Das Ende von Ceauşescu: TV-Bilder zum Prozess gegen den rumänischen Diktator. Nikos Economopoulos/Magnum Photos/Keystone

Die Freiheit könnte uns gestohlen werden

«Demokratie darf uns nicht müde machen», sagt die Nobelpreis­trägerin Herta Müller in ihrer Zürcher Rede. Denn sonst gewinnt die Angst.

Von Herta Müller, 20.11.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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Als Elena und Nicolae Ceauşescu am 25. Dezember 1989 in einer Kaserne der rumänischen Kleinstadt Târgoviște erschossen wurden, sass ich in Berlin vor dem Fernseher und weinte. Mein erster Gedanke war, ich hab sie überlebt. Denn auch in Berlin bekam ich immer noch Todes­drohungen vom rumänischen Geheimdienst. Aber geweint habe ich auch, weil ich bei den beiden Ceaușescus vor der Hinrichtung zum ersten Mal menschliche Regungen sah. Ich sah zwei Bauern mit spitzen Blicken, stechend vor Angst. Es ergriff mich ein Mitleid gegen meinen Verstand.

Die letzte Demonstration, die Ceaușescu zusammen­trommeln liess, um ihn zu bejubeln, kippte zu einem wilden Pfeif­konzert. Er winkte noch ein paarmal verwirrt und ungläubig vom Balkon. Dann verschwand er mit einem Hubschrauber. Als man ihn einige Tage später wieder sah, wurde er vor ein improvisiertes Stand­gericht geführt. Das Todesurteil kam völlig überraschend. Es war Dezember und erst im November wurde der Diktator auf dem Kongress der kommunistischen Partei einstimmig, mit minuten­langen stehenden Ovationen wiedergewählt. So schnell ändern sich die Zeiten, dachte ich.

Zur Autorin

Herta Müller wurde 1953 in Rumänien geboren. 1987 konnte sie nach Deutschland ausreisen, blieb aber im Visier des rumänischen Geheim­dienstes Securitate. Die Verfolgung durch das Regime thematisierte sie in vielen ihrer literarischen und essayistischen Werke. 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. Dieser Text ist die schriftliche Fassung einer Rede, die Müller am 13. November im Rahmen der Veranstaltung «Democracies under threat» des UBS Center for Economics in Society at the University of Zurich im Kongresshaus Zürich gehalten hat.

Damals lebte ich im Exil in Berlin und mit den Glücks- und Mitleids­tränen in den Augen dachte ich, für mich hören jetzt die Todes­drohungen auf. Aber sie kamen weiter, noch ein ganzes Jahr durchs Telefon. Und in dem verelendeten Land, aus dem Unzählige fliehen mussten, kommt nun endlich eine neue Zeit, dachte ich. Es muss und wird sich alles ändern.

Es wird keine Fluchten und gescheiterten Flucht­versuche mehr geben müssen. Niemand wird mehr an den Grenzen erschossen oder in der Donau von den Schiffs­motoren zerstückelt werden.

In Rumänien gab es bis zum Sturz des Diktators nur einen Fernseh­sender, in dem täglich nur zwei Stunden gesendet wurde. Und in diesen zwei Stunden nur Propaganda und die gestammelten Reden Ceauşescus. Die Zensur wird verschwinden und es wird jetzt eine freie Presse geben. Es wird einen Rechtsstaat ohne politische Verfolgung geben, ohne Verhöre und Haus­durchsuchungen. Ohne politische Gefangene, ohne die ewigen Fenster­stürze der politischen Gegner, ohne diese als Suizide inszenierten Morde. Die Mörder werden vor Gericht kommen.

Das ganze staatlich geplante Elend wird aufhören. Die Lebensmittel­karten für Brot und Milch werden verschwinden. In den Krankenhäusern wird man nicht mehr Reste aus der Strumpf­fabrik als Verbandszeug verwenden.

Ja, dachte ich, in ganz Osteuropa wird die sowjetische Besatzung aufhören. Also: Die kommunistischen Diktaturen werden Demokratien sein wie der Westen Europas. Und das dachte nicht nur ich. Wir hofften alle zusammen, waren fast betrunken vor Freiheit. Aber niemand im Osten wusste, wie das geht, wie macht man Demokratie.

Und heute. Heute kämpft Putin gegen diesen Aufbruch von 1989. Er führt mit sadistischen Spezial­truppen einen Eroberungs­krieg gegen die Ukraine. Und er zielt damit auf alle Demokratien, die nach dem Sturz des Kommunismus in Osteuropa entstehen konnten. Und er zielt auch auf die westlichen Demokratien. Seine Internet­trolle versuchen, ganz Europa zu destabilisieren. Er hat eine Internet­armee und die ist skrupellos und ordinär wie er selbst. Sie überflutet das Internet mit Falsch­nachrichten, löscht die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge. Und in allen Ländern Europas unterstützt Putin Rechtsaussen­parteien. Auch mit seinem Antisemitismus ist Putin mittlerweile im Stalinismus gelandet – als Israel der imperialistische Gegner war. Der Krieg gegen die Ukraine ist ja schon seit seinem Beginn antisemitisch, weil er dort angeblich Juden «entnazifizieren» muss. Selbst die Blutorgie der Hamas in Israel hat er nicht verurteilt, um die Waffen­lieferungen aus dem Iran nicht zu gefährden. Weil auch seine Kriegs­führung stalinistisch ist, werden seine Soldaten rücksichtslos in den Tod getrieben. Die russischen Frauen haben für Nachschub zu sorgen. Deshalb gibt es seit 2022 wieder den von Stalin erfundenen Orden «Mutterheldin» für Frauen mit zehn und mehr Kindern. Dazu noch eine Prämie von einer Million Rubel. Seinen Nachbarn Belarus hat er sowieso schon annektiert. Seine Marionette Lukaschenko darf an der Macht bleiben. Alle Kritiker sind geflohen oder im Gefängnis, also im Lager. Dort werden sie wie Nawalny in Russland durch Isolations­folter gebrochen. Von Maria Kolesnikowa oder vom Autor und Rechtsanwalt Maxim Znak und vielen anderen weiss man seit mehr als zehn Monaten nichts mehr. Nicht einmal, ob sie noch leben: kein Telefonat, kein Brief, kein Besuch. Alles abgeschafft.

In der Ukraine wird der späte Aufbruch zur Demokratie mit einem bestialischen Krieg bekämpft. In Belarus wurde der Aufbruch zur Demokratie unter der Regie Russlands blutig abgewürgt. Das ist das eine.

Und das andere ist: In Polen und Ungarn war der Aufbruch gelungen, bis er geknebelt wurde. Diesmal nicht von aussen, sondern von innen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist passé, die freie Presse gefährdet. Man ist schon wieder mit einem Fuss in der Vergangenheit.

In Rumänien ist der Aufbruch ermüdet. Er taumelt vor und zurück, als hätte die Zeit ihre Richtung verloren. Die Morde der Securitate wurden nie aufgeklärt. Ein grosser Teil der Securitate-Akten wird immer noch unter Verschluss gehalten. Und Geheim­dienstler und ihre Spitzel versorgten sich mit hohen Positionen in der Wirtschaft. Die ehemaligen Kommunisten blieben an der Regierung und ihre Nachfolger sind es wieder. Die Angst vor Russland ist so präsent wie vor 30 Jahren und das nicht ohne Grund.

Und in Ostdeutschland, der ehemaligen DDR, gilt der Aufbruch in die Demokratie heute als Verlust. Dabei hatte die DDR, verglichen mit allen anderen osteuropäischen Ländern, das meiste Glück. Durch die Wieder­vereinigung mit dem westeuropäischen Teil Deutschlands wurde der Aufbruch politisch und materiell buchstäblich mitgetragen. Leider nennt man das heute importierte Demokratie. Und das Eingesperrt­sein hinter der Mauer, das Gehorchen und Schweigen, die Willkür der Partei und ihrer Stasi – all das wird heute als unbeschwertes Leben verklärt. Man jammert über die Brüche in den ostdeutschen Biografien – und das bedeutet doch, dass die Freiheit als Einbruch in einen staatlich programmierten Lebenslauf beklagt wird. Diese Stimmung breitet sich in Ostdeutschland immer ungenierter aus. Gleich nach 1989 wurde sie in Landsmannschafts­manier von den gekränkten Funktionären der Sozialistischen Einheits­partei kultiviert. Das Wahl­programm der Linken war jahrelang ein spiessiges Heimat­programm. Die Rechtsextremen haben sofort begriffen, dass man das gut ins Völkische ausbauen kann.

Dazu passt, dass sich in Sachsen 62 Prozent der Bevölkerung eine «starke Partei» wünschen, in der die «Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert» sei. Und nach einer aktuellen Umfrage sind in Ostdeutschland 23 Prozent der Bevölkerung stark bis sehr stark rechtspopulistisch. Sie sind der Meinung, dass die Parteien­demokratie nicht funktioniert. Dass das Volk von der Presse belogen wird. Dass Politiker nur Marionetten fremder Mächte sind. Dass so der «einheitliche Volkswille» unterdrückt wird. Die AfD meint, dass man wieder «völkisch» denken müsse. National und sozial. Auf vielen grossen Kund­gebungen im Osten Deutschlands wurde Angela Merkel als «Volksverräterin» beschimpft und nach Putin als dem Retter gerufen.

Das völkische Denken verspricht eine gute einfache Welt mit einer kollektiven Identität. Björn Höcke von der AfD sagt, wenn seine Partei an die Macht komme, könne man nicht alle «Volksteile» mitnehmen. Es würden trotzdem «noch genug Angehörige unseres Volkes vorhanden sein». Er träumt von einem «gross angelegten Remigrations­projekt» bei dem man «wohltemperierte Grausamkeit» nicht ausschliessen könne. Diese Phrasen sind mehr als nur die Unterhöhlung der Demokratie. In Ostdeutschland bezirzt die AfD eine Bevölkerung, die die sozialistische Diktatur verklärt, mit dem Versprechen einer völkischen Diktatur. Und das hat Erfolg. Die Ostdeutschen stört es seltsamerweise nicht einmal, dass die AfDler ständig nach Moskau pilgern und Putin loben, obwohl sie über 50 Jahre die russische Besatzung kennenlernen durften. Wenn sie Frieden für die Ukraine fordern, meinen sie damit bedingungslose Unterwerfung.

Mir scheint, im Osten ist die Menschen­verachtung der Diktaturen bereits vergessen. Und im Westen hat man sich ans Vorhandensein der Demokratie so sehr gewöhnt, dass man sich Diktaturen nicht vorstellen will. Und man will nicht wahrhaben, dass man die Demokratie auch von innen zerstören kann. Im Westen scheinen mir viele der individuellen Freiheit müde, weil sie mit Verantwortung verbunden ist. Weil die Demokratie – anders als die Diktatur – kein Schlepptau zum Mitlaufen hat. Sie verlangt selbständiges Denken. Die Politik der Demokratie ist langsam und kompliziert, weil sie ethische Werte beachtet.

Demokratie darf uns nicht müde machen. Ich habe die Diktatur zu spüren gekriegt. Ich kann den Osten nur daran erinnern, wie das war. Und dem Westen erzählen, wie das ist, wenn ein Menschen­leben nichts zählt.

An einem Wintertag ging ich mit meiner Mutter drei Kilometer durch den Schnee ins Nachbar­dorf ein Fuchsfell kaufen für einen Mantel­kragen. Der Pelzkragen sollte das Weihnachts­geschenk meiner Mutter sein. Das Fell war ein ganzer Fuchs und es glänzte kupferrot und wie Seide. Es hatte einen Kopf mit Ohren, eine getrocknete Schnauze und an den Füssen die schwarzen getrockneten Pölsterchen der Pfoten mit porzellan­weissen Krallen und einen so buschigen Schwanz, als wär noch der Wind drin. Der Fuchs lebte. Nicht mehr im Wald, aber in seiner konservierten Schönheit.

Der Jäger hatte rote Haare wie der Fuchs. Das war mir unheimlich. Vielleicht fragte ich ihn deshalb, ob er ihn selbst geschossen habe. Er sagte, auf Füchse schiesst man nicht, Füchse gehen in die Falle.

Das alles sollte ein Mantel­kragen werden. Ich ging noch zur Schule und wollte nicht wie alte Damen einen ganzen Fuchs mit Kopf und Pfoten am Hals, sondern nur ein Stückchen Fell als Kragen. Aber zum Zerschneiden war der Fuchs zu schön. Darum begleitete er mich jahrelang und durfte überall, wo ich wohnte, wie ein Haustier auf dem Fuss­boden liegen.

Eines Tages stiess ich im Vorbeigehen an das Fell und der Schwanz rutschte weg. Er war abgeschnitten. Wochen später war der rechte hintere Fuss abgeschnitten, dann der linke. Ein paar Monate später nacheinander die vorderen Füsse. Der Geheimdienst kam und ging, wie er wollte. Er hinterliess Zeichen, wenn er wollte. Der Wohnungstür sah man nichts an. Ich sollte wissen, dass mir in meiner Wohnung dasselbe passieren kann wie dem Fuchs.

Zu der Zeit arbeitete ich in einer Fabrik und übersetzte die Betriebs­anweisungen für Maschinen, die aus Deutschland importiert wurden. Auch im Büro tauchte jetzt alle paar Tage ein Securitate-Hauptmann auf. Er wollte mich als Spitzel anwerben. Zuerst mit Schmeicheleien. Und als ich mich weigerte, warf er die Blumen­vase an die Wand und drohte. Sein Abschieds­satz war: Es wird dir noch leidtun. Wir werfen dich ins Wasser.

Erst einmal wurde ich dann aber aus der Fabrik geworfen. Jetzt war ich ein Staatsfeind und arbeitslos. Der Geheim­dienstler nannte mich bei den nun folgenden Verhören «parasitäres Element». Das klang wie Ungeziefer. Derselbe Geheimdienst, der meine Entlassung bewirkte, beschuldigte mich nun dafür und erinnerte mich daran, dass es dafür Gefängnis geben könnte. So war das mit den sicheren Arbeits­plätzen. Es war wie beim Militär. Jeder musste jeden Morgen antreten beim Staat. Wenn man morgens um halb sieben zur Arbeit kam, spielte über dem Fabrikhof die Marsch­musik bis hinauf in den Himmel. Man ging im Takt, ob man wollte oder nicht. Jeder kam an seinem Platz an. Die Arbeiter an den Fliess­bändern und wir Büroleute an den Schreib­tischen. Und dann ging man duschen und Haare waschen. Zu Hause war das nicht möglich, weil es in den Wohnungen nur selten Strom, kein warmes Wasser und selbst im Winter keine Heizung gab. Nach dem Duschen wurde Kaffee gekocht, die Finger­nägel lackiert. Zwischendurch bisschen was gewerkelt und dann war schon Mittags­pause mit patriotischen Arbeiter­chören aus dem Lautsprecher. Viel wichtiger als unsere Produktivität war unsere Anwesenheit. Für diesen Gehorsam gab es vom ersten Arbeitstag bis zur Rente jeden Monat ein Gehalt. Ob etwas produziert wurde oder nicht, spielte keine Rolle. Unsere Maxime in der Fabrik war: Mach heute nicht, was du gestern versäumt hast, denn morgen ist es vielleicht nicht mehr nötig. Man dachte, dieser Staat stiehlt uns sowieso das Leben – also stehlen wir ihm wenigstens die Zeit.

Als ich meiner Mutter die Sache mit dem Fuchs erzählte, waren ihm schon alle vier Füsse abgeschnitten.

Meine Mutter fragte: Was wollen die von dir.

Ich sagte: Angst.

Und das stimmte. Dieses kurze Wort erklärte sich selbst. Denn der ganze Staat war ein Angst­gebäude. Es gab die Angst­herrscher und das Angst­volk. Jede Diktatur besteht aus denen, die Angst machen, und den anderen, die Angst haben. Angst­macher und Angst­beisser. Ich habe immer gedacht, Angst ist das tägliche Werkzeug der Angst­macher und das tägliche Brot der Angst­beisser. So war das damals vor 1989 in ganz Osteuropa.

Als sie den verstümmelten Fuchs sah, hatte meine Mutter auch Angst. Angst um mich und Angst um sich selbst.

Sie sagte: Du liegst eines Tages tot im Graben. Dafür hab ich dich nicht grossgezogen.

Und dann schluckte sie, verdrehte die Augen und sagte dazu: Andere applaudieren und verdienen Geld. Und du bringst unsere Familie in Gefahr.

Sie hatte eine doppelte Angst. Angst um mich und Angst vor mir. Diese doppelte Angst ist mir im ganzen Land begegnet.

Ich bekam nie wieder eine feste Anstellung und wusste nicht, wovon ich leben sollte. Ich hatte überhaupt kein Geld. Gelegentlich bekam ich eine befristete Aushilfs­stelle in irgendeiner Schule. Von der Strasse kommend hörte ich das laute Summen der Stimmen aus dem Lehrer­zimmer. Sobald ich die Tür öffnete und im Lehrer­zimmer erschien, wurde es still wie in einer Kirche. Sie schauten mich kurz an und dann flüsterten sie. Je mehr «Kollegen» um mich herum waren, umso deutlicher war ich allein. Wenn ein Schultag zu Ende war, ging ich wie alle zur Bushalte­stelle. Niemand wollte mit mir auf der Strasse gesehen werden. Ein Teil der Lehrer trödelte und hielt sich weit hinter mir. Und der andere Teil beeilte sich und lief weit vor mir her. Das geschah ohne Absprache in der Dressur der Angst.

Genauso schlimm wie die Bedrohung durch den Staat und seinen Geheimdienst war die Einsamkeit. Ich wurde von den anderen Lehrern gemieden. Ihre doppelte Angst isolierte mich. Sie hatten Angst vor dem Staat und sie hatten Angst vor mir. Ich war eine Gefahr.

Ich war ja nur als Aushilfe in der Schule und wunderte mich: Am Ende des Schul­jahres wollten mir mehrere Schüler aus verschiedenen Klassen Kaffee­bohnen schenken. Es gab keinen Kaffee im Land. Ein Kilo kostete auf dem Schwarz­markt mehr als ein Monats­gehalt. Ich wies den Kaffee zurück. Das sprach sich herum und andere Lehrer stellten mich zur Rede und fragten mich, wieso ich mich für was Besseres halte. Sie rechneten mit diesem Kaffee und ich machte ihnen das Geschäft kaputt, schlechte Zeugnisse durch Kaffee­geschenke zu verbessern.

Zum Verwalten der Angst brauchte der Alltag die Korruption. Sie ist die Ökonomie der Unterdrückung. Im geplanten Mangel des Staats bekommt man das Notwendige nur durch Korruption. Für den Überwachungs­staat ist Korruption praktisch, sie besetzt die Zeit auch im Kopf, sie lenkt ab vom Mangel. Jeder Staats­beamte profitiert, die Angst setzt den Preis fest, nicht wie in einer freien Gesellschaft der Markt. Alle sind beteiligt. Die Angst­macher verschieben die grossen Dinge. Den Angst­beissern bleiben die kleinen. Sie können mit Kerzen, die sie vom Arbeits­platz gestohlen haben, das gestohlene Fleisch aus dem Schlacht­haus bezahlen. Oder sich mit Kaffee­bohnen vom Schwarzmarkt gute Noten in der Schule kaufen. Mit Kasetten­rekordern sogar die Prüfungen an der Universität. Das Motto für diesen Handel hiess: Nur nachts wird gestohlen, am Tag wird genommen. Auch die Gefühle wurden zur Ware. Unverbindliche Sexualität war selbstverständlich für einen guten Posten, mal für eine Anstellung, mal gegen die Entlassung. Es gab den Wildwechsel der Material­waren und der Gefühls­waren. Es war Ersatz für die fehlende Freiheit, es war sogar die einzige erlaubte Freiheit. Der Staat schaute zu, wie die Moral zwischen den Leuten verschwand. Alle waren irgendwie kriminalisiert. Und wenn dann jemand dem Regime politisch nicht mehr passte, konnte der Geheimdienst die selbstverständliche Alltags­korruption jederzeit zur Straftat erklären. Das hiess dann nicht politische Verfolgung, sondern Diebstahl.

So hatte sich nach Jahrzehnten Diktatur alles verdreht. Es gab kein ethisches Fundament mehr. Die Gesellschaft hatte ihren Kompass endgültig verloren. Alles war materiell und moralisch ruiniert. Auch die Menschen. Sie machten jahrzehntelang gar nichts, und dann lehnten sie sich auf gegen das Regime. Aber in gleichem Masse auch gegen sich selbst. Die ewig schlechte Laune im Sozialismus kam auch vom Überdruss am eigenen Opportunismus.

In diesen und vielen anderen vergleichbaren Momenten musste ich begreifen, dass es nicht nur Angst­macher und Angst­beisser gab. Die sogenannten Kollegen in der Schule und davor die in der Fabrik – ja die Mehrzahl der Leute in diesem Land waren Angst­träger. So wie sie gelernt hatten, ihre eigene Angst zu verwalten, hatten sie auch gelernt von der Angst der anderen zu profitieren. Sie waren egoistisch, rücksichtslos und machten aus dem Elend mal ahnungslos, mal schamlos das Beste. Sie selber glaubten, sie machen sich nur ein glattes Leben und keine Politik. Aber war doppelte Angst wirklich unpolitisch? Ich glaube nicht. Sie verhinderte das politische Denken, das zum Selbstzweifel hätte führen können. Die Verwaltung der Angst war an und für sich vorauseilender Gehorsam.

Nur wenn man verfolgt war, galt man als Individuum, weil Individuum ein Schimpfwort war. Wegen «Nichtanpassung ans Kollektiv» wurde man sogar entlassen. Das Individuelle durfte es nicht geben, nicht einmal in der Kleidung der Leute. In allen Läden hing die Gleichheit der Hässlichkeit. Zwei, drei Modelle in jeder Saison, staub­graue Farben und viereckig und steif. Und scheussliche quietschende, nach Chemie­derivaten riechende Stoffe. Auf der Strasse hat man das gleiche Kleidungs­stück Hunderte Male gesehen, weil man in den Läden nichts anderes fand. In meinem neu gekauften Kleid bin ich mir alle Tage danach auf der Strasse Dutzende Male selbst begegnet. Und mir schien, dass sich unsere gleichen Kleider voreinander ein bisschen genieren und dass sie besser als wir selber wissen, wie schäbig sie aussehen. Die sozialistische Mode war wie eine Uniform. So schäbig waren auch die Möbel, die Häuser, die Parks, die Strassen. Diktatur war in allen Bereichen des Lebens die Austreibung jeder Schönheit. Schönheit ist eigensinnig und apart und vielfältig.

Der Staat schaffte jegliche Vielfalt ab. Aber die meisten Leute wollten unauffällig sein. Ihre verwaltete Angst brauchte Bevormundung. Ich hatte sogar den Eindruck, dass man dafür dankbar war. Das eigene Vorhandensein auf der Welt wurde fast als ein Geschenk des Staates empfunden.

Wenn der Securist beim Verhör wütend wurde, schrie er: Was glaubst du, wer du bist.

Ich sagte: Ich bin ein Mensch wie Sie.

Darauf sagte er: Das glaubst du. Wir bestimmen, wer du bist.

Die Freiheit – hat der grosse polnische Regisseur Andrzej Wajda einmal gesagt – ist etwas, das manche brauchen und andere nicht. Die Angst­träger von früher brauchten sie damals nicht und heute sind sie die Unterstützer der neuen Angst­macher.

Der grösste Angst­macher von heute, der vom Internationalen Strafgerichts­hof gesuchte Kriegs­verbrecher, war früher ein kleiner Angst­macher. Den Marxismus hat Putin schon längst abgelegt, aber Stalin rehabilitiert. Er schminkt sich jetzt religiös. Er bringt auf der Welt dauernd Leute um und zündet in Moskau gerne Kerzen an. Er hat einen Beicht­vater und man sieht ihn kaum noch ohne den Patriarchen Kyrill. Sein Kirchen­fürst hält die Menschen­rechte für «ketzerischen Götzendienst». In seinem Umfeld, etwa in den Worten von Erzpriester Alexej Tschaplin, heisst es, wahres Christentum bedeute «freiwillige Selbst­versklavung». Tschaplin bewundert auch Lenin, weil der aus den Russen «Rädchen und Schräubchen» einer Staats­maschine machen wollte. Ein Knecht Gottes, so Tschaplin, gehe nicht wählen, sondern nehme demutsvoll sein Los an.

Als Knecht möchte ich nie wieder leben. Auch nicht ohne Wahlen. Nach 1989 konnte ich mir nicht mal im Traum vorstellen, dass die Freiheit wieder infrage gestellt werden kann. Und dass es wieder Angst­macher geben wird, die mich zum Angst­beisser machen wollen. Ja, die Freiheit ist etwas, das manche brauchen und andere nicht. Und sie ist etwas, wovor manche Angst haben und andere nicht. Die Freiheit dürfen wir nicht als selbstverständlich betrachten. Sie könnte uns sonst gestohlen werden.

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