FDP verlor eines ihrer wichtigsten Mandate – kampflos, ohne Rückgrat, auf Befehl, weil ein paar ideologisierte Verbandsfunktionäre es so wollten. Einst das Machtzentrum der Schweiz und eine Gründungskraft des modernen Bundesstaats, hat sie bei den Nationalratswahlen auch das zweitschlechteste Resultat ihrer Geschichte eingefahren – deutlich schlechter als im nationalen Durchschnitt.
Und wie reagieren die Zürcher Freisinnigen auf diese nie da gewesene Krise? Sie holen den Graf Dracula der Blocher-Anbindung aus seiner Gruft. Eine derart tragische Verblendung hat schon fast etwas Erhabenes.
Diese Signale sind so schrill – man kann sie nicht missdeuten. Wer im Gegensatz zur SVP-Führung und zur NZZ der Überzeugung bleibt, dass eine Politik auf der Orbán-Wilders-Linie nicht unausweichlich ist, sollte sich dem Offensichtlichen stellen. Es gibt heute für die Schweiz, um in den immer drängenderen Dossiers endlich voranzukommen, nur noch eine Lösung: Die De-facto-SVP-Bundesratsmehrheit mit Cassis und Keller-Sutter im Seitenwagen muss beendet werden.
Der Mitte steht ein zweiter Sitz zu. Sie täte gut daran, ihn lieber heute als morgen einzufordern. Es gibt eine breite Zustimmung für eine besonnene bürgerliche Politik, die sich um Lösungen bemüht und dem SVP-Populismus gegenüber selbstbewusst auftritt. Es gibt für eine Koalition der Vernunft eine deutliche Mehrheit. Alles, was es dazu braucht, ist ein Bürgertum, das zu seiner Wertebasis steht – und vor illiberalen Standing Ovations am Zürichberg endlich keine Angst mehr hat.
Es wäre unverzeihlich, wenn die Eidgenossenschaft den Weg der Niederlande gehen müsste. Kampflos, ohne Rückgrat. Es wäre selbst verschuldet.
Illustration: Alex Solman