Oje, oje, die Schule brennt
In der Schweiz fehlen Hunderte qualifizierte Lehrkräfte. Was läuft schief?
Von Elia Blülle (Text) und Leillo (Illustration), 11.08.2023
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Claudio Gagliardi hört gerade viel Pink Floyd, «Another Brick in the Wall».
Seit er den Song am Schülerfest mit der Lehrerband gespielt hat, bekommt er ihn nicht mehr aus dem Kopf. Er singt «We don’t need no education» vor sich hin und lacht; die Baskenmütze und die Lederarmbänder wippen mit. «Das war geil», sagt er.
Gagliardi, 39 Jahre alt, rötlicher Bart, Tattoos, gebaut wie ein Rugbyspieler, unterrichtet Musik an einer Sekundarschule in einem Vorort der Stadt Bern.
Als Kind lernte er Schlagzeug, dann Gitarre, Klavier, Bass. Er leitet zwei Chöre, ist nebenbei Kirchenmusiker. Bis Gagliardi aber ein Lehrerzimmer von innen sah, dauerte es ein halbes Leben. Er begann sein Berufsleben anderswo: in der Migros, im Detailhandel, als Lehrling.
«Frontarbeit», sagt er. «Joghurt, Gemüse, all das Zeugs. Ein toller Beruf.»
Fürs Schweizer Militär war Gagliardi in Kosovo und in Bosnien. Er arbeitete auch bei McDonald’s, dann als Türsteher, um ein Journalismusstudium zu finanzieren, später beim Fernsehen und bei einem Online-Medium. Als er sich da nicht mehr sah, machte er ein Praktikum als Lehrer, wurde eingestellt und holte die Ausbildung nach. Seit 7 Jahren unterrichtet er.
Weil Gagliardi «im Stollen», in der Migros, bereits morgens um 6 Uhr Gemüse rüsten musste, hat er einen Aussenblick. Er weiss: Lehrpersonen können mühsam sein, es wird viel gejammert, sie sind schwierig zu führen. Jeder ist ein «Klassengeneral». Wenn einer klagt, er müsse am Sonntag noch fünf Prüfungen korrigieren, dann sagt Gagliardi: «Komm jetzt, tu nicht so!»
Mit den Lehrern sei es manchmal wie mit der Fabel des Hirtenjungen, der ständig «Wolf!» brüllt, sagt Gagliardi. «Wenn du immer herummotzt, wirst du nicht ernst genommen, wenn es dann wirklich ernst ist.»
«Das ist schade», ergänzt er. «Denn jetzt gibt es gute Gründe zu motzen.»
Als Journalist hat Gagliardi gelernt hinzuschauen, wenn Systeme versagen. Und je länger er unterrichtet, desto mehr sorgt er sich um die Schule und ihre Zukunft – nicht nur als Lehrer, sondern auch als Vater von drei Kindern. Seine Tochter hatte in der ersten Primarschulklasse neun unterschiedliche Lehrerinnen; eine Stellvertretung löste die andere ab.
Er und seine Frau, die ebenfalls Lehrerin ist, hatten an Silvester ein Lehrerpaar zu Besuch. Gute Freunde. In anderen Jahren haben sie sich bis tief in die Nacht über Brettspiele gebeugt. Dieses Jahr war es anders, keine Lust. Sie berichteten sich gegenseitig bei Rotwein aus ihrem Schulalltag, erzählten von Gewalt, Überforderung, Burn-outs und vom Gefühl, ein Ballon zu sein, der nur noch «schlucken, schlucken, schlucken, schlucken» muss.
Das war nicht das übliche Gestöhne aus dem Lehrerzimmer. Das war Ernst.
«Fuck», dachte Gagliardi später beim Einschlafen. «Ist den Menschen da draussen eigentlich bewusst, was an unseren Schulen gerade so abgeht?»
I. Keine Bewerbungen
Bei Martin Kästli war es Anfang Mai, als er begriff, dass er ein gröberes Problem hat.
Der Gesamtschulleiter von Sumiswald im bernischen Emmental ist verantwortlich für rund 580 Schülerinnen und Schüler und 75 Lehrpersonen. Er musste für das kommende Schuljahr drei neue Klassenlehrpersonen suchen.
«Was denken Sie, wie viele Personen sich auf die freien Stellen bewarben?», fragt er.
Kästli streckt seinen rechten Zeigefinger in die Höhe. «Sie sagte leider wieder ab.»
Die Lehrpersonen fehlen nicht nur im Emmental. Wenige Tage bevor in den meisten Kantonen die Schule wieder beginnt, sind in der Schweiz noch Dutzende Stellen unbesetzt. Wie viele es genau sind, ist schwer zu sagen.
Was man weiss: Im Kanton Bern ist die Lage seit längerem besonders prekär. Hier hat die Klage über den Lehrermangel mittlerweile sommerliche Tradition. Jedes Jahr dasselbe. Und doch flacht die Panik dann jeweils rasch wieder ab.
«Wir sind keine Schreiner, die Aufträge ablehnen oder Lieferfristen verzögern können. Jedes Kind hat nach den Sommerferien einen Lehrer – koste es, was es wolle», sagt Kästli, der kurz vor seiner Pensionierung steht und mit der ruhigen Stimme eines Mannes spricht, den nichts mehr so schnell umhaut.
Besonders das «koste, was es wolle» besorgt Kästli. Denn der 62-jährige Schulleiter weiss nur zu gut, was das für Lehrerinnen bedeuten kann.
Fährt man in Sumiswald mit dem Zug ein, sieht man direkt beim Bahnübergang eine vollgesprayte Trafostation. Die Graffitis sind etwas verblichen, doch die Signatur ist noch gut erkennbar: «4. Sek, 2004». Die Trafostation markiert das Ende von Kästlis einstiger Lehrerkarriere.
Sumiswald war nicht sein Wunschort. Kästli wuchs in einem Vorort von Bern auf, studierte in Lausanne. In den 1980er-Jahren konnten Lehrer nicht auswählen. Sie bewarben sich überall. Wo es klappte, gingen sie hin. Beim Bewerbungsgespräch in Sumiswald fragte man Kästli, ob er sich auch in einem Verein engagieren wolle. Es war weniger Frage als Bedingung. Und so kam es, dass Kästli bereits 3 Jahre später Präsident des örtlichen Tennisclubs wurde. Er lebte sich ein. «Die Emmentaler sind anfangs zurückhaltend», sagt er. «Dafür sind die Beziehungen später umso tiefer.»
Kästli integrierte sich bestens. Trotzdem kam es 2004 zum Bruch.
Damals verzichtete er darauf, mit seiner Klasse das traditionelle Abschlusstheater zu inszenieren. Eine Theateraufführung mit dieser Klasse schien nicht möglich – zu wenig diszipliniert, zu chaotisch, sagt Kästli.
Einige Eltern sahen das anders.
Drei Jahre lang hatten sie ihn kritisiert, dass er die Klasse nicht hart genug führe, zu nachsichtig sei, zu wenig streng. Kästli wollte nie nur Mathematikprofessor sein. Das Klassenklima war ihm wichtiger als die Schulnoten. Denn Kinder lernten nur, wenn sie keine Angst hätten, sagt er.
Es gab Aussprachen, Telefonate, Elterngespräche, und als Kästli als erster Lehrer überhaupt auf das traditionelle Theater verzichtete und stattdessen die Klasse eine Trafostation besprühen liess, kam es zum Eklat.
Sogar die Medien berichteten über den Fall. «Eltern mobbten Lehrer. Schüler halten zu ihm», titelte «20 Minuten» damals in einem Artikel.
Gegenüber der Presse sagte er: «Ich wollte den jungen Menschen eine Chance geben, Sozialkompetenz zu beweisen.»
Die Schüler fanden es traurig, dass er so kritisiert wurde. «Herr Kästli hat uns eine Chance gegeben. Aber jetzt ist alles kaputt», meinten sie.
Kästli sagte die Klassenreise ins Tessin ab und wurde krankgeschrieben. Er habe seinen Beruf geliebt, sagt Kästli. Doch das fehlende Vertrauen, der ständige Rechtfertigungsdruck und der fehlende Rückhalt zerrieben ihn.
Nach 17 Jahren als Lehrer entschied sich Kästli, den Beruf aufzugeben. Er räumte das Schulzimmer, arbeitete fortan bei einem privaten Lehrmittelverlag, engagierte sich als FDP-Gemeinderat. Doch mit der Schule Sumiswald schloss Martin Kästli nie ganz ab – und die Schule nicht mit ihm.
2018 kehrt er zurück. Diesmal als Gesamtschulleiter. Vieles hat sich zwischenzeitlich verändert. Es gibt einen neuen Lehrplan, neue Fächer, den integrativen Unterricht. Für Kinder mit einer Spezialdiagnose – zum Beispiel Asperger oder ADHS – bewilligt der Kanton Förderlektionen. Als Kästli 2018 wieder anfängt, sind es 20 Lektionen, heute sind es bereits viermal mehr.
Die Schule benötigt noch mehr Sozialpädagogen, noch mehr Lehrer. Doch woher?
Das Bundesamt für Statistik rechnet, dass in der Schweiz bis 2031 über 10’000 Lehrpersonen fehlen werden. Die Babyboomer gehen in Pension, die Schülerinnenzahlen steigen, die Migration verstärkt sich. Und je weniger Lehrer es auf dem Arbeitsmarkt gibt, desto freier können sie ihren Posten auswählen.
Sumiswald und andere abgelegene, ländliche Gemeinden haben es da schwer – insbesondere im Kanton Bern, wo Lehrer weniger verdienen als in den Nachbarkantonen. Kästli weiss das. Die oft urbanen, jungen Abgängerinnen der Pädagogischen Hochschulen zieht es nicht ins Emmental.
Als Kästli Ende Mai immer noch keine einzige neue Bewerbung erhalten hatte, setzte er sich mit der Lehrerschaft zusammen. «Wir können nicht anders», sagte er. «Wir müssen die Klassen zusammenlegen.»
II. Der Schweinezyklus
In der Schweiz werden Politikerinnen nicht müde zu betonen, dass die Ausbildung junger Menschen die einzige Ressource sei, die das Land habe.
Wenn das stimmt: Wie kommt es, dass Schulen keine Lehrkräfte finden?
Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit – und in den Schweinestall.
Der Agrarwissenschaftler Arthur Hanau fand 1927 heraus, dass Bauern ihre Schweinezucht ankurbeln, wenn der Schweinepreis hoch ist.
Es kommt mehr Fleisch auf den Markt, der Preis fällt, die Bauern fahren ihre Zucht wieder zurück – und die Spirale beginnt wieder von vorn.
«Das Schweizer Bildungswesen steckt seit 150 Jahren in einem Schweinezyklus», sagt der Historiker Lucien Criblez von der Universität Zürich. Er forscht zum Schweizer Lehrerinnenmangel in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren, der noch schlimmer gewesen sei als der von heute.
«Wenn man mehr Lehrer benötigt, gibt es in der Theorie eine einfache Lösung», sagt Criblez. «Man bildet mehr Lehrerinnen aus.»
Das taten die Kantone. So intensiv, dass es in den 1970er-Jahren, als die Wirtschaft einbrach, die Geburtenzahlen sanken und der Staat sparte, zu viele Lehrer auf dem Arbeitsmarkt gab. Sie fanden keinen Job mehr oder wurden gar entlassen. Auf Mangel folgt Überfluss, auf Überfluss wieder Mangel. Das ist strukturell bedingt – und kaum zu ändern.
Aber Historiker Criblez betont: Das Schulwesen ist natürlich kein Schweinemarkt.
Angebot und Nachfrage werden im Bildungswesen von zahlreichen Faktoren beeinflusst, die nur schwierig zu steuern sind. Es gilt die freie Berufswahl. Der Staat kann keine Lehrer züchten. Besonders in wirtschaftlich stabilen Zeiten gibt es für junge, gut ausgebildete Menschen zahlreiche Jobmöglichkeiten. Und wer einmal Lehrer ist, bleibt es meistens für immer.
Der Beruf bietet Stabilität, solides Einkommen, keine glamouröse Karriere.
Laut dem neusten wissenschaftlichen Bildungsbericht dürfte sich der Lehrerinnenmangel in den nächsten Jahren schweizweit entschärfen: Es schreiben sich mehr Menschen an Pädagogischen Hochschulen ein, die Pensionierungswelle wird abflachen und entgegen der weitläufigen Meinung bleiben Lehrerinnen ihrem Beruf überraschend treu.
Andererseits arbeiten immer mehr Lehrerinnen und Lehrer Teilzeit.
Das frisst fast den gesamten Fortschritt wieder weg. Im Bildungsbericht von 2018 schreiben Wissenschaftler, der Mangel wäre behoben, würden alle Teilzeitlehrer ihr Pensum um 10 Prozent erhöhen. Diverse Politiker und einzelne Bildungsökonomen fordern nun die Einführung von einem Mindestpensum, wie es etwa der Kanton Genf kennt.
Ob das hilft?
Dass so viele Lehrpersonen (primär Frauen) Teilzeit arbeiten, hat unter anderem mit der schlecht ausgebauten Kinderbetreuung zu tun. Diverse Befragungen zeigen ausserdem, dass Lehrer ihre Pensen zurückschrauben und Lohneinbussen in Kauf nehmen, um so ihre Gesundheit zu schützen.
In keinem anderen OECD-Land arbeiten Lehrer mehr als in der Schweiz.
Sie üben ihren Beruf zwar gerne aus, leiden aber oft an Erschöpfung. Gemäss einer Nationalfondsstudie aus dem Jahr 2014 ist jede dritte Volksschullehrerin stark Burn-out-gefährdet. Anita Sandmeier Rupena von der Pädagogischen Hochschule Schwyz war an der Untersuchung beteiligt und vermutet, dass die Belastung seither noch einmal zugenommen hat.
«Mit den Lehrpersonen und der Überlastung ist es wie mit Fröschen im Topf», sagt die Bildungsforscherin. «Erhitzt sich das Wasser schnell, hüpfen sie sofort raus. Erwärmt es sich langsam, gewöhnen sie sich an die Temperatur – und wenn es kocht, ist es bereits zu spät. An diesem Punkt sind wir jetzt.»
III. Ausgebrannt
Erzählt der Musiklehrer Claudio Gagliardi von seiner Schule, leuchten seine Augen. «Wir haben eine geniale Schulleitung», sagt er. «Das ist das Wichtigste.»
Und die Jugendlichen? «Brutal kreativ, aufgeweckt. Bestens unterwegs.»
Auf die Frage, weshalb Lehrkräfte ausbrennen, antwortet er mit einem Witz: «Wie antworten die Politiker, wenn wir sie fragen, ob wir neue Bälle für den Sport haben können? – Hier habt ihr Gaffa-Tape und eine Pumpe.»
Er und seine Kolleginnen fühlen sich oft im Stich gelassen. Etwa bei der Frage der Klassengrössen. Der Kanton Bern hat sie aus Spargründen bereits angehoben. Auch wegen des Lehrermangels reissen immer mehr Schulen die vorgesehene Obergrenze. Im abgelaufenen Schuljahr gab es im Kanton Bern 41 Schulklassen mit mehr als 27 Schülerinnen und Schülern pro Klasse.
«Die Politiker sollen doch einmal vorbeikommen und schauen, was es heisst, eine 28er-Klasse zu unterrichten», sagt Gagliardi. «Eine Klassenlehrperson muss dann 28 Elterngespräche führen, immer am Abend, manchmal am Wochenende. Zwei Stunden Vor- und Nachbereitung. Mindestens. Für einen Englischlehrer bedeutet eine solche Klasse 28 Aufsätze. Die musst du sauber bewerten und korrigieren, denn Eltern klopfen schnell an, wenn du schlampst. Und zeitgemässen Musikunterricht mit 28 Kids? Vergiss es.»
Ein anderes Ärgernis für ihn: Jugendliche, die sich kaum in den Schulalltag integrieren lassen.
An Gagliardis ehemaligem Arbeitsort bedrohte ein Schüler andere Jugendliche mit einer Schere. Er war unberechenbar, die Lehrer fürchteten um ihre Sicherheit und jene der Schüler. Die Schulleitung schickte den Jungen in ein schulisches Time-out, was aber keine Besserung brachte. Zwölf Wochen später stand er wieder im Schulzimmer. «Hier, liebe Lehrer, kümmert euch. Das war die Botschaft an uns», sagt Gagliardi.
Solche Episoden gebe es im Dutzend. Gagliardi schickt die Sprachnachricht einer Kollegin weiter, die in einer anderen Schule von einem Primarschüler geschlagen wurde. Sie erzählt, die Schulleitung habe sie komplett alleingelassen. Man habe ihr gesagt, sie habe sich in der Situation falsch verhalten, darum sei er ausgeflippt. «Das hat mich extrem verletzt», sagt sie.
«Wir sind Pädagogen. Wir sind Profis in unserem Beruf», sagt Gagliardi. «Die meisten machen das sehr engagiert. Aber wir sind nicht ausgebildet und haben keine Kapazität, um uns um Gewalttäter zu kümmern.»
Er befürwortet integrativen Unterricht und Schulen, in denen Kinder in Niveauklassen durchmischt werden. «Das pusht schwache Schüler sehr», sagt er. Aber es gebe Kinder, bei denen mache man niemandem einen Gefallen, wenn man sie in die Regelklasse integriere. «Bei diesen Jungs und Mädchen reichen vier Stunden die Woche bei der integrierten Förderung nicht.»
Auch der schweizerische Berufsdachverband der Lehrerinnen und Lehrer schreibt, der integrative Unterricht sei ohne zusätzliche Ressourcen nicht leistbar. In einem Positionspapier fordert er: «Inklusion wo möglich, Separation wo nötig.»
Der Grosse Rat will nun im Kanton Bern die «Kleinklassen» zurückholen – Klassen, in denen explizit Schüler mit besonderem Bildungsbedarf und herausforderndem Verhalten untergebracht werden sollten.
Nicht zur Begeisterung der Lehrer. Der kantonale Berufsverband spricht von einer «Scheinlösung, die die schwächsten Kinder im System zu Problemkindern macht».
Auch Gagliardi ist unschlüssig, was er von neuen «Kleinklassen» halten soll.
In jeder Schule gebe es zwei bis drei Kids, die das System extrem belasten und überdurchschnittlich viel Aufwand erzeugen würden, sagt er. Für diese paar Kinder müsse man Alternativen finden. «Wie eine Lösung aussehen könnte?», fragt er. «Ich weiss es nicht. Das ist aber auch nicht mein Job.»
IV. Der Zielkonflikt
Der Sumiswalder Schulleiter Martin Kästli will nicht zurück in die alten Zeiten, Kinder in Sonderklassen «ghettoisieren» oder «ausgrenzen». Er findet auch den Lehrplan grossmehrheitlich gut: mehr Digitalisierung, mehr Kompetenzen. Die Schule müsse mit der Zeit gehen, sagt er. Das Problem liege woanders. «Wir wollen ein Auto bauen, das aussieht und schnell fährt wie ein Ferrari. Aber wir leisten uns dafür nur einen Fiat-Motor.»
Im Rahmen eines Austauschprogramms waren kürzlich zwei Schulleiter aus dem österreichischen Salzburg in Sumiswald. Ihr Fazit, erzählt Kästli: «Ihr macht alles für die Kinder. Aber viel zu wenig für die Lehrpersonen.»
Die Schulen müssen viele Reformen verdauen. Bis sich alle angepasst haben, braucht es Zeit – mindestens 10 Jahre, sagt die Bildungsforschung.
Hinzugekommen sind die Covid-Pandemie, ukrainische Geflüchtete und die zunehmenden psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen. Fast nirgends schlagen Krisen so schnell ein wie an den Volksschulen.
Der Fachkräftemangel verschärft die Belastung. Das Personal kompensiert, was fehlt. Auch Schulleiter Martin Kästli muss einigen Lehrern fürs nächste Schuljahr Klassen mit 27 Kindern aufbürden, weil es nicht anders geht.
Der Kanton Bern reagiert nun. Bildungsdirektorin Christine Häsler (Grüne) hat am Berner Bildungstag im Mai versprochen, Lehrpersonen und Schulleitungen künftig zu entlasten, um den Lehrermangel einzudämmen. Sie will unter anderem den Klassenlehrerjob aufwerten und zusätzliche Lektionen sprechen, um das Lernen in kleinen Gruppen zu fördern.
Der kantonale Berufsverband spricht von einem «grossen Schritt».
Die Lehrkräfte sollen nun an allen Fronten entlastet werden, allerdings fehlt dafür mittlerweile vielerorts das qualifizierte Personal.
Rund 19’500 Lehrpersonen arbeiten im Kanton Bern, davon 2500 ohne Diplom.
In Bern füllen immer mehr Quereinsteiger die Lücken. Der Kanton hat im Juli rund 130 Personen in einem zweiwöchigen «Sommercamp» auf einen Schuleinsatz vorbereitet. Viele von ihnen werden im August erstmals vor einer Schulklasse stehen. Und vergangenes Jahr musste die Pädagogische Hochschule Bern – die Politik wollte es so – einen neuen Studiengang entwickeln: Berufsmaturanden können neu ohne Aufnahmeprüfung ein Lehrerdiplom erwerben (es wird aber nur im Kanton Bern gültig sein).
Stefan Wittwer, Geschäftsführer des kantonalen Berufsverbands, ist besorgt über diese Entwicklung. Zwar anerkennt er die Leistung, den Einsatz der Quereinsteigerinnen, sieht aber auch, wie die mangelnde Ausbildung und Erfahrung Lehrerteams zusätzlich belastet. «Nur weil man selbst zur Schule gegangen ist, kann man noch lange nicht unterrichten», sagt er. «Man kann auch nicht einfach einen Zug lenken, nur weil man seit Geburt mit dem Zug unterwegs ist.»
Katharina Maag Merki, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Zürich, befürchtet eine «Deprofessionalisierung», wenn Kantone die Anforderungen herunterschrauben. Es scheint paradox: In Finnland beispielsweise fehlen auch deshalb keine Lehrerinnen, weil der Beruf Prestige geniesst und nur die Besten zur Ausbildung zugelassen werden.
«Das ist eine Profession, nicht einfach ein Beruf», sagt Forscherin Anita Sandmeier Rupena von der Pädagogischen Hochschule Schwyz. «Senken wir die Eintrittshürde, wie es der Kanton Bern gerade im Alleingang macht, werden die Anforderungen des Studiums nach unten korrigiert werden müssen. Das macht das Studium wiederum unattraktiv für Maturandinnen.»
Die Politik und die Schulen stehen vor einem Zielkonflikt: Sie brauchen dringend mehr Lehrerinnen, aber die kurzfristigen Massnahmen drohen den strukturellen Mangel langfristig zu verschärfen.
V. Schlampverbot
Haben die Kantone ihre Schulen kaputtgespart? Hat die Bildungspolitik die zahlreichen Reformen auf dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen? Hat sie unterschätzt, wie viel mehr Ressourcen die Schulen heute bräuchten?
Die Bildungsausgaben sind im Vergleich zu den Gesamtausgaben in den vergangenen 20 Jahren gestiegen – tendenziell auch pro Kopf. Noch nie gab die Schweiz so viel Geld für ihre Schulen aus. Auf Knausrigkeit lässt sich der Lehrermangel nicht reduzieren. Und er wird sich mit mehr Geld allein auch nicht lösen lassen.
Die Erziehungswissenschaftlerin Maag Merki sagt, man könne den Mangel nicht auf Knopfdruck beheben. Die Schule müsse mit dem Personal arbeiten, das sie hat – und das gehe nur, wenn alle zusammenspannten und ungenügend ausgebildete Lehrpersonen in den einzelnen Schulen weiterqualifiziert würden. Dies allerdings, betont sie, bedeute für die erfahrenen Lehrpersonen wiederum eine deutliche Zusatzbelastung.
Maag Merki sagt, die Schulen bräuchten natürlich mehr Ressourcen, um die grossen Herausforderungen zu meistern: mehr Personal. Allerdings hätten sie vieles selbst in der Hand. In der Schweiz geniessen Schulen viel Autonomie. Bildung ist kleinräumig organisiert. Und wer gut organisiert ist, hat weniger Probleme.
In einer neuen Studie von Maag Merki haben Schulen mit stabilen Teams, in denen Lehrpersonen gemeinsam über die Unterrichtsgestaltung nachdenken und Routinen hinterfragen, deutlich besser abgeschnitten als solche mit losen Organisationsformen. Teamfähige Schulen könnten somit auch mit dem Lehrermangel und den damit verbundenen Problemen besser klarkommen. Diesbezüglich, sagt Maag Merki, gebe es zwischen den Schulen noch gewaltige Unterschiede.
Schulleitungen, Gemeinden und Kantone können selbst bestimmen, wie an den Schulen gearbeitet werden soll, wie viel Administration für die Lehrpersonen anfällt und welche Unterstützung sie erhalten, wenn einzelne Schülerinnen oder Schüler ganze Lehrerteams in die Verzweiflung treiben.
Das ist Politikarbeit im Kleinen. Wer spart, schlampt und in der Vergangenheit herumtrödelt, wird es auch künftig schwer haben, genügend Lehrpersonen zu finden. Kantone und Gemeinden, die in die Bildung investieren, profitieren. Darin liegt die Eleganz eines ausgetrockneten Arbeitsmarktes: Die Fleissigen, Grosszügigen, Innovativen werden belohnt.
VI. Epilog
Am Montag geht im Kanton Bern die Schule los. Auf dem Stellenportal sind noch immer rund 30 unbefristete Stellen ausgeschrieben.
Irgendwie wird es schon gehen. Wie schon letztes Jahr. Und im Jahr zuvor.
«Wir dürfen die Schüler nicht nach Hause schicken», sagt der Musiklehrer Gagliardi. «Schulleitungen würden noch eher den Hauswart vor die Klasse stellen.»
Er bereitet gerade die neuen Instrumentenwerkstätten fürs nächste Schuljahr vor. «Ich will, dass meine Schüler in 30 Jahren sagen, wir haben Musik gemacht, nicht nur Vorträge gehalten und Filme geschaut», sagt er. Gagliardi hat aufwendige Videotutorials produziert, mit denen seine Schülerinnen und Schüler einfach ein Instrument lernen können. Am Ende des Jahres soll es dann eine Band und ein Schülerkonzert geben.
Währenddessen überlegt sich der Schulleiter Martin Kästli in den Ferien, wie er seine Schule noch attraktiver machen könnte für neue Lehrpersonen.
Er erzählt vom Berner Oberland, wo die Lehrer in einigen Gemeinden ein Skiabo umsonst erhalten. Das kann Kästli im Emmental mit seinen alten Bügelliften und den immer wärmeren Wintern nicht bieten. Deshalb hat er nun einen anderen Plan: Im Herbst will er die Gemeinde bitten, künftig auch die Lehrer ans Weihnachtsessen der Gemeindeangestellten einzuladen.