Die Barbarei der Hamas

Israel befindet sich im Krieg. Der Philosoph Daniel Strassberg erklärt, welche Gefühle der Angriff bei ihm auslöst. Und weshalb wir uns um Vernunft bemühen müssen.

Von Daniel Strassberg, 10.10.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
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Feuer und Gegenfeuer: Raketen des israelischen Abwehrsystems Iron Dome gegen Raketen, die von der Hamas auf die Stadt Netiwot im Süden Israels geschossen wurden. Mahmud Hams/AFP/Getty Images

Alles war bereits geplant. Am 30. Oktober einen Vortrag an der Universität Tel Aviv halten, tags darauf in die Wüste Negev fahren, zu Weinbauern, die einige entzückende Cottages vermieten.

So war es geplant, doch am Samstag­morgen weckte mich eine SMS: «Im Moment sieht es nach einem längeren Krieg aus, der heute Morgen begann. Nicht Zeit, im Negev zu wandern. Ich denke, Ihr solltet Eure Ferienpläne nochmals überlegen. Wir hatten heute schon einen Alarm.»

Genau fünfzig Jahre und einen Tag früher weckte den Freund, der mir nun die SMS geschickt hat, und mich eine Sirene aus dem Schlaf. Es war 1973, Jom Kippur, wir waren eben zu einem gemeinsamen Aufenthalt in Israel angekommen, als uns die Nachricht erreichte, die ägyptische Armee habe den Suezkanal überquert und sei weit in die Sinai­halbinsel vorgedrungen.

Die erste Reaktion war damals ähnlich wie heute: ein schier unentwirrbares Gemenge unterschiedlichster Emotionen. Da ist die Angst um meine Freunde und Verwandten, damals auch um mich selbst; da ist das grenzenlose Erstaunen, dass eine der bestgerüsteten Armeen der Welt mit einem legendären Geheim­dienst dermassen überrascht und überrumpelt werden kann; da ist auch die (egoistische) Frustration darüber, dass die Weltgeschichte die eigenen Pläne durchkreuzt; und da ist die Ohnmacht, nichts anderes tun zu können, als alle fünf Minuten auf dem Handy eine News-App zu öffnen oder nach Israel zu telefonieren.

Doch im Vordergrund steht, heute noch mehr als damals, eine schreckliche Verwirrung. Sie rührt daher, dass zwei unterschiedliche Sichten auf das Geschehen in meinem Kopf um die Oberhand ringen.

Mein rationales politisches Ich, das die Lage zu analysieren versucht, hat für die Hamas wenn auch absolut keine Billigung, so doch einiges Verständnis. In einigen Kommentaren stand zu lesen, es sei völlig unklar, was die Hamas mit dieser Aktion bezwecken wolle. Das ist jedoch angesichts des Datums alles andere als unklar. Es soll derselbe Befreiungs­schlag sein, wie der Jom-Kippur-Krieg ein Befreiungs­schlag für Ägypten war.

Die Hamas steht von verschiedener Seite unter enormem Druck. Israel und Saudiarabien stehen (mehr oder weniger) kurz vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Damit droht die Unterstützung der arabischen Welt für die palästinensische Sache, die schon seit längerem bröckelt, endgültig wegzubrechen. Es gibt zwar noch den Iran, aber dessen wahre Verbündete ist die schiitische Hizbollah im Libanon. Zu der sunnitischen Hamas wird die Liebe wohl nie richtig entflammen. Zudem dürften, wenn das Abkommen mit Saudiarabien tatsächlich zustande kommt, massiv Gelder an die Palästinenser in der Westbank, nicht aber in den Gazastreifen fliessen.

Die zweite Gefahr droht von der israelischen Protest­bewegung. Wenn es tatsächlich so weit kommen sollte, dass das liberale, demokratische Israel in Zukunft das Ruder übernimmt und einen Friedens­prozess in Gang bringt, dann läuft die Zeit der Hamas, die inzwischen in der Bevölkerung von Gaza alles andere als beliebt ist, bald ab. Ihr politisches Überleben hängt am permanenten Kriegszustand.

Die Hamas hat also allen Grund, die Fanatiker der Gegenseite an der Macht zu halten und die Protest­bewegung zu schwächen. Tatsächlich hat, kaum ist der Krieg ausgebrochen, die Protest­bewegung die Kundgebung am Samstagabend abgesagt, zum ersten Mal seit vierzig Wochen. Die Gruppe von Reserve­soldaten, die gedroht hatte, den Reserve­dienst zu verweigern, verkündete sofort, dass dies im Falle eines Krieges natürlich nicht gelte.

Am Samstagnachmittag trafen sich auch die wichtigsten Oppositions­politiker, Jair Lapid und Benny Gantz, mit Netanyahu, um die Möglichkeit einer Notstands­regierung zu prüfen. Wieder einmal ist es der geheimen Koalition der Extremisten gelungen, die liberalen und an Frieden interessierten Kräfte auszuschalten. Die Hamas, so schreibt die liberale Zeitung «Haaretz», hat den Krieg bereits gewonnen und ihr Kriegsziel bereits erreicht. Sie hat Israel der Lächerlichkeit preisgegeben und sich weltweit als massgebliche Kraft in Erinnerung gerufen.

Zudem ist es ihr gelungen, den Mythos von Israels technologischer Überlegenheit zu zerstören. Das Land, das die ganze (Halb-)Welt mit Spyware versorgt, konnte offenbar die Telefone der Hamas nicht abhören. Ein paar Bulldozer, Motor­räder und Privatautos mit Maschinen­gewehren, gepaart mit der unglaublichen Überheblichkeit der israelischen Sicherheits­kräfte, haben genügt, eine technologisch auf dem neuesten Stand stehende Armee auszutricksen.

Noch ein anderer, für die Existenz des Staates Israel nicht zu unter­schätzender Mythos wird bald auf dem Prüfstand stehen: Jeder Soldat und jede Zivilistin konnte bis anhin damit rechnen, dass alles Menschen­mögliche unternommen wird, um sie zu befreien, wenn sie in Gefangenschaft geraten. Selbst für Leichen gefallener Soldaten wurden schon Dutzende Häftlinge ausgetauscht.

Nun haben die Hamas und der Islamische Jihad bekannt gegeben, sie hätten über hundert Geiseln in ihrer Gewalt. Israel kann keinen Bodenkrieg beginnen, ohne das Leben dieser Geiseln zu gefährden. Ich sehe nicht, wie die Regierung diesem Dilemma unbeschadet begegnen kann. Überhaupt: Weder die angekündigte vollständige Zerstörung des Gazastreifens noch die Anklage, die Protest­bewegung habe diesen Krieg zu verantworten, weil sie den Eindruck der Schwäche habe entstehen lassen, wird das eklatante Versagen der Sicherheits­kräfte übertönen. Auch bereits zirkulierende Gerüchte, linke Soldaten hätten die Tore geöffnet, werden daran nichts ändern.

Das Image dieser Regierung, die bislang mit Härte, Männlichkeit und vollkommener Rücksichts­losigkeit punkten konnte, ist schwer beschädigt, möglicherweise irreparabel.

So weit die Analyse, die dem Verhalten der Hamas bestimmt keine Billigung, aber doch eine gewisse Rationalität zugesteht. Damit hier keine falsche linke Romantik aufkommt wie damals in Kuba, Nicaragua oder sonst wo: Es geht der Hamas nicht um die Freiheit des palästinensischen Volkes, es geht dieser ebenso religiös-fanatischen wie korrupten Oberschicht einzig und allein um ihr eigenes Überleben. Diesem Ziel hat der Überfall zweifellos genützt.

Es hat mich Überwindung gekostet, all dies nieder­zuschreiben, weil sich mir dauernd andere Bilder aufdrängen: wie mein Neffe und seine Frau stundenlang mit ihrem schreienden Baby im Treppenhaus verharren, weil ihr Haus keinen Luftschutz­keller hat; wie die Tochter der Cousine einer guten Freundin an einem Rave teilgenommen hat, auf den sie sich bestimmt schon lange gefreut hat, und nun in Gaza in einem Keller sitzt, vielleicht gefesselt und mit Augenbinden, und wie ihr die unbeschreibliche Angst buchstäblich den Atem raubt; wie Hannah Ben-Artzi, 69, gerade den öffentlichen Bunker von Kfar Aviv aufschliessen will für alle Bürgerinnen, die keinen eigenen haben, als sie eine Rakete tötet; wie die Bewohner verschiedener Kibbuzim, auch desjenigen, in dem ich 1969 gearbeitet habe, sich einschliessen und verzweifelt die Armee um Hilfe anflehen, während draussen wahllos geschossen und gejohlt wird; wie der Ambulanz­fahrer, der einen verletzten Menschen bergen und in ein Krankenhaus fahren will, von einem 18-Jährigen lachend erschossen wird.

Ich stelle mir vor, wie der Vater, der eben auf den Golan eingezogen wurde, zuerst seine Tochter, die auch dort stationiert ist, informieren muss, dass ihr Bruder im Süden gefallen ist, und wie er dann um ein Uhr nachts seine Frau weckt, um auch ihr den Tod ihres Sohnes mitzuteilen. Und immer wieder die Bilder dieses Raves, wo die Hamas ein unbeschreibliches Massaker angerichtet und offenbar auch Dutzende junger Menschen entführt hat.

Ich sehe vor mir einen 18-jährigen Araber, der seine Waffe auf einen Gleichaltrigen richtet, der zitternd und weinend im Sand liegt, sich die Arme schützend vor das Gesicht hält und vergeblich hofft, dass sein Altersgenosse sich seiner erbarmen wird.

Mir kommt auch der Freund in den Sinn, dessen dringender chirurgischer Eingriff nicht durchgeführt werden kann, und ich denke an all die anderen Pläne, die von einem Moment zum anderen ersatzlos gestrichen worden sind. Und beschämt muss ich auch an die Ukrainerinnen denken, denen vor nicht allzu langer Zeit dasselbe widerfahren ist, und an die Bewohner von Berg-Karabach, und wie selten sich mir damals solche Bilder aufgedrängt hatten!

Auftakt zu einem neuen Krieg: Eine der Raketen, die letzten Samstag vom Gazastreifen aus auf Israel abgefeuert wurden. Fatima Shbair/AP Photo/Keystone

Wir sprechen in solchen Zusammen­hängen häufig von Kriegstraumata, von traumatisierten Bevölkerungen, traumatisierten Soldaten, von PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung, bestehend aus Flashbacks, Vermeidungs­verhalten und Hyperarousal) oder Ähnlichem, doch das sind nur hilflose Versuche, sich die Tatsache vom Leibe zu halten, dass sich nach dieser Katastrophe das Leben jedes Einzelnen verändert haben wird, dass nichts sein wird wie vorher. Es brauchte Jahre, bis man begriff, welche enormen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen 9/11 oder der Jom-Kippur-Krieg bewirkt hatten, und es wird Jahre dauern, bis sich der Nebel, oder besser die Staubwolken, verzogen haben werden und man wieder klar sehen wird und versteht, was sich jetzt ereignet hat.

Diese Bilder bestimmen heute meine Gefühle und nicht die politische Analyse. Auch nicht irgendwelche buchhalterischen Gerechtigkeits­erwägungen, die das eine brutale und unmenschliche Töten mit einem anderen brutalen und unmenschlichen Töten verrechnen wollen. In diesem Moment gelten meine Solidarität, mein Mitgefühl und meine Gedanken allen Israelis, deren Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde. Auch jenen, mit denen ich sonst nicht einmal einen Kaffee trinken würde.

Und das ist auch die Quelle meiner Verwirrung: die erschreckende Erfahrung, um wie viel stärker Gefühle der Solidarität, Empathie und Zugehörigkeit sind als jede vernünftige Analyse. Ich fühle, was ich gar nicht fühlen will. Obwohl mir die Vernunft klar die Mitschuld der Israelis aufzeigt und mir auch den schrecklichen Blutzoll schon ankündigt, den die Bevölkerung von Gaza wird zahlen müssen, sind meine Gefühle nicht gleichmässig verteilt. Mein Mitgefühl ist im Moment eindeutig auf der Seite Israels. Weil dort Freunde und Familie leben, weil ich selbst dort gelebt habe, weil ich die Sprache beherrsche, weil ich weiss, wo man in Tel Aviv gut isst und welches die schönsten Strände sind. Weil ich dort irgendwie dazugehöre. Auch bei mir hat die Strategie der Hamas gewirkt: Die Solidarität überwiegt die ausgewogene Einordnung, die Abscheu vor der Barbarei das Wissen um die Geschichte des Konflikts.

Eine der grossen Leistungen der Aufklärung bestand darin, Gefühle – oder Leidenschaften, wie sie damals hiessen – und Vernunft nicht mehr als Antagonisten, sondern als enge Verbündete zu verstehen. Die einen, wie Kant, wollten die Gefühle der Vernunft anpassen: Der Mensch soll fühlen, was er vernünftiger­weise wollen soll. Die anderen, wie David Hume, sahen die Vernunft als Magd der Leidenschaften: Die Vernunft soll mich lediglich anweisen, wie ich meine Leidenschaften am besten verwirklichen kann.

Doch in der gelebten Wirklichkeit wird das Verhalten im sozialen Nahbereich nicht durch rationale Entscheidungen gesteuert. Dort spielt, wie schon David Hume gezeigt und neuere Forschungen bestätigt haben, die Empathie die entscheidende Rolle, die Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hinein­zuversetzen. Empathie kann sogar die eigenen Interessen ausstechen, wie man am Verhältnis zu den eigenen Kindern leicht sehen kann.

Empathie hat jedoch nur eine bestimmte Reichweite, jenseits dieser Grenze spielen rationale Erwägungen und eigene Interessen eine weit grössere Rolle. Man kann nicht alle Menschen lieben, und man kann nicht mit allen Menschen Mitleid haben. Das gibt unsere Seele einfach nicht her. Es gibt keinen Universalismus der Gefühle, darin hat sich die Aufklärung ebenso getäuscht wie Jahrhunderte vorher das Christentum. Zugleich wird das, was ich fühle, nie ganz mit dem übereinstimmen, was ich denke. Es wird immer ein Spalt offenbleiben. Für oder gegen Solidarität und Empathie kann man sich nicht entscheiden, sie geschehen einfach.

Und das ist gut so. Denn wer die eigenen Gefühle, Vorlieben und Ressentiments zum allgemeinen Gesetz erhebt, ohne der Vernunft zu erlauben, noch einen Moment lang darüber nachzudenken, wird selbstgerecht und chauvinistisch werden. Und wer sich einzig und allein durch die politische Analyse leiten lässt, ohne der Empathie eine Chance einzuräumen, wird zum gefühllosen Fanatiker, der auch bereit ist, ein Massaker unter feiernden Jugendlichen anzurichten.

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