Am Gericht

Aufstand gegen fragwürdige CO2-Zertifikate

Ein kolumbianisches Strafgericht stoppt einen CO2-Deal, weil er die Grundrechte Indigener verletzt. Das Urteil ist ein weiteres Kapitel in der Kontroverse um Kompensations­modelle.

Von Yvonne Kunz, 15.11.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
0:00 / 16:29

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Retten wir die Erde, nicht den Kapitalismus!

In etwa so lässt sich zusammen­fassen, was der damalige bolivianische Präsident Evo Morales der Welt­gemeinschaft am Uno-Klimagipfel 2010 im mexikanischen Badeort Cancún zurief.

«Wir sind gekommen, um die Natur zu retten, nicht, um sie in eine Ware zu verwandeln», sagte er. «Wir sind nicht hierher­gekommen, um den Kapitalismus mit Emissions­handel wieder­zubeleben.» Den Ansatz des Westens, den Klimawandel mit CO2-Zertifikaten zu bekämpfen, wies er zurück.

Die Welt steckte damals in einer schweren Finanzkrise. Überhaupt war am Gipfel von Cancún der Unmut der Entwicklungs­länder deutlich zu vernehmen: Die Reichen seien nicht bereit, ihre eigenen Emissionen zu senken, versuchten aber, den Armen weitreichende Pflichten aufzuerlegen – ohne dafür zahlen zu wollen. So der Tenor.

Trotzdem blieb Bolivien am Ende ein einsamer party pooper.

Alle andern feierten den überraschenden Last-Minute-Deal. Mit dem Cancún-Agreement bekannte sich die Staaten­gemeinschaft erstmals zum Zwei-Grad-Ziel. Und sie einigte sich auf die Einrichtung eines Klimafonds, um Klimaprojekte in Entwicklungs­ländern zu unterstützen.

Zudem verankerten die Gipfel­teilnehmer das Waldschutz­programm REDD+. REDD steht für «Reducing Emissions from Deforestation and Forest Degradation» – auf Deutsch: Minderung der Emissionen aus Entwaldung und Schädigung von Wäldern. Um faire Bedingungen für den Globalen Süden zu schaffen, wo die Waldschutz-Projekte mehrheitlich angesiedelt sein werden, wurden mit den Cancún-Saveguards umfassende Richtlinien erstellt. Die Schutzklauseln dienen insbesondere der Wahrung der Rechte indigener Gemeinschaften.

Heute sind die Projekte im Rahmen von REDD+ etabliert – und die freiwillige CO2-Kompensation ein globales Mega-Business. Insgesamt etwa 2 Milliarden Dollar liessen sich Firmen ihr grünes Image und Private ihr gutes Gewissen 2021 kosten.

Inhaltlich ist das Geschäft allerdings diskreditiert. Enthüllung reiht sich an Enthüllung – die Projekte und Handels­produkte sind mehrheitlich «junk», also Müll. Im besten Fall sind die Programme wirkungslos, im schlechtesten haben sie schädliche Auswirkungen auf die Bevölkerung, während Emissions­händler gutes Geld verdienen.

Evo Morales mag vorübergehend von der Weltbühne verschwunden sein. Seine Message ist es nicht.

«Wir können Mutter Erde nicht in einem Marktsystem handeln», sagte Tom Goldtooth, Kopf der Grassroots-Bewegung Indigenous Environmental Network, am Rande der Welt­klimakonferenz 2021 in Glasgow. CO2-Kompensationen auf indigenem Land seien eine neue Form des Kolonialismus.

Ort: Drittes Strafgericht von Ipiales, Kolumbien
Zeit: Urteil vom 23. August 2023
Fall-Nr.: 2023000095-00
Thema: Cancún-Schutzklauseln, Recht auf Anhörung und informierte Beschlussfassung

Wie sonst der Nebel verbreitet sich Anfang Dezember 2022 die Nachricht eines Stammes­älteren des Volks der Pastos über die Páramos, die Hochmoor­ebenen am Fusse des Cumbal-Vulkans im Süden Kolumbiens.

«Weiss jemand etwas davon?», fragt er in einer Status­meldung auf Whatsapp.

Dazu postet er das Foto eines Dokuments: ein Mandatsvertrag mit der Nummer 002.2022 – abgeschlossen zwischen seinem Reservat, dem Resguardo Indigena El Gran Cumbal, vertreten durch Gouverneur Ponciano Yamá Chirán, und der SPV Business S.A.S. Der Vertrag regelt den Verkauf von CO2-Gutschriften, und zwar rückwirkend ab dem Jahr 2008 und notariell beglaubigt in Bogotá.

Keiner der Chefs der neun Veredas, der Dörfer des Pasto-Reservats, hatte von diesem Deal gehört. Niemand hatte die geringste Ahnung.

Nun aber laufen die Drähte heiss. Junge Pastos vernetzen sich und bilden eine spontane Taskforce, um der Sache nachzugehen.

Sie recherchieren die Chronologie:

  • Abgeschlossen wurde der Mandatsvertrag am 5. April 2022.

  • Ab dem 25. Mai 2022 war das «Proyecto ambiental REDD+ de Protección Pachamama Cumbal» auf der kolumbianischen Zertifizierungs­plattform ColCX aufgelistet.

  • Am 29. Juni 2022 informierte die SPV Business ihren Vertragspartner Chirán, dass es einen Käufer für alle Credits des Reservats von Januar 2018 bis Mitte 2022 gebe. Der Gouverneur akzeptierte noch gleichentags.

  • Am 7. Oktober 2022 gab die Deutsche Certification Body das Programm frei.

Die Taskforce bringt auch die Eckpunkte des Vertrags ans Tageslicht: Die feste Laufzeit beträgt 30 Jahre, verlängerbar bis maximal ein Jahrhundert. Die Erträge gehen zu 40 Prozent an die SPV Business und zu 60 Prozent an die vier Reservate am Gran Cumbal.

Nicht nur die Pasto-Gemeinde ist klammheimlich zum REDD+-Projekt geworden, auch die benachbarten Reservate der Mayasquer, Chiles und Panam sind vom Deal betroffen.

Unruhe legt sich über das Gebiet.

Am 18. Dezember 2022 wird Gouverneur Chirán für eine Aussprache zu einer Gemeinde­versammlung nach Cumbal zitiert. Und auch am 19., 20. und 21. Dezember 2022 wird die Sache im Plenum diskutiert. Die Gemeinden verlangen Antworten: Wie kam es zu diesem Deal? Was beinhaltet er? Wo ist das Geld?

Und vor allem: Warum weiss niemand davon?

Allein deshalb sei der Vertrag, den der Gouverneur mit der SPV Business S.A.S. abgeschlossen habe, missbräuchlich, sagen die Pastos. Der Gouverneur habe versäumt, eine regelkonforme Konsultation mit den betroffenen Gemeinden durchzuführen. Ohne ihre Zustimmung zum Projekt auf der Basis verlässlicher Informationen habe Chirán ihre Kollektiv­rechte verletzt.

Weite Teile der schützens­werten kolumbianischen Dschungel- und Wald­landschaften, insgesamt 600’000 Quadrat­kilometer (die Fläche der Ukraine), befinden sich im Kollektiv­besitz verschiedener indigener Gemeinschaften. Dazu gehört auch das Territorium am Cumbal.

Gouverneur Chirán räumt Fehler bei der Kommunikation ein. Hinsichtlich der konkreten Fragen bleibt er vage. Er legt nichts Schriftliches vor. Erst einige Tage nach der Aussprache verschickt er per Whatsapp eine Projekt­präsentation.

Die meisten Detailfragen bleiben aber auch nach der letzten Versammlung vom 22. Dezember 2022 offen. Was sind die Auswirkungen des Projekts? Was die Rechte und Pflichten aus dem Vertrag? Was beinhaltet die «nachhaltige Bewirtschaftung der Hochmoor­ebenen»? Muss der Strassenplan geändert werden? Was ist mit den heiligen Stätten?

Auffällige Verstrickungen

Ab 2023 ist turnusgemäss Héctor Fidencio Villacriz als neuer Gouverneur für Gran Cumbal zuständig. Aber auch er und seine cabildantes, die Rats­mitglieder, vermögen die Situation nicht zu bereinigen.

Es folgen viele weitere Versammlungen zum «Proyecto ambiental REDD+». Die Gemeinden bitten die Gebiets­verwaltung und die beteiligten Firmen weiterhin vergeblich, Rechenschaft über den Deal und den Verbleib der Gelder abzulegen.

Keine der Firmen reagiere auf ihre schriftlichen Anfragen, berichten die Vertreter der Gemeinden.

Insbesondere die jungen Pastos, die Fakten-Checkerinnen, sind misstrauisch geworden. Sie glauben, der frühere Gouverneur und die involvierten Firmen seien betrügerisch vorgegangen. Die Rechercheure stossen auf auffällige Verstrickungen: Die beiden Unternehmen, die das Projekt entwickelten, die mexikanischen Global Consulting & Assessment Services und ihre hundert­prozentige kolumbianische Tochter SPV Business, sowie die Zertifizierungs­gesellschaft Deutsche Certification Body haben die gleiche Person in Spitzen­funktionen: Bárbara Lara Escoto.

Die Gruppe drängt auf die Nichtigkeit des Vertrags.

Die Akten zum Projekt sollen der Bevölkerung endlich ausgehändigt werden.

Erst dann könne die Bevölkerung des Gebiets über die Angelegenheit entscheiden. Und zwar so, wie in den Cancún-Schutzklauseln vorgesehen: unter aktiver Beteiligung der indigenen Bevölkerung, unter Achtung des Wissens der Vorfahren und der kulturellen Praxis des Dialogs.

Wobei einzelne Dörfer schon keine Lust mehr haben auf einen Dialog. Sie lehnen das Projekt nach den gemachten Erfahrungen vehement ab. Anderseits werden auch Stimmen laut, die sagen, die Kritiker verhinderten die Weiter­entwicklung des Gebiets. So ein Projekt bringe auch Vorteile.

Als Ende März 2023 bezüglich der Details des CO2-Deals immer noch wenig Klarheit herrscht und die Uneinigkeit über das weitere Vorgehen gleichzeitig zunimmt, rufen zwölf der jungen Pastos das Lokalgericht an.

Sie machen geltend, Projekt und Vertrag hätten keine Legitimität. Das habe zu Unstimmigkeiten, Konflikten und tiefgreifenden Meinungs­verschiedenheiten in der Bevölkerung der Páramos geführt.

Das Lokalgericht ordnet umgehend die Aussetzung des Projekts in Cumbal an und legt Mandats­vertrag N° 002.2022 auf Eis.

Was den zuständigen Einzelrichter Carlos Alexander Coral Cuatín besonders stört: Auch im Gerichts­verfahren sei nichts über den Verbleib der Mittel aus dem Verkauf der Zertifikate bekannt geworden.

Darin sieht der Richter den Hauptgrund für die Uneinigkeit der indigenen Gemein­schaften am Gran Cumbal. Er verpflichtet den ehemaligen Gouverneur und die involvierten Firmen, die Geldflüsse innert zwei Monaten offenzulegen.

Ausserdem sei innert sechs Monaten eine gesetzes­konforme Konsultation der Bevölkerung durchzuführen. Die relevanten Bestimmungen der Vereinten Nationen, die Cancún-Schutzklauseln sowie die nationalen Vorschriften zur Zertifizierung von CO2-Handels­projekten einschliesslich der dazugehörigen Rechtsprechung des kolumbianischen Verfassungs­gerichts referiert er auf über 30 Seiten.

Exekutive, Legislative und Judikative in einer Person

Ex-Gouverneur Chirán geht sofort in Berufung. Er habe damals die Autorität gehabt, den Mandats­vertrag im Namen des Verwaltungs­gebiets Cumbal zu unterschreiben.

Chirán sieht es so: Als gewählter Ober­gouverneur sei er Exekutive, Legislative und Judikative der Gemeinden gewesen.

Auch die SPV Business S.A.S. zieht den Entscheid weiter und verlangt Abweisung der Klage. Das Lokal­gericht sei erstens gar nicht zuständig und liege zweitens falsch. Eine Vorab­konsultation sei vorliegend nicht erforderlich, denn das Projekt habe keinerlei Folgen für die indigene Bevölkerung, ihre Traditionen und Identität. Es könne deshalb problemlos sofort umgesetzt werden.

Der Rechtsvertreter des kolumbianischen Innen­ministeriums schreibt in seinem Rekurs: Die Genehmigungs­verfahren von REDD+-Projekten oblägen der eigens dafür geschaffenen «Direktion für vorherige Konsultationen». Und dort sei bislang kein Konsultations­verfahren für das Projekt hängig.

Zudem bittet das Innen­ministerium um Klärung. Das erst­instanzliche Urteil sei in seinen juristischen Ausführungen «wirr».

Run auf die Indigenen-Gebiete

Der Fall landet nun beim dritten Strafgericht von Ipiales. Die vorsitzende Richterin Lorena del Carmen Pérez Rosero befasst sich als Erstes mit der Zulässigkeit der Klage.

Und stellt fest:

Es handle sich um eine Tutela-Klage, eine Schutz­klage für Fälle, in denen keine anderen Rechts­mittel zur Verfügung stehen. Hierzu habe das kolumbianische Verfassungs­gericht ohne Wenn und Aber festgehalten, dass die Tutela-Klage das Rechts­mittel der Wahl ist, wenn es um die Rechte indigener Gemeinschaften auf Anhörung und auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu Projekten wie dem vorliegenden geht.

Indigene Völker genössen besonderen verfassungs­rechtlichen Schutz, so das Strafgericht weiter. Denn sie befänden sich seit jeher in einer prekären Situation, weil die Mehrheits­gesellschaft ihre Lebensweise bedrohe und weil Muster der Diskriminierung noch nicht überwunden seien.

Im konkreten Fall zu behaupten, die indigenen Völker seien vom Projekt nicht direkt betroffen, sei «widersinnig».

In den letzten Jahren, so Richterin Pérez Rosero, habe in ganz Kolumbien ein Run auf die Indigenen-Gebiete eingesetzt, um CO2-Projekte umzusetzen. Schon zuvor habe es Fälle wie diesen gegeben: Ganze Gemeinschaften seien beim Entscheid über CO2-Programme übergangen worden.

Intransparenz stifte Unfrieden.

Deshalb stoppt auch das zweitinstanzliche Gericht von Ipiales das REDD+ Projekt «Pachamama Cumbal».

Ein nüchternes Fazit

Für das Strafgericht zeigt der Fall in Cumbal exemplarisch die enorme Tragweite rund um die CO2-Zertifikate – und die besonderen Herausforderungen an die Gesellschaft; vor allem, wenn es um kollektiven Grundbesitz geht. Am Gran Cumbal leben mehrere Völker zusammen, mit jeweils separaten Verwaltungen. Die gemeinschafts­übergreifende Verwaltung ist auf der institutionellen Ebene nur schwach ausgestaltet.

Erschwert werde die Sache durch den zwar komplexen, aber unzulänglichen rechtlichen Rahmen, hält das Gericht fest: Zwar werde auf allen Ebenen die Einbindung der indigenen Gemeinschaften vorgeschrieben. Dabei bleibe aber offen, wie diese Einbindung zu erfolgen hat. Das biete zu viel Spielraum.

Der Staat sei enorm gefordert bei der Überprüfung, ob die Rechte der betroffenen Gemeinschaften gewahrt werden, so das Gericht. In Kolumbien seien Verschärfungen für Zertifizierungs­programme angezeigt. Es brauche strengere Anforderungen, um sicherzustellen, dass tatsächlich eine CO2-Minderung stattfinde.

Und zu guter Letzt:

Für Käufer der CO2-Zertifikate sei es schwierig, zu überprüfen, ob die Gutschriften, für die sie zahlen, auch tatsächlich zu Emissions­reduktionen führten.

Denn, stellt das Strafgericht von Ipiales nüchtern fest:

Oftmals existierten solche Reduktionen nur auf dem Papier.

Illustration: Till Lauer

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