
Was uns die Staatsstreiche in Afrika über die neue Weltordnung verraten
Das Militär hat sich in Niger und Gabun an die Macht geputscht – mit einschneidenden Folgen für diese Länder. Doch die Machtverschiebungen in der internationalen Politik gehen weit darüber hinaus.
Von Henrik Maihack und Johannes Plagemann, 02.09.2023
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Nun also auch Gabun. Nach dem Staatsstreich in Niger – bereits der siebte Putsch seit 2020 in einem Land der Sahelregion – hat es nun auch im zentralafrikanischen Gabun einen Militärputsch gegeben. Die Gemeinsamkeiten mit den Machtübernahmen in Mali, Burkina Faso oder eben Niger: In allen Fällen handelt es sich um ehemalige französische Kolonien.
Die Ereignisse in Gabun sind für eine Zwischenbilanz noch zu frisch. Selbst in Niger, wo Ende Juli 2023 die Präsidentengarde den demokratisch gewählten und vom Westen unterstützen Präsidenten Mohamed Bazoum entmachtete, ist noch umstritten, was genau eigentlich der Auslöser war: die von Bazoum eingeleiteten Korruptionsermittlungen im Militär, die geplante Auswechslung der alten Offizierselite oder die Unzufriedenheit von Teilen der Armee im eigentlich erfolgreichen Antiterrorkampf.
Klar ist: Der Putsch in Niger hatte in erster Linie innenpolitische Ursachen – doch er hat aussenpolitische Auswirkungen.
Immer wahrscheinlicher wird nun, dass sich in Niger und womöglich auch in Gabun erst einmal eine Militärregierung an der Macht wird halten können. Und die beiden Militärregierungen sind – ebenso wie in Mali und Burkina Faso – beliebter, als es viele ausserhalb des Landes wahrhaben wollen.
Fest steht: Die jüngsten Ereignisse haben einschneidende Folgen in der Region und weit darüber hinaus. In Niger zeichnen sie sich bereits deutlich ab. Hier lässt sich exemplarisch ablesen, welche Verschiebungen der geopolitischen Kräfteverhältnisse längst im Gange sind – und warum sich die Krisenreaktionen des Westens ändern müssen.
Versuch einer Bestandsaufnahme in fünf Schritten.
1. Demokratie braucht mehr als Wahlen
Im autokratischen Gabun, wo laut Beobachtern die jüngsten Wahlen gefälscht waren, war Demokratie bisher de facto ein unerfülltes Versprechen. Aber auch viele Menschen im bislang demokratischen Niger sind frustriert von dem, was sie als Demokratie erlebt haben. Sie sind unzufrieden, weil Wahlen allein noch keine Demokratie ausmachen und weil die Spielräume für jene, die mehr politische und soziale Teilhabe einforderten, zuletzt kleiner wurden.
Diese Unzufriedenheit teilen die Menschen in Niger, bei allen Unterschieden zwischen den Ländern, mit vielen anderen Bürgerinnen des Kontinents. Afrikaweit sind nur die Hälfte aller Befragten mit der Demokratie zufrieden, obwohl knapp 70 Prozent sie für die beste Regierungsform halten.
In Europa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die Demokratie durch Vollbeschäftigung und den Aufbau der Daseinsvorsorge stabilisiert. Im Gegensatz dazu ging in einigen Teilen Afrikas die Einführung der Demokratie einher mit vom Westen verordneten Sparprogrammen, dementsprechend schwacher Staatlichkeit, Korruption und wirtschaftlicher Not – trotz steigender Wachstumsraten in einigen Ländern. Das gilt besonders für die Sahelregion.
Durch die wirtschaftlichen Folgen des Kolonialismus und ein weltweites Handelsregime, das zwar europäische Agrarsubventionen und den Export von afrikanischen Rohstoffen erleichterte, aber eine Weiterverarbeitung in Afrika erschwerte, fiel etlichen afrikanischen Ländern der wirtschaftliche Aufstieg schwer. Demokratische Institutionen blieben vielerorts schwach: Man durfte zwar wählen, profitierte aber kaum von staatlichen Leistungen und Schutz.
Weniger als ein Drittel aller Frauen in Niger kann heute lesen und schreiben. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 533 US-Dollar. Menschen in ländlichen Gegenden sind häufig von Jihadisten und der Klimakrise gleichzeitig bedroht.
Frust entsteht auch, weil viele Menschen bemerken, wie wenig von der internationalen Unterstützung bisher bei ihnen angekommen ist. So beobachtete man in der Bevölkerung genau, dass sowohl Frankreich als auch die USA je rund tausend Mann starke Truppen im Land stationiert hatten und dass für diese Verbände eine teure Infrastruktur geschaffen worden war. Das nigrische Militär wird von der EU ausgebildet. Uran wird seit Jahren aus Niger nach Frankreich exportiert, und die zivilen Regierungen Nigers sind seit 2015 zum wichtigen Partner des Westens bei Migrationsabwehr und Terrorbekämpfung geworden. Grosse Teile der nigrischen Bevölkerung haben davon jedoch kaum profitiert.
Diese Unzufriedenheit in der Bevölkerung und eine tief sitzende Skepsis gegenüber dem Westen (und seinen afrikanischen Partnern) nutzen die Putschisten, um ihren Staatsstreich zu rechtfertigen. Zwar sind Mali, Burkina Faso und der Sudan Beispiele für die schlechte Bilanz von Militärregierungen, sowohl wirtschafts- als auch sicherheitspolitisch. Dennoch sind Putschisten offenbar in der gesamten Sahelregion zu Hoffnungsträgern einer frustrierten und zunehmend urbanen Bevölkerung geworden.
Wenn sich die Lebensbedingungen für den grössten Teil der Bevölkerung trotz all der Unterstützung von zivil geführten Regierungen durch den reichen Westen kaum ändern, wird es zudem für russische Desinformationskampagnen ein Leichtes, Misstrauen zu säen. Desinformation, wie sie in Paris gerne für die antifranzösische Stimmung auf den Strassen der Hauptstadt Niamey verantwortlich gemacht wird, ist allerdings bloss ein Symptom, nicht die Ursache der Staatskrise in Niger. Die Putschisten profitieren von der Perspektivlosigkeit einer jungen Bevölkerung ebenso wie von der breiten Ablehnung Frankreichs in der gesamten Sahelregion, aber auch zunehmend in Zentralafrika.
Das zeigten zum Beispiel die Demonstrationen nach den Machtübernahmen in Niger und Gabun, bei denen vorwiegend junge Protestierende Frankreich eine neokoloniale Haltung vorwarfen, genau wie es auch in Burkina Faso und Mali nach der Machtübernahme der Militärs der Fall war. Diesen Habitus kennt man in Niger und Gabun zwar seit Jahren, aber in einer Welt, die zunehmend Alternativen zum Westen bietet, ist man nicht mehr bereit, ihn zu akzeptieren.
Das führt für den Westen in ein Dilemma: Nach dem Putsch in Mali und Burkina Faso waren der demokratisch gewählte Präsident Bazoum und seine Regierung die einzigen legitimen Empfänger westlicher Unterstützung in der Sahelregion geworden. Hätte man die einzige Demokratie dort nicht unterstützen sollen? Es ist kompliziert.
Seit dem Putsch in Niger zieht sich jedenfalls ein durchgehendes Band vom Golf von Guinea im Westen bis zum Sudan am Roten Meer: Sämtliche Staaten werden hier nun von Militärregierungen geführt. Die Entwicklung droht nun auf Zentralafrika überzugreifen. Kurz nach dem Putsch in Gabun hat die Regierung des Langzeitpräsidenten Paul Biya im benachbarten Kamerun kurzerhand wichtige Militärs ausgewechselt. Man macht sich offenbar Sorgen.
Zudem ist vor allem die Sahelregion in den letzten Jahren zum Hotspot des weltweiten Terrorismus geworden. 2022 starben hier mehr Menschen infolge terroristischer Angriffe als im Nahen Osten, Nordafrika und Südasien zusammen. Mittlerweile droht sich der Jihadismus bis in die Küstenstaaten Westafrikas auszudehnen.
Ursächlich ist auch hier vor allem die fortgesetzte Marginalisierung breiter Teile der Bevölkerung. Viele der Rekruten von Al-Qaida-Ablegern in den Sahelstaaten oder den angrenzenden westafrikanischen Küstenländern wachsen in abgeschiedenen Gegenden auf, ohne Zugang zu Jobs oder Bildung. Das Vertrauen in die staatlichen Strukturen ist gering, die ökonomischen Anreize, sich einer bewaffneten Gruppe anzuschliessen, hingegen sind hoch. Wie Studien der Vereinten Nationen belegen, haben viele Kämpfer zuvor selbst Menschenrechtsverletzungen erfahren – eine Gefahr, die unter Militärregierungen tendenziell steigt.
All dies lässt befürchten, dass die Region mittel- bis langfristig instabil bleiben wird. Dabei treffen innenpolitische Dynamiken auf ein verändertes internationales Umfeld. Das zeigt die internationale Reaktion auf die Krise in Niger und ihre Wirkung.
2. Der Westen hat ein Imageproblem
Um die aktuelle Lage zu verstehen, braucht es einen Blick zurück.
Aus heutiger Sicht erscheint der US-amerikanische Einmarsch im Irak 2003 wie ein letztes Aufbäumen des Imperiums. Die Zeichen des Wandels standen schon an der Wand, aber die politische Klasse in Washington hatte sich zu bequem eingerichtet in der Vorstellung, dass die amerikanische Hegemonie für immer währen würde. Ende des 20. Jahrhunderts erlaubte die alternativlose Dominanz der westlichen Mächte die globale Durchsetzung zweifelhafter, vornehmlich westliche Interessen reflektierender Glaubenssätze: Privatisierung, Kürzung der staatlichen Daseinsfürsorge und bedingungslose Öffnung gegenüber dem Weltmarkt. So lauteten die Entwicklungsstrategien, die damals vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank unter dem Titel «Washington Consensus» eingefordert wurden.
Der Glaube, nach dem Ende des Kalten Krieges sei die Welt nun unipolar – mit den USA im Zentrum –, wirkte weiter fort. Der militante Islamismus war in dieser Lesart eine Verrücktheit, der nur mit Gewalt begegnet werden konnte, nicht ein Symptom von tiefer liegenden Problemen. Das westliche Scheitern in Afghanistan hat auch damit zu tun. Verhandlungen mit sogenannten Jihadisten in der Sahelregion seien eine rote Linie, so verkündeten es Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel noch im Jahr 2021. Dass führende Expertinnen, die lokale Zivilgesellschaft und die zivilen Regierungen in der Sahelregion, zum Beispiel die von Präsident Bazoum in Niger, genau diese Dialoge empfahlen und damit erfolgreich waren, wurde lange ignoriert.
So gibt es im Globalen Süden eine weitverbreitete Wahrnehmung, dass der Westen bei seiner Krisendiplomatie nicht zuhört. Und damit versagt. In der Sahelregion wird immer noch auf die unbedarfte Nato-Intervention in Libyen 2011 verwiesen. Damals schlugen die Regierungen aus Frankreich und Grossbritannien alle Warnungen der Afrikanischen Union in den Wind. Der Fall des Ghadhafi-Regimes führte letztlich zu einer Waffenschwemme in den Sahelländern, die aktuelle Konflikte anheizt.
Auch wenn die Interessen der Länder des Globalen Südens heterogen und teilweise widersprüchlich bleiben, die Skepsis gegenüber dem Westen wird breit geteilt. Die Nachwirkungen des Kolonialismus sind ein weiterer Grund dafür.
Im kollektiven Gedächtnis des Westens hat der Kolonialismus mit dem Zweiten Weltkrieg ein Ende gefunden. Dabei lebte er viel länger fort. Frankreich, die Niederlande, Belgien und andere Kolonialmächte versuchten auch nach 1945 verbissen, die eigenen Kolonialreiche wiederherzustellen. Der Unabhängigkeitskampf Algeriens währte bis 1962. Der erste Staatspräsident von Niger, Hamani Diori, kam noch vor der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 ins Amt und regierte bis 1974. Die portugiesischen Kolonien in Afrika wurden erst 1975 unabhängig.
Der Wechselkurs von 14 west- und zentralafrikanischen Ländern wird bis heute von der französischen Zentralbank kontrolliert, weil ihre Währungen bis 1999 an den Franc und seitdem an den Euro gebunden sind. Die Ablehnung Frankreichs in Mali, Burkina Faso, Niger und Gabun ist auch eine Folge der französischen Einflussnahme, zu Zeiten der Kolonialherrschaft und darüber hinaus.
Aber Frankreich allein verantwortlich zu machen, wäre zu einfach. Der gesamte Westen steht zunehmend in der Kritik in weiten Teilen des Globalen Südens.
Die von den Industrieländern verursachte Klimakrise führt in den Ländern des Sahel zu einem schnelleren Temperaturanstieg als anderswo, ohne dass die Länder vor Ort ausreichend Hilfsgelder bekommen würden, um sich den neuen Verhältnissen anzupassen. Konflikte um Ressourcen und Armut nehmen zu. Der westliche Patent- und Grenzschutz während der Covid-19-Pandemie wird im Globalen Süden noch lange in Erinnerung bleiben. Die Gesellschaften in vielen Teilen Afrikas ächzen unter massiven Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln infolge des russischen Angriffskriegs und der darauffolgenden Sanktionen. Aber kaum ein Land hat den fiskalpolitischen Spielraum, um darauf zu reagieren, weil man bei westlichen und chinesischen Gläubigern verschuldet ist. Die Liste liesse sich fortsetzen.
Kurz: Das Ansehen des Westens hat gelitten, während andere Boden gutmachen konnten. Ein Symptom dafür sind die Enthaltungen vieler Länder in der Vollversammlung der Vereinten Nationen, als der russische Angriffskrieg verurteilt werden sollte.
3. Die Welt ist multipolar
Kein Wunder also, dass ausserhalb des Westens viele eine andere Weltordnung herbeisehnen. Eine Welt, in der die Länder des Globalen Südens absehbar mehr Mitsprache haben. Ebenso wenig verwunderlich ist, dass der wirtschaftliche Aufstieg von Staaten wie Brasilien, Indien, Kenia und vor allem China in Ländern des Globalen Südens weithin als gute Nachricht aufgefasst wird.
Die Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt hat längst begonnen. Geopolitik im 21. Jahrhundert heisst: weder eine unipolare Welt mit den USA als alleinigem Hegemon wie in den 1990er-Jahren noch eine bipolare Welt mit zwei klar unterscheidbaren Blöcken wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Stattdessen: verschiedene Zentren und Bündnisse auf verschiedenen Ebenen.
Im Globalen Süden kennt man diese multipolare Welt schon längst und findet sich relativ gut darin zurecht. Mehr noch, vielerorts ist Multipolarität sogar ein emanzipatorisches Versprechen. Die Wahrnehmung im Westen hingegen folgt tendenziell noch immer einem bipolaren Schema: hier die Autokratien wie Russland oder China, dort das westlich geführte demokratische Lager. Im Globalen Süden findet diese Vorstellung hingegen kaum Abnehmerinnen, auch nicht in der Sahelregion. Schon deshalb nicht, weil man sich dort einseitige Abhängigkeiten nicht leisten kann.
Multipolarität heisst zudem, dass die internationale Politik unübersichtlicher wird. Das zeigt sich in diesen Wochen nicht nur in der Sahelregion. Auch der in Südafrika stattfindende Brics-Gipfel, der Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und weitere beitrittswillige Staaten aus dem Globalen Süden zusammenbrachte, illustrierte die gegenwärtige Widersprüchlichkeit der internationalen Politik. Denn trotz aller Rhetorik, die die Gemeinsamkeiten der Brics-Staaten betonte: Delhi sieht sich vor allem von China bedroht. Das Zusammenrücken von China und Russland im Zuge des Krieges in der Ukraine wird deshalb mit Sorge beobachtet – und zum Anlass genommen, enger denn je mit den USA zu kooperieren.
Aber auch die Beziehungen zwischen Russland und China sind nicht ohne Spannungen. In Zentralasien konkurrieren Moskau und Peking um die Gunst kleinerer Staaten. In Mali schwächen russische Söldner gemeinsam mit der Militärregierung die Friedensmission Minusma, an der auch chinesische Blauhelme beteiligt sind und die nun abzieht. Und ein Russland, das sich in Afrika auf verzweifelter Partnersuche befindet, muss einkalkulieren, dass die Unterstützung von Putschregierungen bei der Mehrheit der zivilen Regierungen in Afrika ausgesprochen schlecht ankommt.
4. Der Westen verliert an Einfluss
Die Putsche und die Reaktionen darauf veranschaulichen noch eine weitere Entwicklung, die über Niger hinausgeht: Der Westen verliert weltpolitisch an Gewicht. Die Bewältigung globaler und regionaler Krisen ist zunehmend von Akteuren ausserhalb des Westens abhängig, nicht nur in Niger.
Während umfassende westliche Militäreinsätze in Ländern des Globalen Südens, wie in Afghanistan oder Mali, wohl der Vergangenheit angehören, gewinnen regionale Organisationen wie die westafrikanische Ecowas an Bedeutung. Der französische Einfluss hingegen ist in den ehemaligen Kolonien heute maximal diskreditiert.
Dazu beigetragen hat die rhetorisch ungeschickte Reaktion auf den Putsch durch die französische Regierung. Während andere Akteure im Hintergrund nach einer diplomatischen Lösung suchten, erklärte Paris sofort öffentlich, dass die französischen Truppen im Land blieben. Offenbar fällt es einigen im Westen noch immer schwer, in einer multipolaren Welt anzukommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die 2010er-Jahre hatte man im Westen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich stets den Vortritt gelassen, wenn es um die Entwicklung von aussenpolitischen und militärischen Strategien in West- und Zentralafrika ging. Der in Frankreich lange wie selbstverständlich verwendete Begriff Françafrique bezeichnete das französischsprachige Afrika als quasi natürliche Einflusssphäre Frankreichs – heute ist er vor allem ein Synonym für Bevormundung und Vetternwirtschaft.
Das letzte Mal, dass Frankreich zumindest teilweise erfolgreich in der Sahelregion agierte, war vor 10 Jahren. Damals liess sich der französische Präsident François Hollande in den Strassen von Bamako dafür feiern, dass französische Truppen die gemeinsam auf Malis Hauptstadt vordringenden Jihadisten und Tuareg in Schach hielten. Diese Militärintervention war sehr beliebt, doch der Erfolg war nur von kurzer Dauer. Je mehr in den darauffolgenden Jahren der Kampf gegen den Terrorismus zur Priorität wurde, desto stärker begann Paris das gezielte Töten von Terroristen mit der Ursachenbekämpfung der Krisen in der Sahelregion zu verwechseln.
Wie Daten einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen, hat Russland in Mali heute ähnliche Beliebtheitswerte wie Frankreich 2014 – das seither in der Gunst der Bevölkerung stetig gesunken ist. Den Ansehensverlust der ehemaligen Kolonialmacht hatten Aktivisten aus der Region vorhergesagt. Um es zuzuspitzen: Je mehr Frankreich sich heute in den früheren Kolonialstaaten im Namen Europas oder des Westens engagiert, desto mehr droht der gesamte Westen in der Sahelregion diskreditiert zu werden.
Das erkennt man anderswo als Chance. Russland kann immer dann profitieren, wenn ein Regime international isoliert ist und Rohstoffvorkommen anzubieten hat. Beides ist in Niger der Fall.
Zwar gibt es bisher für einen starken russischen Einfluss in Niger nur wenige, in Gabun gar keine Anhaltspunkte, auch wenn in westlichen Analysen darauf oft der Fokus liegt. Die im Westen verbreitete Deutung von Afrika als Spielball in einem geopolitischen Wettbewerb verkennt ohnehin die Realitäten eines riesigen und diversen Kontinents. Dessen verschiedene Akteure verfolgen unterschiedliche lokale, nationale oder regionale Ziele, und sie suchen sich flexibel die jeweiligen Partner dafür. Das gilt für das demokratische Südafrika genauso wie für das autokratische Mali. Die afrikanischen Länder sind mit dem Konzept der Multipolarität schon länger vertraut, und sie wissen es zu nutzen.
5. Neues Denken ist nötig
Vor diesem Hintergrund muss auch der Westen umdenken.
Schon die globale Finanzkrise 2008 hatte gezeigt, dass sich die Weltwirtschaft nicht mehr mittels vorwiegend transatlantischer Kaminzimmerdiplomatie im Rahmen der G-7 lenken lässt. Heute braucht es breitere Bündnisse, will man aussenpolitische Interessen wirksam durchsetzen. Das gilt für die langfristige Sicherheit der Ukraine vor einem imperialistischen Russland genauso wie bei der Verhinderung von autoritären Staatsstreichen in der Sahelregion. Im Gegensatz zu früher kann Weltpolitik heute auch nicht mehr in einem Arrangement zwischen den westlichen Grossmächten und Russland bestehen.
Das weiss man natürlich auch in Washington, Paris und Berlin. Wenn es aber konkret wurde, ist diese Perspektive in der Vergangenheit oft vernachlässigt worden. Dass es dieses Mal aus dem Westen besonders deutliche Unterstützung für Ecowas und die Afrikanische Union gab, lässt sich – trotz aller Risiken der Ecowas-Drohung mit einer Intervention in Niger – deshalb auch als Lerneffekt deuten: Offenbar will man künftig stärker als bisher auf die afrikanischen Akteure hören – anders als etwa 2011 vor der Intervention in Libyen.
Dennoch: Es fehlt weiterhin an neuen Bündnissen, die in einer multipolaren Welt eine bessere Krisenreaktion ermöglichen würden. So sprach nach dem Putsch in Niger in westlichen Hauptstädten kaum jemand davon, mögliche diplomatische Initiativen mit den G-20-Ländern China, Indien oder Südafrika genau so abzustimmen wie mit Frankreich oder den USA. Ob das nach den Geschehnissen in Gabun anders sein wird, darf bezweifelt werden.
Dabei hätten solche Zweckbündnisse durchaus Potenzial. Denn weder China noch Europa haben ein Interesse daran, dass sich Militärs dort an die Macht putschen, wo chinesische Blauhelme und Kredite genauso präsent sind wie deutsche Militärausbilder. In der Sahelregion könnte beispielsweise China eher ein Partner Europas auf Zeit sein und nicht in erster Linie Rivale oder Wettbewerber.
Das dürfte man zwar in den USA, die sich auf zunehmende Konflikte mit China im Indopazifik vorbereiten, anders sehen. Dennoch sollte man auch im Westen zur Kenntnis nehmen, dass heute afrikaweit 63 Prozent aller Menschen den chinesischen Einfluss als eher positiv bewerten, wie eine Umfrage in 36 Ländern zeigt. Besonders gestiegen ist Chinas Popularität in einigen Sahelländern. Der Einfluss ehemaliger Kolonialmächte – und dafür steht Europa bis heute – wird nur von 46 Prozent als positiv gesehen.
Neue Zweckbündnisse wären also nicht nur effektiver, sie wären wohl auch legitimer. Ein aussenpolitisches Prinzip für die Krisenreaktion des Westens könnte in einer multipolaren Welt lauten: die Zusammenarbeit mit schwierigen Partnern und in ungewöhnlichen Bündnissen zeitlich begrenzen, aber nicht von vornherein ausschliessen. Entscheidend sollte vielmehr sein, ob die Kooperation mit Autokratien wie China der Bewältigung einer regionalen oder globalen Krise dient. Denn leider ist es weder bei den Krisen in West- und Zentralafrika noch beim globalen Klimaschutz zielführend, allein in einem Club von Demokratien zu kooperieren.
Dies gilt umso mehr, als sich inzwischen Risse im westlichen Gefüge zeigen. Während die USA mit den Putschisten in Niger reden, geben französische Diplomaten ihren Unmut darüber zu Protokoll. Die USA wollen ihren Antiterrorkampf aus Niger weiterführen; Frankreich hingegen weiss, dass die Unterstützung der Junta wesentlich auf deren Frankreich-kritischem Kurs basiert. Die von Deutschland angeführte Sahel-Allianz versucht derweil in Distanz zu den Militärregierungen weiterhin humanitäre Unterstützung auch in den Putschländern zu gewährleisten und die zivil geführten Küstenstaaten durch Entwicklungszusammenarbeit zu unterstützen.
Ein abgestimmtes Vorgehen im Westen wird also schwieriger. Gleichzeitig braucht es neue Ansätze, nicht nur in der Sahelzone, sondern im Globalen Süden insgesamt.
Die Lage in Niger und die internationalen Reaktionen darauf veranschaulichen deshalb eines: Der Westen hat nicht nur weniger Einfluss als angenommen. Sondern wohl auch weniger gemeinsame Interessen.
Henrik Maihack ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2021 das Referat Afrika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Ab 2011 vertrat er die FES zuerst in Indien und danach als Leiter der FES-Büros in Bangladesh, im Südsudan, in Ruanda und in Kenia.
Johannes Plagemann ist Politikwissenschaftler am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. 2016 und 2017 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auswärtigen Amt tätig.
Gemeinsam schrieben sie das Buch «Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens», das am 21. September im Verlag C. H. Beck erscheint.