«Nach dem, was geschehen ist, gibt es keinen Raum mehr für Verhandlungen.» Rauch­schwaden ziehen durch die Stadt Aschkelon im Süden Israels. Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

«Dieser Krieg wird die Annäherung Israels an die arabischen Staaten begünstigen»

Die Massaker an israelischen Zivilisten lösen Entsetzen aus. Welche Ziele verfolgt die Hamas mit dem Überfall? Was werden die Folgen sein? Ein Gespräch mit dem Islamismus-Experten Olivier Roy.

Von Daniel Binswanger, 13.10.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
0:00 / 13:55

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Herr Roy, die Hamas hat Israel überfallen und entsetzliche Terror­akte begangen. Seit 2007 herrscht die Gruppe über den Gaza­streifen. Heute muss man wohl definitiv den Schluss ziehen, dass sie eine fanatische Terror­organisation ist.
Wer betrachtet, was die letzten Tage geschehen ist, kommt nicht darum herum. Aber die Leitfrage für die politische Analyse kann nicht die Frage sein, was der eigentliche Charakter der Hamas ist. Die Hamas, wie auch immer man ihre Methoden qualifiziert, ist eine militärische und politische Macht. Sie hat eine bestimmte Strategie, sie verfolgt bestimmte Ziele. Wir müssen die Strategie der Hamas analysieren.

Was sind die Ziele der Hamas? Wer entschied über den Überfall auf Israel?
Es erscheint evident, dass es die Hamas-Führung selbst war, die sich für den Krieg entschieden hat – nicht der Iran. Wenn der Iran die Fäden ziehen würde, dann hätte er einen Dreifronten­krieg gegen Israel gestartet: Angriffe nicht nur aus Gaza heraus, sondern auch von Norden durch die Hizbollah und in den besetzten Gebieten im Westjordanland.

Zur Person

Jerome Panconi/Opale/Laif

Der Orientalist und Politologe Olivier Roy zählt zu den führenden französischen Experten für den politischen Islam. Er war langjähriger Berater der französischen Regierung, übernahm diplomatische Missionen für die Uno und die OSZE in Afghanistan und Zentral­asien und ist heute Professor am Europäischen Hochschul­institut in Florenz. Roy hat in zahlreichen Publikationen die heutige islamische Welt analysiert. In seinem Buch «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», analysiert er den islamistischen Terror als eigentlichen Todeskult.

Es gab auch Scharmützel und die Infiltration von Kämpfern an der Nord­grenze Israels.
Das ist richtig, und man kann eine weitere Eskalation nicht ausschliessen. Bis anhin jedoch entsteht der Eindruck, dass die Hizbollah nur eine Art Minimal­service bietet. Natürlich zeigt sie sich jetzt solidarisch, lässt ihrerseits die Muskeln spielen. Aber nach einem Kriegs­eintritt sieht es vorderhand nicht aus. Und auch in den besetzten Gebieten ist bisher keine neue Intifada losgebrochen. Aus iranischer Sicht hätte es wenig Sinn, die Hamas allein in einen Kampf zu schicken, den diese nicht gewinnen kann.

Nur ein Dreifrontenkrieg könnte Israel gefährlich werden?
Auch einen Dreifrontenkrieg würde Israel gewinnen. Aber er wäre eine bedeutend grössere Bedrohung. Es ist im Übrigen auffällig, dass die israelische Regierung nicht den Iran für den Hamas-Überfall verantwortlich macht. Und auch die iranische Führung hat ja explizit deklariert: Wir haben damit nichts zu tun.

Wenn es also der Entscheid der Hamas-Führung war, Israel anzugreifen: Weshalb tut sie das?
Die Hamas ist in einer Sack­gasse gewesen. Es gibt nun schon seit langen Jahren ein Arrangement zwischen der Hamas, Israel und der internationalen Gemeinschaft: Die Hamas herrscht vollkommen unangefochten und autokratisch über 2,2 Millionen Palästinenser, bekommt internationale Hilfs­gelder und verwaltet den Gaza­streifen. Sie ist eine Art Gaza-Regional­verwaltung, eingesetzt oder zumindest geduldet von Israel und der internationalen Staaten­gemeinschaft. Politisch aber wird die Hamas nicht anerkannt. Die meisten westlichen Mächte betrachten sie nicht als legitime Vertreterin palästinensischer Ansprüche, sondern als Terror­organisation. Sie hätte sich in Gaza wohl noch sehr lange an der Macht halten können, aber sie hat nicht die geringste politische Perspektive. Diese Blockade wollte die Hamas mit ihrem Angriff auf Israel durchbrechen.

Und das sollte gelingen durch entsetzliche Terrorakte?
Ich denke nicht, dass der Angriff auf Israel primär als Terror­akt geplant war. Der Plan dürfte gewesen sein, Israel in ein militärisches Dilemma zu stürzen. Indem es der Hamas gelungen ist, die israelische Grenze zu überwinden und mit einer grossen Zahl an Kämpfern auf israelisches Gebiet vorzudringen, hat sie überraschende Stärke gezeigt. Sie wollte sich damit zurück ins Spiel bringen, die anderen arabischen Staaten dazu zwingen, ihre Führungs­macht anzuerkennen. Das eigentliche Ziel muss gewesen sein, möglichst viele Geiseln nach Gaza zu entführen. Die Hamas wollte sich ein Pfand verschaffen, um einen israelischen Gegen­schlag zu verzögern oder zu verhindern. Sie wollte die israelische Regierung in ein schwer zu lösendes Dilemma stürzen.

Dieser Plan geht nicht auf. Alles deutet darauf hin, dass die Israelis nun in Gaza einmarschieren.
Die Hamas hat einen horrenden, auch für sie selbst zerstörerischen Fehler begangen: die barbarischen Massaker an einer grossen Zahl von israelischen Zivilisten. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie nicht geplant waren, jedenfalls nicht in diesen Dimensionen.

Massaker an Hunderten von Zivilistinnen sollen so etwas sein wie eine operationelle Panne?
Das würde ich so nicht behaupten. Aber es ist davon auszugehen, dass die Hamas mit viel grösserem militärischem Widerstand gerechnet hat, dass sie nicht damit rechnete, so weit auf israelisches Territorium vordringen zu können. Sie hat ihre fanatisierten Kämpfer wohl über die Grenze geschickt in der Erwartung, sie würden sich hauptsächlich Feuergefechte mit Militär­einheiten liefern – und das abscheuliche Morden geriet dann wohl auch deshalb vollkommen ausser Kontrolle, weil die Hamas häufig gar nicht auf militärische Truppen, sondern auf Zivilisten stiess. Es hat allerdings wenig Sinn, darüber zu spekulieren, welche Befehle genau die Hamas-Kämpfer hatten, als sie auf israelisches Gebiet vordrangen. Entscheidend ist: Die Massaker haben stattgefunden.

Mit den Terrorakten hat die Hamas ihren militärischen Erfolg zunichtegemacht?
Mit den Massakern hat sich die Hamas schwerst beschädigt, vermutlich selbst zerstört. Ohne die Massaker hätte der Überfall auf Israel für sie ein strategischer Erfolg sein können: eine militärische Bravour­leistung, gefolgt von einer Geisel­nahme im grossen Stil. In der aktuellen Lage werden ihnen die Geiseln keinen entscheidenden Nutzen mehr bringen.

Weshalb?
Die begangenen Kriegs­verbrechen sind so massiv, dass die israelische Regierung überhaupt keine Wahl hat: Sie muss kompromisslose Härte zeigen. Sie wird in Gaza einmarschieren und voraussichtlich die Hamas vernichten. Nach dem, was geschehen ist, gibt es keinen Raum mehr für Verhandlungen. Wenn es nicht zu den Massakern gekommen wäre, hätten die Israelis vermutlich tatsächlich verhandelt, um das Leben der Geiseln zu retten.

Jetzt wird man die Geiseln opfern?
Nein, es werden Versuche gemacht, so viele wie möglich zu retten. Katar und wohl auch Ägypten haben ja schon eine Vermittler­rolle eingenommen, es soll den Versuch geben, die israelischen Kinder in den Händen der Hamas gegen palästinensische Frauen auszutauschen, die in Israel in Haft sind. Zudem wird es sicherlich Kommando­aktionen geben, um Geiseln zu befreien – nur schon, um den Beweis zu führen, dass man wirklich alles Menschen­mögliche versucht. Aber ganz egal, ob die Verhandlungen gelingen und ob die Kommando­aktionen erfolgreich sind: Die Israelis werden einmarschieren. Sie können der Rettung der Geiseln nicht mehr die Priorität einräumen.

Die Hamas hat mit ihrem Überfall die angestrebten Ziele also völlig verfehlt.
Der Plan ist gescheitert – und der israelische Gegenschlag wird furchtbares Leid über die Zivil­bevölkerung in Gaza bringen. In politischer Hinsicht ist jedoch ein anderer Aspekt entscheidend: Der Überfall der Hamas führt dazu, dass der Palästina-Konflikt sich regionalisiert. Dieser Krieg wird kaum zu einem internationalen Brenn­punkt werden, der die ganze arabische Welt gegen Israel mobilisiert.

Woran lesen Sie das ab?
Es herrscht grosse Empörung darüber, dass in vielen westlichen Gross­städten – etwa in New York, Sydney oder Berlin – Solidaritäts­kundgebungen mit der Hamas stattfinden, ja dass die fürchterlichen Terror­akte geradezu gefeiert werden. Diese Empörung ist verständlich, aber wir sollten eine andere Entwicklung auch im Blick haben: In den arabischen Haupt­städten ist es ruhig geblieben. In Kairo, Tunis oder Rabat gab es keine Demonstrationen, wurden keine israelischen Fahnen verbrannt. Das ist neu. Bisher war die «arabische Strasse» ein enorm wichtiger Faktor im Palästina-Konflikt. Beim jetzigen Überfall spielt sie keine Rolle. Hörbar ist höchstens die «europäische Strasse». Die Barbarei der Terror­akte der Hamas hat die arabische Solidarität unterminiert. So etwas kann und will man nicht mittragen. Das wird auch längerfristige Konsequenzen haben.

Welche?
Es mag paradox erscheinen: Viele Analysen kommen jetzt zum Schluss, dass die Hamas aktiv geworden sei, um die Abraham-Abkommen – also die Friedens­verträge mit einzelnen Golf­staaten – zu schwächen und vor allem um zu verhindern, dass die Annäherung von Israel und Saudi­arabien zu einem entsprechenden Abkommen führt. Fürs Erste dürfte der Prozess nun tatsächlich zum Still­stand kommen. Saudi­arabien wird keinen Friedens­vertrag unterzeichnen mit Israel, während Israel im Krieg ist gegen die Hamas. Mittel- bis länger­fristig dürfte aber genau das Gegenteil eintreten: Die Hamas hat sich durch ihre Terror­akte isoliert. Es ist für die arabischen Staaten nicht mehr interessant, für sie Partei zu ergreifen. Die Regierungen stehen nicht mehr unter Druck ihrer eigenen Bevölkerung, dies zu tun – oder jedenfalls sehr viel weniger. Die Annäherung Israels an die arabischen Staaten wird durch den Überfall auf Israel temporär verzögert. Im Grunde wird dieser Krieg die Annäherung aber begünstigen.

Die Hamas hat ihrem Überfall auf Israel den Code-Namen «Al-Aqsa-Flut» gegeben. Sie behauptet, der Angriff habe der Befreiung der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempel­berg in Jerusalem gedient. Das sind die klassischen Strategien, um die arabischen Massen zu mobilisieren.
Diese Propaganda kann weiterhin funktionieren. Aber es hängt auch stark davon ab, wie die israelische Regierung sich verhält. Die nichtreligiösen Kräfte werden jetzt gestärkt in Israel, Netanyahus Allianz mit den Ultra­religiösen, die in der Tat die vollständige Kontrolle über den Tempel­berg zurückerlangen wollen, wird nun abgelöst durch eine Notstands­regierung, in der die laizistischen Kräfte besser vertreten sind. Es ist zu erwarten, dass die israelische Politik mit Bezug auf den Tempel­berg wieder zurück­haltender werden wird, mindestens solange der Kriegs­zustand herrscht. Israel wird da keine Angriffs­fläche bieten wollen. Das wird es schwer machen für die Hamas, in der Rolle der Al-Aqsa-Verteidigerin die Sympathien der arabischen Massen zu erobern.

Der Krieg wird das gemässigte, nichtreligiöse Israel stärken?
Ja, aus zwei Gründen. Erstens: Netanyahu ist politisch tot. Er hat die rechteste, nationalistischste, ultrareligiöseste Regierung aller Zeiten geführt – und sicherheits­politisch vollkommen versagt. Zweitens: Die Israelis müssen jetzt an die Front gehen – nur die Ultraorthodoxen werden in ihren Talmud-Schulen bleiben, weil ein grosser Teil von ihnen vom Militär­dienst dispensiert ist. Das wird die Forderungen der Ultrareligiösen nicht populärer machen. Kriege führen häufig zu ideologischer Radikalisierung. Aber in Israel dürften nun eher die pragmatischen Kräfte gestärkt werden.

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