Die neuen, falschen Freunde Israels
Judenfeinde gibt es überall. Nur nicht in den eigenen Reihen. Die Antisemitismus-Forscherin Christina Späti über Vorwürfe, die vor allem der Diskreditierung des politischen Gegners dienen.
Von Christina Späti, 22.11.2023
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In den Wochen seit dem 7. Oktober 2023 wird in der Schweiz über Antisemitismus debattiert wie noch nie in den letzten Jahrzehnten. Antisemitismus von links, rechte Judenfeindschaft, antijüdische Vorurteile bei Musliminnen werden thematisiert, einander gegenübergestellt und historisch eingeordnet. Plötzlich stossen Daten auf reges mediales Interesse, die seit Jahren vorliegen. Zum Beispiel werden die Daten des Bundesamtes für Statistik zum Zusammenleben in der Schweiz auf einmal ausgewertet und mit den aktuellen Debatten in Zusammenhang gebracht.
Als jemand, die sich seit über zwanzig Jahren wissenschaftlich mit Antisemitismus befasst und immer wieder das fehlende Interesse unserer Gesellschaft an diesem Thema bemängelt hat, sollte ich zufrieden sein.
Eigentlich.
Christina Späti ist Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und an der Fernuni Schweiz. Sie forscht zu Antizionismus, Antisemitismus und Rassismus, zum Nationalsozialismus und zur Nachgeschichte des Holocaust. Die gebürtige Zürcherin studierte unter anderem an der Hebräischen Universität Jerusalem.
Bei näherer Betrachtung der Debatten beschleicht mich jedoch das Gefühl, dass hier altbekannte Muster im Umgang mit Judenfeindschaft reproduziert werden: Anstatt solche Einstellungen im eigenen Milieu zu thematisieren, muss der Vorwurf des Antisemitismus einmal mehr dazu herhalten, den politischen Gegner zu diskreditieren.
Besonders eifrig sind die SVP und ihre Vertreter unterwegs. Wie andere rechtspopulistische Parteien in Europa, etwa die FPÖ in Österreich oder der französische Rassemblement National unter Marine Le Pen, hat die SVP in den letzten Jahren ihre Liebe zu Israel entdeckt. In der Parlamentarischen Freundschaftsgruppe Schweiz - Israel beispielsweise ist sie prominent vertreten. 2016 reiste eine Delegation dieser Gruppe, bestehend aus SVP- und einigen FDP-Mitgliedern, zu einem Freundschaftsbesuch nach Israel, wo sie, unter anderem, auch eine israelische Siedlung im Westjordanland besuchten. Begünstigt wird diese Freundschaft durch den Umstand, dass die Regierungen in Israel in den letzten Jahren immer stärker nach rechts gerückt sind.
In der aktuellen Debatte beinhaltet die Unterstützung Israels für die SVP auch die Denunziation des «linken» oder des «muslimischen» Antisemitismus. So fordert sie ein Verbot von propalästinensischen Demonstrationen, denn die Demonstrationsfreiheit dürfe nicht «für Antisemitismus und die Verherrlichung von Terror missbraucht» werden, wobei sie diesen Antisemitismus bei der Linken und in migrantischen Kreisen verortet.
Kein Thema sind hingegen antisemitische Regungen in den eigenen Reihen. Da sind etwa die immer wieder vorkommenden Abgrenzungsprobleme gegenüber dem Rechtsextremismus. Die potenzielle Offenheit gegenüber der extremen Rechten von einzelnen SVP-Exponentinnen hat sich jüngst in Winterthur wieder gezeigt, und auch, wie lange diese um eine Distanzierung herumlavieren. Sie stehen in einer längeren Kontinuität, wie ein Blick in die Rassismusberichte zeigt, die von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz herausgegeben werden.
Antisemitismus gehört historisch wie auch in der Gegenwart zum Grundbestand rechtsextremen Gedankenguts. Des Weiteren haben in den letzten Jahren Vertreterinnen der SVP immer wieder mit klassischen antisemitischen Stereotypen und Verschwörungsfantasien Aufmerksamkeit erregt, wie etwa Oskar Freysinger mit Anspielungen auf Soros und Rothschild im Zusammenhang mit seiner Abwahl 2019. Zudem zeigen Umfragen zu Antisemitismus in den letzten zwanzig Jahren, dass die Zustimmung zu judenfeindlichen Vorurteilen bei Sympathisanten der SVP deutlich höher ist als in den anderen politischen Lagern.
Dazu kommt, dass die Partei bei der Bekämpfung von Antisemitismus äusserst zurückhaltend agiert. Als einzige der grossen Parteien hat sie die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) nicht anerkannt. Die IHRA-Definition wird in vielen Staaten zur Beobachtung von Antisemitismus verwendet.
Eine Motion für eine Strategie gegen Antisemitismus, eingereicht durch die grüne Nationalrätin Sibel Arslan und parteipolitisch breit abgestützt, wurde nur von ganz wenigen SVP-Parlamentariern mitunterzeichnet. Und selbst einer vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse verabschiedeten Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats verweigerte die SVP als einzige Partei die Unterstützung. Die Motion verlangt, dass der Bund einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus vorlege.
Das alles schliesst nicht aus, dass es Vertreterinnen der SVP gibt, denen es mit der Bekämpfung von Antisemitismus ernst ist. Aber die Partei muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern sie den Antisemitismus-Vorwurf für die eigenen politischen Zwecke und eine Stellvertreterdebatte instrumentalisiert.
Wie sich auch für andere rechtspopulistische Parteien gezeigt hat, entspringt die Solidarität mit Israel nicht in erster Linie einem anti-antisemitischen Reflex, sondern einem Freund-Feind-Denken, das in Israel einen politischen Verbündeten gegen den Islam sieht.
Treffendes Beispiel hierfür ist der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der am Mittwoch auf Einladung der «Weltwoche» in Zürich weilt. In seinem Wahlkampf 2018 operierte er offen mit antisemitischen Verschwörungsthesen rund um George Soros, den er mit dem gesamten Arsenal antisemitischer Stereotype versah. Gleichzeitig präsentiert er sich als enger Freund Israels und betont seine Nähe zum israelischen Premier Benjamin Netanyahu. Möglich macht diese unheilige Allianz eine gemeinsame Abneigung gegen den Islam und liberale Werte.
Im Zuge des Anstiegs des antimuslimischen Rassismus nach der Jahrtausendwende stösst nicht nur in rechtspopulistischen Kreisen die These auf Akzeptanz, wonach die westlichen Länder sich in einem «Kulturkampf» mit der islamischen Welt befänden, woraus ein binäres Freund-Feind-Schema abgeleitet wird. In der Folge zeigte sich, dass Migrantinnen, die zuvor als «türkisch» oder «albanisch» wahrgenommen worden waren, zunehmend als «muslimisch» taxiert wurden. Damit einher gehen eine Reihe von Homogenisierungen und Pauschalisierungen. Diese präsentieren sich gerade jetzt wieder in der Rede vom «importierten» Antisemitismus – einem Diskurs, der sich indessen nicht auf die SVP reduzieren lässt.
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass auch Muslime sich antisemitisch äussern können. Ebenso gibt es in Vergangenheit und Gegenwart Belege für antisemitische Statements, die aus dem linken politischen Spektrum stammen. Wenn an einer propalästinensischen Demonstration wie kürzlich in Zürich ein Transparent gezeigt wird mit der Aufschrift «Well done Israel, Hitler would be proud», dann ist das nicht nur eine absurd anmutende Verkennung der Geschichte des Nationalsozialismus, sondern auch eine als antisemitisch zu taxierende Verhöhnung der Opfer der Schoah.
Wenn in linken Kreisen Zionismus in einem Atemzug mit Rassismus, Sexismus und Homophobie, nicht aber mit anderen spezifischen Nationalismen genannt wird, dann müssen sich diese Kreise die Frage stellen, ob ihre Dämonisierung des Zionismus nicht einer judenfeindlich geprägten Verschwörungsfantasie entspringt.
Auch in der Linken stellen sich gegenwärtig längst nicht alle der Antisemitismus-Debatte. Schnell ist, auch das steht in einer gewissen Tradition, der Vorwurf zur Hand, mit der «Antisemitismus-Keule» solle nur die berechtigte Kritik an Israel mundtot gemacht werden.
Antisemitismus ist in unserer Gesellschaft tief verankert, er besteht aus langlebigen, aber flexibel einsetzbaren Stereotypen und Vorurteilen, Wahrnehmungen und Deutungsmustern. Nach 1945 wurde er tabuisiert, aber bei bestimmten Gelegenheiten und Auslösern wird er reaktiviert.
Antisemitismus lässt sich weder auf ein politisches Spektrum noch auf eine Glaubensgemeinschaft reduzieren, sondern kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Was nottut, ist eine echte Debatte über Antisemitismus – frei von Instrumentalisierungen und Schuldzuweisungen. Eine Debatte, die auch ein Nachdenken über antimuslimische Reflexe und andere Rassismen einschliesst. Eine Debatte, die diese Diskriminierungsformen nicht gleichsetzt, sie aber auch nicht gegeneinander ausspielt.