Immer Stress mit Gras
Ein 26-jähriger Mann handelt mit mehr als einem Kilo Marihuana. Schnell wird er erwischt. Das Gericht macht kurzen Prozess.
Von Daria Wild, 23.08.2023
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Unvergessen der Auftritt von Cédric Wermuth an der Delegiertenversammlung der SP, als der damalige Juso-Präsident auf die Bühne tritt und sich einen Joint anzündet. Es ist das Jahr 2008, und die Schweiz stimmt zum – bis heute – letzten Mal über legales Kiffen ab: Konsum, Besitz, Erwerb und Anbau für den Eigenbedarf sollen laut Initiativtext straffrei werden, der Bund soll Vorschriften über Anbau, Herstellung und Handel erlassen. Die Initiative ist chancenlos: 63 Prozent der Abstimmenden legen ein Nein in die Urne.
Es bewegt sich trotzdem etwas, halt in Zwergenschritten: 2013 tritt das Ordnungsbussenverfahren für Cannabis in Kraft, seither gelten Konsum und Besitz von weniger als zehn Gramm für Erwachsene nur noch als einfache Gesetzesübertretung, die mit einer Busse geahndet wird. Jüngst hat ein Bundesgerichtsurteil zudem bestätigt, dass solche Kleinmengen zum Eigenkonsum nicht eingezogen werden dürfen.
2021 folgt der Experimentierartikel, der die gesetzliche Grundlage für wissenschaftliche Pilotversuche zur kontrollierten Abgabe von Cannabis legt. 2022 hebt der Bund das Verbot für die Verwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken auf. In Städten wie Zürich und Bern sind inzwischen diverse Cannabis-Studien angelaufen.
So viel zum Konsum. Derweil steht Artikel 19 des Betäubungsmittelgesetzes unverändert und unberührt im Strafgesetzbuch: Wer Betäubungsmittel unbefugt anbaut, herstellt, lagert, versendet, befördert, einführt, ausführt oder durchführt, verordnet, besitzt, aufbewahrt, erwirbt und so weiter, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Das Gesetz sieht allerdings auch viel härtere Strafen vor; etwa dann, wenn die Person «als Mitglied einer Bande handelt».
Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 17. August 2023, 10 Uhr
Fall-Nr.: GG230114
Thema: Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz
Mindestens drei Monate lang soll Remo Weber, der in Wirklichkeit anders heisst, mit Gras gedealt haben: Gemeinsam mit einem Kollegen soll er 3875 Gramm Marihuana besessen, 1155 Gramm davon verkauft und dabei 11’500 Franken Umsatz erwirtschaftet haben. Ein kleiner Fisch in einem grossen Teich: Der jährliche Cannabis-Umsatz, der auf dem Schweizer Schwarzmarkt erzielt wird, beläuft sich Schätzungen zufolge auf über 580 Millionen Franken.
Im November 2022 sitzt Weber einen Tag in Untersuchungshaft.
Der Aufwand der Behörden lässt sich an den Zwangsmassnahmen ablesen, die in der Anklageschrift notiert sind: Observation, polizeiliche Vorführung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von Gegenständen: drei Handys, Marihuana in verschiedenen Verpackungen; Vakuumsäcklein, Abfallsäcke, Sporttasche, Einkaufstasche, Verschweissgerät, Briefcouverts mit Mitteilungen – «habe eine neue Nummer» –, PET-Flaschen, Latexhandschuh und so weiter.
Gefordertes Strafmass: zwölf Monate Freiheitsstrafe bedingt, aufgeschoben zugunsten einer Probezeit von drei Jahren. Es ist die Mindeststrafe bei Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Als solches ist die Tat des jungen Mannes qualifiziert, weil er «bandenmässig» vorging – also zusammen mit einem Kollegen. Und weil es sich um eine nicht geringfügige Menge handelt.
Anspruch auf eine amtliche Verteidigung hat ein Beschuldigter bei so einem Fall nicht. Dieser besteht nur, wenn die Untersuchungshaft länger als zehn Tage dauerte, eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht oder der Betroffene seine Verfahrensinteressen nicht selbstständig wahrnehmen kann.
Trotzdem erscheint Weber mit einem amtlichen Verteidiger zum Strafprozess: weil die Ermittler anfangs den Verdacht hegten, es wären noch mehr und stärkere Drogen im Spiel, das Delikt also schwerer, das Strafmass höher. Dieses kann bei Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz bis zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe betragen.
Auch wenn sich der Anfangsverdacht nicht erhärtete, blieb dem 26-jährigen Schweizer die amtliche Verteidigung.
Legal, illegal, fast legal
Keine illegale Substanz wird in der Schweiz häufiger konsumiert als Cannabis, mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat sie schon mindestens einmal im Leben probiert. Junge kiffen häufiger als Alte, Männer mehr als Frauen. 2021 verzeichnete die Polizei etwas über 2000 Delikte wegen Handels mit Cannabisprodukten. Ein gutes Drittel aller Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz betreffen Cannabis.
Alles Handlungen, die nie geahndet werden müssten, gäbe es das Betäubungsmittelgesetz nicht; ein Gedanke, den Strafrechtsprofessor Marc Thommen unlängst in der Republik äusserte und der angesichts der immer notorischen Überlastung der Justiz umso interessanter ist. Eine Studie des Bundes beziffert die Kosten für Strafverfolgung und Justizvollzug allein in Zusammenhang mit Cannabis-Delikten auf rund 60 Millionen Franken jährlich.
Tatsächlich war es ja mal anders: Konsum, Anbau und Handel von Cannabis waren lange völlig legal. Erst 1951 werden Anbau und Handel von Cannabis, ein bis dahin vor allem unter Bauern und als Arzneimittel beliebtes Kraut, verboten. Der Eigenkonsum bleibt legal.
Nach 1968 wird das Kiffen als Widerstand gegen die bürgerliche, auf Rationalität und Leistung getrimmte Gesellschaft wahrgenommen, wie es der Historiker Ruedi Brassel-Moser im «Historischen Lexikon der Schweiz» beschreibt: der «in der Gruppe zirkulierende Haschischjoint» als Auflehnung gegen die «Alkohol trinkende Vätergeneration». Gleichzeitig etablieren sich auch andere Konsumgruppen, Kokain und Heroin kommen auf.
Die Gesetzgeberin reagiert mit einer Verschärfung: 1975 katapultiert eine Revision des Betäubungsmittelgesetzes den Drogenkonsum in die Illegalität, auch jenen von Cannabis. Doch es wird weiter gekifft – und gedealt: Auf der Strasse und in Privatwohnungen – und in den 1990er-Jahren etabliert sich ein fast landesweites Netz an Hanfläden.
Um die Nullerjahre werkelt der Bundesrat an einer neuerlichen Revision des Betäubungsmittelgesetzes. Er schlägt nun vor, den Konsum wieder straffrei zu machen und Handel und Anbau zu regeln. Doch der Nationalrat lehnt es ab, sich mit der Revision zu befassen, bis der Bundesrat das Thema Cannabis wieder ausklammert.
Das Blatt wendet sich erst 2013 mit dem Ordnungsbussenverfahren.
Kurzer Prozess, geständiger Beschuldigter
Bei der Gerichtsverhandlung gegen Remo Weber handelt es sich um eine kurze Sache, es ist ein abgekürztes Verfahren. Das Gericht müsse nur noch prüfen, erklärt Richter Manuel Hauser dem Beschuldigten, «ob der Sachverhalt anerkannt ist, ob das Geständnis mit der Aktenlage übereinstimmt und ob die Strafe angemessen ist».
Wenn das alles zutreffe, werde der Vorschlag der Staatsanwaltschaft zum Urteil erhoben. Theoretisch hätte Weber noch die Möglichkeit, sein in den Einvernahmen geäussertes Geständnis zu widerrufen, dann müsste der Fall zum ordentlichen Verfahren gewandelt und ein umfangreiches Beweisverfahren eröffnet werden.
Abgekürzte Verfahren sind umstritten. Einerseits entlasten sie die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. Sie führen für den Beschuldigten wegen des Geständnisses meistens zu einer tieferen Strafe. Und dieser weiss früher, was ihn erwartet. Andererseits wird unter anderem kritisiert, dass der Beschuldigte auf die Chance auf einen Freispruch verzichtet – und sei sie noch so klein.
Verteidiger Jürg Bügler findet in der Verhandlungspause gute Worte für das abgekürzte Verfahren: Bei einer derart klaren Sachlage wie im vorliegenden Fall sei es für alle Beteiligten befriedigender, dass man den Prozess beschleunige. Unangenehm bleibt der Gang vor Gericht trotzdem, denn auch im abgekürzten Verfahren werden private Details thematisiert – in aller Öffentlichkeit.
«Schon ein bisschen übertrieben», findet der Beschuldigte in der Verhandlungspause.
Weber hat eine Lehre als Logistiker abgeschlossen und arbeitet heute als Magaziner. Vermögen keins, Schulden keine. Seit kurzem wohne die Freundin bei ihm, sagt er auf Nachfrage des Richters. Die von Hauser vorgetragene Vorstrafe wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand bestätigt er, ebenso den Sachverhalt: dass er Gras verkauft hatte und verkaufen wollte.
Ob er auch die rechtliche Würdigung anerkenne, will Hauser wissen.
Weber: «Das verstehe ich nicht.»
Hauser: «Die Staatsanwaltschaft nennt das ein schweres Verbrechen, anerkennen Sie, was sie da sagt?»
Auch das tut der Beschuldigte, und mit der Strafe ist er einverstanden. Ebenso damit, dass das Bargeld von knapp 2500 Franken eingezogen wird und er die Gerichtskosten zu tragen hat.
«Dann nehme ich an, Sie sind einverstanden, dass der Urteilsvorschlag zum Urteil erhoben wird», schliesst Richter Hauser seine Ausführungen. Und will doch noch wissen, wie es dazu gekommen sei, dass Weber dealte.
«Ja, wotsch e chli Gäld verdiene, wotsch chli öppis mache, so, eifach», sagt Weber.
Hauser: «Weil Sie Geld verdienen wollten oder aus Langeweile?»
Weber: «Sicher nicht, weils langweilig war.» Er habe eingesehen, dass es nicht richtig gewesen sei. Wenn er zurückgehen könnte, würde er es nicht mehr tun.
Ob er Zukunftspläne habe, fragt der Richter.
Weber: «Schaffe und s richtige Läbe durezieh.»
In der Verhandlungspause sagt Weber, das sei eine ganz andere Zeit gewesen, damals, als er mit dem Dealen angefangen habe. Immer Stress, immer habe er schauen müssen, ob das Geld reiche. Und dann sei er an den «falschen Freund» geraten.
Weber berät sich ein letztes Mal mit seinem Verteidiger, er hat einige Fragen; wann die Probezeit beginne, was das genau bedeute, wie er das Geld bezahlen könne, das er nun schulde.
Nach einer knappen Viertelstunde Beratung kehren alle in den Saal zurück. Der Einzelrichter folgt dem Vorschlag der Staatsanwaltschaft und spricht Weber des schweren Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig. Zwölf Monate Freiheitsstrafe bedingt bei drei Jahren Probezeit seien angemessen, sagt Manuel Hauser. «Es geht da doch um eine beträchtliche Menge, das ist kein leichtes Delikt.» Weber sei zwar nicht einschlägig vorbestraft, «aber eine weisse Weste haben Sie auch nicht».
Er wünscht dem Mann auf der Anklagebank alles Gute. «Ich hoffe, Sie haben etwas gelernt.»
Weber hatte in der Pause gesagt, in ein, zwei Jahren wäre das, was er getan hätte, legal. So bald wahrscheinlich nicht. Aber eines hat er verstanden: Straftaten sind immer auch ein Kind ihrer Zeit.
Illustration: Till Lauer