Heute sagt Roland Graf: «Als ich endlich darüber reden konnte, bin ich freier geworden.»

30 Jahre Schweigen

Roland Graf wurde als junger Mann vergewaltigt. Während Jahrzehnten konnte er nicht darüber sprechen. Jetzt will er erzählen.

Von Jana Avanzini (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 12.10.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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An einem Freitagabend im Oktober 1984 betritt ein junger Mann das Restaurant Flora in Luzern, setzt sich an die Bar und bestellt ein Bier. Er ist 22 Jahre alt, hat gerade seine zweite Lehre als kaufmännischer Angestellter abgeschlossen, ein schüchterner, zurück­haltender Typ. Ein Einzel­gänger, der die neuen Freiheiten geniesst, seit er nicht mehr zu Hause beim strengen Vater lebt.

Roland Graf wohnt erst seit kurzem in Luzern, er hat noch keine richtigen Freunde gefunden, und schon gar keine Freundin. Als sich ein Mann zu ihm an die Bar setzt und ein Gespräch mit ihm beginnt, ist er nicht unglücklich.

Doch diese Begegnung wird Roland Graf sein ganzes Leben verfolgen. Sie wird sein Leben prägen, ihn daran hindern, sich zu öffnen. Sie wird in ihm Selbsthass, Verachtung für sich und andere Menschen wachsen lassen und Gedanken, das eigene Leben zu beenden. Er wird dreissig Jahre brauchen, um darüber reden zu können, was ihm nach diesem Abend im Oktober 1984 im Restaurant Flora in Luzern widerfuhr.

Heute kann er es aussprechen: «In dieser Nacht wurde ich vergewaltigt.»

Nur ein Glas Wein

Der Mann, der mit Roland an der Bar sitzt, ist rund zwanzig Jahre älter als er. Ein Berufsschul­lehrer, wie sich herausstellt. Die beiden unterhalten sich, der Mann lädt ihn ein, noch ein Glas Wein bei ihm zu trinken. Warum nicht noch einen Absacker zum Abschluss? Roland denkt sich nichts dabei, geht mit. Die beiden trinken, sprechen über Ausbildung und Schule, da merkt Roland, wie er schläfrig wird.

«Du wirst müde, gell», sagt der Mann und führt Roland ins Wohnzimmer. «Leg dich doch kurz hin.»

Roland nimmt schon kaum mehr etwas wahr, als er auf das weisse Fell sinkt, das am Boden liegt. «Ich wollte mich wehren, aber ich konnte nicht. Ich lag da wie ein nasser Sack. Irgendwann, nachdem es vorbei war, schlief ich ein.»

Als Roland Graf seine Erlebnisse schildert, ist es später Nachmittag. Wir sitzen in der Jazzkantine in Luzern an einem kleinen Holz­tischchen am Fenster, trinken Wasser. Hier hatte er mich angesprochen und gefragt, ob ich seine Geschichte erzählen würde.

Als Roland am nächsten Morgen aufwacht, spürt er die Schmerzen, doch sagen kann er nichts. Er steht auf, zieht sich an und geht. Auf dem Weg nach draussen drückt ihm der Mann zwanzig Franken in die Hand. «Für ein Frühstück», sagt er.

Es ist ein Samstag, aber Roland muss arbeiten. Also steht er um acht wie immer im Geschäft, starrt den ganzen Vormittag zum Fenster hinaus in den grauen Himmel. «In meinem Innern war etwas passiert – etwas war kaputt­gegangen. Und ich glaube, ich wusste damals schon, dass es nie mehr gut würde.»

Bevor er vergewaltigt wurde, hatte Roland noch nie einen sexuellen Kontakt mit einem Menschen.

Nach dieser Nacht macht sich Roland Vorwürfe. Sie wachsen mit jedem Jahr. «‹Du bist selbst schuld›, sagte die Stimme in meinem Kopf, jeden Tag.»

Von nun an lebt Roland zwei Leben. In Gesellschaft hält er die fröhliche Fassade aufrecht, alleine bricht er zusammen. Innert Minuten stürzt er zu Hause in tiefe Löcher. Er sucht Ablenkung, will sich betäuben und beginnt, sich «in den falschen Kreisen» zu bewegen, wie er sagt.

Er schlägt sich mit neuen Bekannten die Nächte um die Ohren – bloss nicht alleine sein. In der Gruppe wird einiges konsumiert, Medikamente, Drogen; Roland aber trinkt nur. Er mag das Rauchen nicht, lässt damit eine ganze Reihe Substanzen aus, die seine neuen Freunde konsumieren. Heute ist er überzeugt: Hätte er sich das Rauchen nicht verboten, wäre er in dieser Zeit richtig abgestürzt.

Ein Abend jedoch lässt Roland aufwachen. Betrunken fährt die Clique mit dem Auto durch Luzern. Der Fahrer verursacht einen Unfall, kollidiert mit einem anderen Auto. Doch statt auszusteigen, drückt er aufs Gas, flüchtet vom Unfallort. Roland fühlt sich schrecklich, bricht den Kontakt zur ganzen Gruppe ab.

Er fängt sich ein wenig, findet eine Freundin – oder eher: sie ihn. Er selbst würde sich niemals trauen, den ersten Schritt zu machen. Die Beziehung dauert fast ein Jahr, doch öffnen kann sich Roland nicht. Kommt sie ihm zu nahe, ergreift er die Flucht. So geht es ihm mit allen Menschen. Sich jemandem anzuvertrauen, wagt er nicht. So trägt er die Last, die Scham, die Schuld weiter mit sich.

Noch heute ist Roland überzeugt, dass er nicht ernst genommen worden wäre.

Wie er die Tat hätte beweisen können? Ob man ihn überhaupt untersucht hätte? So weit gingen Rolands Gedanken damals gar nicht. Er sagt: Bei Frauen, die vergewaltigt wurden, hiess es, sie hätten es provoziert, oder schlimmer noch: es verdient. Dass so was auch Männern angetan werden könnte, das war unvorstellbar. Oder jedenfalls nichts, worüber überhaupt gesprochen wurde.

Vergewaltigte Männer: Null

Psychotherapeut Joseph Bendel bewegte sich bereits in den 1980er-Jahren in Kreisen, die sich für neue Männlichkeiten einsetzten. 1995 war er in Luzern Gründungs­mitglied des «Mannebüros», einer Anlaufstelle für Männer. Gegen Gewalt, für Kommunikation. Bendel gibt Roland Graf recht. Hätte er sich damals getraut und sich bei der Polizei gemeldet, wäre er wahrscheinlich ausgelacht worden.

«Er sei doch sicher eine Schwuchtel, die das gewollt habe. So war der Ton damals», sagt Bendel. Der Mann ein Opfer? Das gab es nicht.

«Männer gaben sich auf den Grind, und das wurde nicht als Gewalt wahrgenommen, sondern als ein Kräfte­messen: Wer ist der Stärkere? Dass es dabei Opfer- und Täter­rollen gibt, darüber dachte man nicht einmal im Ansatz nach.» Selbst beim damaligen Nottelefon wäre Roland Graf 1984 wohl aufgelaufen, glaubt Bendel. In diesem Jahr erst gegründet, war das Telefon explizit für vergewaltigte Frauen vorgesehen und wurde von der Frauen­zentrale betrieben. Zur Opferhilfe­beratung wurde es erst zehn Jahre später ausgebaut.

Als Männer 1992 in Luzern im Rahmen der Jugoslawien­kriege gegen die Vergewaltigungen von Frauen auf die Strasse gingen, sei das «revolutionär» gewesen, sagt Joseph Bendel. Es gab wenige Männer, die öffentlich über Gefühle sprachen, über Traumata, über Macht- oder Wehrlosigkeit. Ein Mann war stark, einem Mann passierte nichts, das er nicht selbst wollte.

Heute weiss man: 70 Prozent aller Gewaltopfer sind Männer – zum grössten Teil Opfer von Gewalt anderer Männer. Auch bei sexueller Gewalt gibt es einen namhaften Anteil von Buben und Männern unter den Opfern. In Deutschland geht man bei minder­jährigen Opfern von rund einem Drittel Buben aus. Bei den erwachsenen Opfern sind schätzungs­weise knapp 10 Prozent männlich. Die Schweizer Kriminal­statistik weist für das Jahr 2022 90 männliche Opfer von sexueller Nötigung aus (gegenüber 645 weiblichen). Als Opfer von Vergewaltigung wurden 837 Frauen erfasst. Und 0 Männer.

Das hat einen einfachen Grund: Laut geltendem Gesetz kann ein Mann nicht vergewaltigt werden. Bis heute würde das, was Roland Graf angetan wurde, vor Gericht nicht als Vergewaltigung behandelt (ganz abgesehen davon, dass die Tat mittlerweile verjährt wäre). Artikel 190 des Strafgesetz­buches definiert eine Vergewaltigung aktuell so: «Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt (...)»

Das wird sich im kommenden Jahr ändern: Im Rahmen der Revision des Sexual­strafrechts soll der Artikel geschlechts­neutral definiert werden. SP-Nationalrätin Tamara Funiciello kämpfte die letzten Jahre intensiv für die Revision des Sexual­strafrechts und geht davon aus, dass das neue Gesetz am 1. Juli 2024 in Kraft treten wird.

Dass es voraussichtlich nicht schon am 1. Januar so weit sein wird, liege vor allem an der Arbeit, die bei der Umsetzung noch anstehe. «Was als Thema in der feministischen Bewegung grosse Aufmerksamkeit erhielt, hat man teilweise in der Straf­verfolgung gar nicht mitbekommen», sagt Funiciello. Bevor das neue Gesetz in Kraft treten kann, müssen erst Verordnungen und Befragungs­methoden neu geschrieben, juristisches Personal, Polizisten und Richterinnen geschult werden. Die Veränderung, sagt Funiciello, sei nicht nur strafrechtlich relevant, sie werde auch symbolisch in den Köpfen unserer Gesellschaft etwas verändern.

Manchmal steht Graf in der Stadt plötzlich seinem Vergewaltiger gegenüber.

Roland Graf glaubte sich allein mit seinem Erlebnis. Er konnte sich niemandem anvertrauen, weder den Behörden noch seinem direkten Umfeld. Seine Mutter war sechs Jahre zuvor gestorben – die einzige Person, der er immer alles hatte erzählen können. Sein Vater war ein gewalttätiger Patriarch, zu seinen Brüdern, die einige Jahre älter sind und früh schon zu Hause auszogen, hatte er damals ein distanziertes Verhältnis. «Mit dieser Ausgangslage bist du schlichtweg verloren, wenn dir so was passiert. Auch heute noch», sagt Joseph Bendel.

Ja nicht zu nahe

Roland findet ein paar Jahre später eine neue Freundin. Die beiden lernen sich bei der Arbeit kennen, freunden sich an, bald macht sie den ersten Schritt. Roland ist glücklich, über ein Jahr lang. Doch als sie von einer gemeinsamen Zukunft zu sprechen beginnt, verschwindet er, ohne sich zu verabschieden. Kleider, die noch bei ihr liegen, lässt er zurück. «Ich konnte niemanden wirklich an mich heranlassen», sagt er, «ich hatte kein Vertrauen mehr in andere Menschen.» Er hat immer wieder kurze Beziehungen, oberflächliche, körperliche Verhältnisse mit Frauen. Doch sobald es emotional wird, flüchtet er.

Luzern ist keine besonders grosse Stadt, und manchmal kommt es vor, dass Roland Graf plötzlich seinem Vergewaltiger gegenübersteht. Sei es beim Einkaufen, beim Kaffee oder auf dem Weg zu einem Treffen – plötzlich ist da dieser Mann. Dann kommt alles wieder in ihm hoch. Er spürt Phantom­schmerzen, wechselt die Strassen­seite, versucht, sich der Begegnung zu entziehen. Der Mann tut, als seien sie sich nie begegnet. Roland Graf hält es genauso.

Legt ihm ein Mann die Hand auf die Schulter, verkrampft sich sein Körper. Selbst die kleinste Berührung ist ihm zu viel. «Ich hasse es bis heute, wenn mich ein Mann anfasst», sagt er.

Dreissig Jahre lang trägt er das Leid mit sich, ohne es mit anderen Menschen teilen zu können. «Ich hatte eine solche Wut, jahrelang, stellte mir vor, sein Haus anzuzünden und Schlimmeres. All die Jahre mit diesen Gefühlen und dieser Einsamkeit haben mich eigen gemacht. Das wird bleiben. Aber als ich endlich darüber reden konnte, bin ich freier geworden. Die Anspannung ist weg.» Hoch kommen die Gefühle fast nur noch, wenn Roland Graf Artikel liest über andere Taten, über Verurteilungen zu nur einem Jahr auf Bewährung oder gar lediglich einer Geldstrafe. «Dann spüre ich die Wut wieder und die Hilflosigkeit. Denn ich weiss, was das Opfer durchmacht.» Und weil es für das Opfer selbst mit einer Verurteilung lange nicht vorbei sei.

Bei ihm begannen die Tiefs wenige Monate nach der Vergewaltigung. Sie rieben ihn jahrzehntelang auf. Auf zwei gute Wochen folgten drei, in denen es ihn fast zerriss. «Es frass in mir, doch ich konnte nicht darüber sprechen.» Sein Halt war in dieser Zeit die Arbeit – dafür raffte er sich immer wieder auf. Und fürs Theater.

Ein erster Versuch

Schon als Jugendlicher spielte Roland in einem Jungmannschafts­theater. 2004, zwanzig Jahre nachdem er vergewaltigt worden ist, beginnt er wieder damit. Bald spielt er bei verschiedenen Laien­truppen, manchmal engagiert er sich in bis zu drei Produktionen pro Jahr. Im Theater ist er Teil einer Gruppe, doch nach ein paar Monaten ist die Produktion vorbei und man kann sich wieder zurückziehen.

Im Theater gewinnt er erstmals wieder etwas Vertrauen in die Menschen. Nach ein paar Jahren versucht er ein erstes Mal, jemandem von seiner Geschichte zu erzählen. Einer Bekannten aus dem Theater sagt er bei einem Treffen, dass ihm etwas widerfahren sei. Eine Andeutung erst, das Wort Vergewaltigung geht ihm noch nicht über die Lippen. Doch die Reaktion seiner Gesprächs­partnerin lässt ihn gleich wieder verstummen. «Sie liess mich nicht erzählen, fragte sofort, weshalb ich mich denn nicht gewehrt hätte», erinnert sich Roland Graf an das Gespräch. «Da machte ich gleich wieder zu.»

2013 wird er mit Verdacht auf einen Herzinfarkt ins Spital eingeliefert. Die Symptome legen sich, doch während der Abklärungen hat man ihm Betablocker verschrieben. So landet eine 100er-Packung in seinem Besitz. Als er aus dem Spital zurück nach Hause kommt, nimmt er gleich drei aufs Mal – nur um die Wirkung zu testen. Ein Arbeitskollege warnt ihn: Damit kannst du dich ins Jenseits schiessen!

Diese Aussage bleibt bei ihm hängen.

Im Jahr darauf begegnet er zufällig erneut seinem Vergewaltiger. In einem Restaurant steht er da, plaudert und lacht mit einem anderen Gast. In Roland Graf zieht sich alles zusammen. Er verlässt das Lokal fluchtartig. In den folgenden Tagen schliesst er sich zu Hause ein. Selbst für die Arbeit kann er sich nicht mehr aufraffen, nichts geht mehr. Ihm ist jetzt alles egal. Vielleicht, denkt er, ist es Zeit, mit allem Schluss zu machen. Er hat noch neunzig Tabletten Betablocker.

Doch statt den Suizid­gedanken noch mehr Platz zu geben, wendet er sich an seinen neuen Vorgesetzten, den er kaum ein halbes Jahr kennt.

«Erinnerst du dich?»

Rückblickend ist Roland Graf erstaunt, dass er sich ausgerechnet einem Mann, einem jüngeren Mann, anvertraute. Aber: «Bei ihm hatte ich das Gefühl, ernst genommen zu werden. Ich nahm ihn als sozialen, intelligenten Mann einer neuen Generation wahr – auch mit einem feinfühligeren Umgang mit schwierigen Themen.»

Fast eine Stunde erzählt er, was er erlebt hat, wie ein Wasserfall bricht es aus ihm heraus. Und der Chef lässt ihn reden.

Endlich hört jemand richtig zu. Endlich hat jemand Verständnis. Zum ersten Mal spricht Roland Graf das Wort Vergewaltigung aus.

Als er nach Hause kommt, ist er so müde und erschöpft wie seit langem nicht mehr. Aber erleichtert. Ein Teil der Scham- und Schuld­gefühle löst sich auf, die Tabletten gibt er ab.

Doch dann folgt ein neuer Übergriff: Bei einer Theater­probe küsst ihn der Regisseur ohne Vorwarnung auf den Mund. Um ihn zu provozieren vielleicht, oder um das Eis zu brechen für die Szene einer Verwechslungs­komödie, in der Roland Graf sich einem als Frau verkleideten Mann zu Füssen werfen soll. «Vielleicht wollte er bloss lustig sein, aber für mich war die Situation der Horror», erzählt er. «Ich war wie paralysiert. Ich konnte nichts sagen. Ich konnte mich nicht wehren. Ich konnte mich wieder nicht wehren.»

Er fährt nach Hause und bricht zusammen. Doch am folgenden Tag erzählt er der versammelten Theater­truppe von seiner Vergewaltigung. Fünfzehn Menschen hören zu, nehmen ihn ernst und bestärken ihn. Mit dem Regisseur wird er nicht mehr arbeiten. Und doch, sagt Roland Graf, ist er ihm irgendwie dankbar für den übergriffigen Moment während der Proben. «Das ist richtig scheisse, aber es ist so.» Denn dieser Moment war ein weiterer Auslöser dafür, dass er heute mit seiner Geschichte offen umgehen kann.

Jetzt, mit 61 Jahren, will Roland Graf seine Geschichte öffentlich machen. Er sagt, er wolle hinstehen für die, die es nicht können, niemals konnten. Er will den Opfern ein Gesicht geben, den männlichen Opfern, die noch vor wenigen Jahren keine Anlauf­stelle hatten, die nicht ernst genommen wurden und teilweise noch heute nicht ernst genommen werden. Der Mann als Opfer von Gewalt, besonders von sexualisierter Gewalt, ist noch immer ein Tabu. Roland Graf will mit diesem brechen, will anderen Opfern Mut machen, sich zu äussern. Und hofft, dass es ihnen früher gelingt als ihm.

Nicht lange nach dem Proben­wochenende trifft er erneut auf seinen Vergewaltiger. Es ist ein später Sonntag­nachmittag, Roland Graf sitzt im Bistro du Théâtre in Luzern an der Bar. Niemand sonst ist im Lokal. Da nimmt der Mann ebenfalls Platz an der Bar, nicht weit von ihm entfernt. Roland Graf spürt sofort, dass sich etwas in ihm verändert hat. Das Gefühl ist nicht wie früher. «Ich fixierte ihn, wandte meinen Blick nicht mehr ab. Ich merkte, wie sich in mir etwas aufbaute, es fühlte sich an, als würde mich eine ganze Gruppe von Leuten schieben. Ich musste aufstehen und zu ihm hingehen.»

Er konfrontiert den Mann: «Erinnerst du dich? Dass du mich vergewaltigt hast?», fragt er.

Er erinnere sich an ihn, antwortet der Mann. Aber Roland habe doch auch Spass gehabt in dieser Nacht. Als Roland Graf ihm sagt, was er durchgemacht habe, dass er so etwas niemandem auf der Welt wünsche, lacht der Mann. Das sei jetzt definitiv die falsche Reaktion, sagt Roland Graf, dreht ihm den Rücken zu und setzt sich wieder auf seinen Platz.

Er starrt den Mann weiter an, der weicht seinen Blicken aus. Doch als er das Lokal verlässt, wendet er sich noch einmal Roland Graf zu. «Er sagte, es tue ihm leid. Aber er sei schwer krank, es gehe ihm nicht gut.» Als ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hätte. Als sei die Krankheit von heute eine Entschuldigung für die Tat von damals, sagt Roland Graf.

Erst später realisiert Roland Graf, dass er an diesem Nachmittag eine Entschuldigung des Täters bekommen hat. Eine schäbige zwar, aber selbst die bleiben viele Täter schuldig. «Und ich konnte ihm sagen: ‹Was du getan hast, ist ein Verbrechen – jetzt hau ab.›»

Zur Autorin

Jana Avanzini ist freie Journalistin, Texterin und Theater­macherin.

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