Binswanger

Wovon bei diesen Wahlen geredet wird – und wovon nicht

Der Wahlherbst geht los. Die SVP darf sich über verblüffend viele Zuträger freuen.

Von Daniel Binswanger, 05.08.2023

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Es ist nicht ungewöhnlich in einem Wahljahr, dass die Kampagnen mit dem ersten August in Fahrt kommen. Aber die Ereignisse im Umfeld des National­feiertages hinterlassen dieses Jahr ein schales Gefühl.

Wir durchleben einen Sommer der noch nie da gewesenen Extremwetter­phänomene, doch die Zeichen stehen auf Migrations­wahlkampf. Es kommt schon jetzt zu Provokationen und Gehässigkeiten, die zwar zum Geschäft gehören mögen, bezüglich der Fähigkeit, relevante Fragen wenigstens einiger­massen zu verhandeln, aber wenig optimistisch stimmen. Und schliesslich: Die sich ständig beschleunigenden Veränderungen im Schweizer Medien­system führen zu Verschiebungen im öffentlichen Diskurs, die nicht ohne Folgen bleiben werden.

Eines immerhin ist geklärt: Die SVP wird keinen «Gender-Gaga»- und keinen Anti-Wokeness-Wahlkampf machen. Die Werbe­spots zum ersten August und die Medien­konferenz von diesem Donnerstag lassen keinen Zweifel: Die Schweizer National­konservativen sind tatsächlich konservativ – und spielen auch dieses Mal die bewährte Karte der Zuwanderung. Was der Bauer kennt.

Die Zentral­mottos sind «Asylchaos» und «Zuwanderungs­desaster», das gesetzte Feind­bild ist Elisabeth Baume-Schneider. In den nächsten zwei Monaten dürfte es zunehmend unmöglich werden, auf ein Smart­phone oder ein Strassen­plakat zu schauen, ohne die entsprechenden Reizwörter aufs Auge gedrückt zu bekommen.

Risikofrei ist diese Strategie nicht, denn auch wenn die Volks­partei ein Remake des Wahlkampfes von 2015 anstrebt – nur dass diesmal nicht auf Simonetta Sommaruga, sondern auf Elisabeth Baume-Schneider eingedroschen wird –, ist der Zustrom von Asylsuchenden nach Europa zwar relativ hoch, aber immer noch bescheidener als im Jahr der grossen Flüchtlings­krise. Die Schutz­bedürftigen aus der Ukraine haben zwar in der Tat eine Flüchtlings­welle erzeugt, aber die SVP hütet sich bisher davor, die Solidarität mit diesen Asylsuchenden zum Thema zu machen. Sie nimmt vornehmlich die Zuwanderung aus Afrika und aus muslimischen Ländern ins Visier. Wird es reichen? Wird dasselbe Gefühl des Ausnahme­zustandes entstehen, werden sich dieselben Ängste beschwören lassen wie 2015? Das ist nicht gesichert, auch wenn die Volks­partei ihr Bestes tut.

Soweit es möglich war, wurde «Asyl­chaos» diesen Sommer von den Schweizer Staats­organen ja auch gezielt herbeigeführt. Um genauer zu sein vom Ständerat, der gegen den Willen der Landes­regierung, des Nationalrates und der Kantone – deren Interessen zu vertreten ja eigentlich seine verfassungs­mässige Funktion wäre – die Bewilligung von Krediten zur Errichtung der benötigten zusätzlichen Bundesasyl­unterkünfte erfolgreich verhinderte. Nun kommen einige Kantone tatsächlich an Kapazitäts­grenzen und vielleicht, so dürfte die Hoffnung sein, tatsächlich an den Rand von chaotischen Zuständen.

Immer wieder beeindruckend ist die strategische Naivität der Mitte- und der FDP-Ständeräte, die sich einspannen lassen für solche Spielchen und die Blockade des Ständerates ermöglicht haben. Falls die Rechnung aufgehen und sich tatsächlich ein Gefühl von «Asylchaos» einstellen sollte, wird nur die SVP profitieren – voraus­sichtlich nicht zuungunsten der Linken, sondern auf Kosten der anderen bürgerlichen Parteien.

Auch dass die FDP in zahlreichen Kantonen Listen­verbindungen mit der SVP eingeht, zeugt nicht von strategischer Weitsicht. Dass die linke Kampagnen­organisation Campax auf den Pakt von Freisinn und Volkspartei mit einem Sticker reagierte, der sich gegen beide Parteien richtete und auf dem das Kürzel «FCK NZS» (für «Fuck Nazis») zu sehen war, ist sicherlich eine überzogene Provokation. Kein Mensch wird im Ernst behaupten, dass die FDP oder die SVP Nazi-Parteien sind. Allerdings ist es eine Banalität, dass der Rechts­populismus massive Anleihen beim historischen Faschismus macht und sich etwa im Fall von Trumps ehemaligem Chef­ideologen Steve Bannon auch ganz explizit dazu bekennt. Und sehr viel peinlicher als die überzogene Kampf­rhetorik von Campax sind die betupften Reaktionen einzelner FDP-Mitglieder, etwa von Nationalrat Hans-Peter Portmann.

Portmann gehörte zu den engagiertesten Anwälten der Zürcher Listen­verbindung mit der SVP, die er in einem «Nebelspalter»-Interview wortreich verteidigt hat. Er befürwortet den elektoralen Pakt mit einer Kantonal­partei, die den Putin-Propagandisten, Kriegs­verbrechens-Apologeten und AfD-Freund Roger Köppel zu ihren tragenden Mitgliedern zählt. Dass Portmann damit nicht das geringste Problem hat, Polemik gegen Rechts­radikalismus hingegen für einen inakzeptablen Skandal hält, sagt alles, was man wissen muss, über die Prioritäten in seinem Werte­system.

Nicht einmal die Tatsache, dass die Solothurner SVP nun eine Listen­verbindung mit Mass-voll eingegangen ist, der «Bürgerrechts­bewegung», die von Nicolas Rimoldi präsidiert wird, scheint Freisinnige vom Schlage Portmanns anzufechten.

Natürlich darf man zuversichtlich sein, dass der irrlichternde Mass-voll-Präsident in der Schweizer Politik nie eine relevante Rolle spielen wird, auch dann nicht, wenn er im Herbst in den Nationalrat gewählt werden sollte. Offensichtlichere rechts­extreme Sympathie­bekundungen als Rimoldis Teilnahme an einer Demo der österreichischen Identitären Bewegung und ein Instagram-Post von Hitlers Geburtsort (laut Rimoldi natürlich ein rein zufälliger Besuch) sind allerdings kaum vorstellbar.

Aufgrund der Listen­verbindungen ist nun die FDP mit einer solchen Figur indirekt verbunden, auch wenn die Listen­verbindungen von Kanton zu Kanton variieren. Passgenauer kann man die Campax-Polemik beim besten Willen nicht beglaubigen. Wo liegt der Punkt, an dem die Freisinnigen sagen würden: Es reicht, auf solche Partner lassen wir uns nicht ein? Existiert er noch?

Sicherlich: Es gibt relevantere Themen als die Freak­show am rechten Rand. Die humanitäre Katastrophe, die aus der Migration nach Europa über das Mittelmeer erwächst, ist diesen Sommer in der Tat wieder besonders verheerend.

Vor gut zwei Wochen hat die EU – und damit das Schengen/Dublin-Land Schweiz – ein Abkommen mit Tunesien geschlossen, um die Lage besser in den Griff zu bekommen. Länger­fristiges Ziel dieser Partnerschaft soll es sein, Asyl­verfahren künftig an der EU-Aussen­grenze durchzuführen – in diesem Fall Tunesien – und die Asyl­suchenden gar nicht mehr nach Europa hineinzulassen. Damit, so lautet die Rechtfertigung, werde den Migranten die häufig tödliche Schiffs­traverse über das Mittelmeer erspart. Worüber man weniger gerne spricht: Von Staaten wie Tunesien, an die das Asyl­wesen künftig quasi übertragen werden soll, werden die Migranten häufig mit bestialischer Brutalität behandelt.

Quasi zeitgleich mit dem Abkommen wurde bekannt, dass die tunesischen Behörden dazu übergehen, schwarz­afrikanische Migrantinnen an die libysche Grenze zu deportieren und dort auszusetzen. Pushbacks in die Wüste – ohne Wasser. Besonderes Entsetzen hat der Fall von Fati und Marie Dosso ausgelöst: eine dreissigjährige Mutter und ihre sechsjährige Tochter, die von der Elfenbein­küste stammten, über das Mittelmeer nach Europa migrieren wollten, von den tunesischen Behörden in der Wüste ausgesetzt wurden – und elend verdurstet sind. Wie zahlreiche andere Opfer auch.

Uno-General­sekretär António Guterres hat das Handeln der tunesischen Behörden aufs Schärfste verurteilt. An anderer Stelle scheint man mit solchen Dingen aber keine Probleme zu haben. Und das führt uns zurück in die Schweiz.

Denn die Ansicht, dass die Festung Europa mit absolut allen Mitteln abgeschottet werden muss, gewinnt immer mehr an Terrain. Die NZZ veröffentlicht Leitartikel, in denen wir nachlesen dürfen, dass nur die Rechts­populisten sich den Vorwurf der migrations­politischen «Realitäts­verweigerung» nicht machen lassen müssen. Es ist die perfekt kalibrierte Steil­vorlage für die SVP-Propaganda, pünktlich zum Wahlkampf­auftakt diese Woche.

Bisher weniger erwartbar: Auch die «NZZ am Sonntag» ist voll auf Linie (wir werden uns vermutlich daran gewöhnen müssen). Sie veröffentlicht ein grosses Interview mit dem Migrations­experten Ruud Koopmans, der dafür plädiert, die Mittelmeer­traversen so weit als möglich zu unterbinden und die Asylverfahren nur noch in Dritt­staaten wie Tunesien durchzuführen. Ausschliesslich aus humanitären Gründen!

Wir lesen dort Sätze wie: «Wir müssen dafür sorgen, dass ein Abkommen wie jetzt mit Tunesien mehr ist als eine vage Erklärung. Beide Seiten müssen ein Interesse haben, das Abkommen einzuhalten.» Über die horrenden Menschenrechts­verletzungen des tunesischen Regimes verliert Koopmans kein einziges Wort. Die Interviewerin der «NZZ am Sonntag» fragt auch nicht nach. Die ganze Welt ist entsetzt, aber im Schweizer Wahlkampf sollen gewisse Themen offensichtlich nicht stattfinden. Oder ist der Migrations­experte ganz einfach nicht auf dem Laufenden über die Realitäten der aktuellen Migrations­politik?

Wir haben eine FDP, die sich mit Mass-voll verschwägert, ein immer SVP-affineres Medien­system und eine Volkspartei, die von 2015 träumt. Es wird kein hübscher Wahl­herbst werden. Aber es ist alles offen.

Illustration: Alex Solman

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