Der Weihnachts­frieden oder wie der Ukraine-Krieg zu Ende gehen könnte

Ein Gedankenexperiment: Der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine endet im Spät­herbst 2023 mit einem Waffen­stillstand. Ein für beide Seiten unbefriedigender Kompromiss erfordert kreative Formulierungen. Die Entwürfe zweier Reden: für Wladimir Putin und Wolodimir Selenski.

Von Erich Follath (Text) und Derek Bacon (Illustration), 02.08.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Daran hatten nicht alle Experten geglaubt: Die ukrainische Gegen­offensive wurde nach anfänglichen Verlusten und äusserst blutigen, den Front­verlauf kaum verändernden Gefechten doch noch ein durch­schlagender Erfolg. Bis zum Spätherbst 2023 haben Kiews Truppen einen Grossteil der von Russen besetzten Gebiete im Süden des Landes zurück­erobert und auch im Donbass substanzielle Gelände­gewinne erzielt – ganz so, wie Präsident Wolodimir Selenski es dem Direktor des US-Geheim­dienstes CIA im Juni bei dessen (von der «Washington Post» enthülltem) Geheim­besuch in Kiew angekündigt hat.

Artillerie- und Raketen­systeme wurden an die Grenzlinie zur russisch kontrollierten Krim verlegt. Neu war, dass auch Granaten mit der international geächteten Streu­munition zum Einsatz kamen, die Washington in grossem Umfang zur Verfügung gestellt hatte und die sich als ebenso brutal wie effizient erwiesen. Dazu kam die überraschend zügige Lieferung von F-16-Kampf­bombern.

Viele rechneten damit, dass Präsident Selenski seine Ankündigung wahr machen würde, einen Frontal­angriff auf die Halbinsel zu starten, für beide Seiten der grosse Preis des Krieges. Russlands Präsident Wladimir Putin, mit dem Rücken zur Wand, kündigte in Geheim­gesprächen mit den USA an, in einem solchen Fall mit allen ihm zur Verfügung stehenden Waffen zurück­zuschlagen: Er versetzte seine Atom­streitkräfte in Alarm­bereitschaft.

Sowohl die CIA als auch der deutsche Bundes­nachrichten­dienst hielten diesmal die Drohung für glaubhaft. Den Verlust seines Schwarzmeer­hafens Sewastopol würde Putin politisch kaum überleben. Damit war eingetreten, was die Politiker in Washington, London und Berlin fast genauso fürchteten wie einen ukrainischen Misserfolg – nämlich einen zu grossen ukrainischen Erfolg auf den Schlacht­feldern mit einer möglichen, die Nato zum Eingreifen zwingenden Eskalation. Den Weg in den dritten Weltkrieg.

Zum Autor

Erich Follath, promovierter Politologe, war Ausland­ressortleiter des «Spiegels» und ist einer der führenden deutschen Sachbuch­autoren. Von ihm erschienen unter anderem «Die neuen Grossmächte» und «Jenseits aller Grenzen». 2019 schrieb er in der Republik darüber, wie China versucht, das Volk der Uigurinnen umzuerziehen.

Für einige Tage wirken im Oktober 2023 die Fronten erstarrt, wie totenstill: die Ruhe vor einem drohenden Hurrikan, die womöglich letzte Chance für Kompromisse. Beide Kriegs­parteien werden von ihren internationalen Unterstützern zu Verhandlungen gedrängt, denen sie schliesslich widerwillig zustimmen.

Zuerst der vorläufige Waffen­stillstand. Dann die Gesprächs­führung: Gross­britannien, Frankreich und Deutschland bearbeiten die ukrainische Seite; Brasilien, Südafrika und die Türkei die russische – und im Hintergrund ziehen die beiden Elefanten die Fäden. Die USA und China sind immer im Bilde über Hemmnisse und Fortschritte. Zwischen den Fronten darf nur ein Emissär als Friedens­apostel hin- und herreisen: Kardinal Matteo Zuppi, Abgesandter des Papstes.

US-Präsident Joe Biden macht dann in Geheim­gesprächen Selenski mit überraschender Härte klar, dass er – trotz seiner Zusicherungen beim Nato-Gipfel in Vilnius – angesichts der zunehmend Ukraine-skeptischen Republikaner und des beginnenden US-Wahl­kampfs die Ukraine nicht mehr viel länger mit Milliarden­geldern und immer neuen modernen Waffen­systemen unterstützen könne. Dass die versprochene «Hilfe zur Befreiung besetzter Gebiete» nicht die schon 2014 besetzte Krim umfasse und Amerikas künftige Sicherheits­garantien eines Waffen­stillstands bedürften.

Der brasilianische Präsident Lula da Silva droht Putin damit, seine Neutralität im Krieg aufzukündigen und sich auf die Seite des Westens zu schlagen, käme es zu keinem Kompromiss; auch China macht klar, dass ein Einsatz nuklearer Waffen durch Putin das Ende jeder Solidarität bedeuten würde. Und dass ein totaler Sieg mit konventionellen Waffen für die Russen genauso wenig eine realistische Perspektive darstelle wie für die Ukraine.

Allen ist bewusst: Um mehr als einen kurzfristigen Waffen­stillstand zu erreichen, braucht es ein belastbares, langfristiges Abkommen. Von einem «Friedens­vertrag» mag keine der Konflikt­parteien reden. Schliesslich liegt im Dezember 2023 ein Verhandlungs­ergebnis auf dem Tisch, das zwar keine Seite zufrieden­stellen kann, das aber trotzdem in Kiew wie in Moskau in getrennten Zeremonien unterzeichnet wird.

Das Arrangement erinnert Beobachterinnen an das Nordkorea-Südkorea-Modell. Auch dort gibt es bis heute keinen Friedens­vertrag, sondern nur ein Verständnis über eine von beiden Seiten bei aller fort­bestehenden Feindschaft akzeptierte, vor grösseren bewaffneten Konflikten bewahrende Demarkations­linie. Die neue Grenze zwischen der Ukraine und Russland soll jetzt ebenso «eingefroren» werden, der Verlauf wird durch den Zustand an der Front bestimmt.

Die Ukraine kann dieser Vereinbarung nur zustimmen, weil ihr von ihren westlichen Verbündeten umfassende Sicherheits­garantien zugesichert sind. Zwar wird das Land noch nicht als Voll­mitglied in die Nato aufgenommen, aber die USA als stärkste Militär­macht stellen Kiew im Fall eines neuen Angriffs aus Russland militärisches Eingreifen in Aussicht. Die neue Grenze wird in einer demilitarisierten Zone zudem von Uno-Soldaten geschützt, die aus den Staaten der Verhandlungs­führer beider Seiten rekrutiert sind und ein robustes Mandat besitzen. Den wirtschaftlichen Wieder­aufbau gewährleistet ein grosszügig ausgestatteter Fonds, hauptsächlich finanziert von Westeuropa. Er verspricht Kiew auch einen konkreten und sehr zügigen Fahrplan für die Aufnahme in die EU.

Russland kann der Vereinbarung nur zustimmen, weil die Krim zwar nicht völker­rechtlich, aber macht­politisch bei Moskau bleibt und der Kreml zugesichert bekommt, dass es keine Versuche einer militärischen Eroberung geben wird. De facto befindet sich auch weiterhin ein kleiner, von der Ukraine nicht zurück­eroberter Teil des Donbass in russischer Hand.

Das Abkommen ist weit entfernt von dem, was Selenski seinen Landsleuten versprochen hat – und noch weiter entfernt von Putins offiziellen Verlautbarungen. Beide beschliessen, sich mit einer öffentlichen Ansprache an ihre Völker zu wenden. Viel Arbeit für ihre Redenschreiber, für die Spin­doktoren: Sie müssen Enttäuschungen so gering wie möglich halten und mit allen rhetorischen Tricks das Positive in den Vorder­grund rücken, das bei den Verhandlungen für ihre Seite herausgeholt wurde.

Hier die Entwürfe der Imageberater.

Kiew

Notiz an Wolodimir: Bitte, bitte Rede auf dem Maidan vor Massen­publikum halten, feierlicher Anzug statt Kampf­kleidung, blau-gelbe Krawatte.

Liebe Landsleute,

mit grosser Freude und Erleichterung darf ich sagen: Der Krieg ist vorbei, das Blut­vergiessen hat ein Ende – wir haben triumphiert, wir haben unser Land befreit, den Aggressor zurück­geschlagen! In der Stunde des Triumphes empfinde ich Dank und Demut. Dank an unsere Verbündeten, die mit ihren Waffen­lieferungen und mit ihren Hilfs­geldern zu diesem Ergebnis beigetragen haben, Dank vor allem aber an euch alle, die ihr mit eurem unbedingten, unerschöpflichen Einsatz für Freiheit und Unabhängigkeit für unsere Ukraine gekämpft habt.

Mit Demut gedenke ich der Opfer, die ihr Leben gelassen haben, ich denke an die Wunden, die all den Familien zugefügt wurden, an die Entbehrungen im Alltag, die uns der Feind mit seinen menschen­verachtenden Angriffen zugefügt hat. Ja, die Ukraine ist heute ein verwundetes, geschundenes Land, aber sie ist ein stolzes, geeintes Land, in dem wir jetzt unsere Zukunft gestalten.

(Wolodimir, hier vielleicht eine Schweigeminute.)

Um es gleich klarzustellen: Wir haben mit diesem Kriegs­verbrecher aus Moskau nicht direkt verhandelt, und auch wenn es jetzt einen Waffen­stillstand und eine internationale Vereinbarung über Grenzen gibt, werden wir nicht darauf verzichten, nie darauf verzichten, ihn für seine Untaten zur Rechenschaft zu ziehen. Er ist und bleibt international geächtet, vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt, ein Paria, der nicht mehr in weite Teile der Welt reisen kann, weil er sonst verhaftet wird.

Liebe Landsleute, lasst mich klar sagen, was unbestreitbar und für uns höchst befriedigend ist: Russland hat eine demütigende Niederlage erlitten. Der Aggressor, der unsere ukrainische Existenz vernichten und sich unseren Grund und Boden einverleiben wollte, hat keines seiner Ziele erreicht. Wir haben ihn aus weiten Teilen des Donbass vertrieben, unser Kernkraftwerk Saporischschja zurückerobert, besetzte Städte am Asowschen Meer befreit.

Und was die Krim betrifft: An dem Status der Halbinsel hat sich nichts verändert, sie ist völkerrechtlich Territorium der Ukraine. Und auch wenn sie vorübergehend unter russischer Besetzung bleibt und wir auf eine militärische Eroberung verzichtet haben – wir sind sehr zuversichtlich, dass sich die Bevölkerung in den nächsten Jahren gegen die Gewalt­herrscher auflehnen und sich die Krim von innen heraus befreien wird.

(Die Krim-Frage sollten wir nur kurz streifen und herunter­spielen, das ist ein Schwachpunkt. Du hattest ja mehrfach gesagt, solange dort Russen das Sagen haben, gibt es keine Verhandlungen.)

Alle imperialen Pläne Moskaus sind gescheitert: Die Ukraine ist heute stärker denn je. Der Mann im Kreml, der vor 22 Monaten geglaubt hat, im Handstreich und sozusagen über Nacht Kiew erobern zu können, muss nun jeden Tag, jede Nacht fürchten, selbst diesem von ihm geschaffenen Chaos zum Opfer zu fallen. Und er wird noch erleben, dass sich nicht nur Milizen­führer, sondern auch die anständige Mehrheit der Bevölkerung gegen ihn erheben wird.

Unsere Zukunft dagegen sieht trotz aller Zerstörungen, trotz allen erlittenen Leids positiv aus: Wir haben zwar formal noch keine Voll­mitgliedschaft in der Nato erreicht, aber de facto sind wir bereits ein Nato-Mitglied. Ich darf sagen, dass die Allianz ganz wesentlich durch uns wieder zusammen­gewachsen, zu einer Einheit geworden ist, gestärkt auch durch die neuen Mitglieder Finnland und Schweden – nachdem wichtige Führer der westlichen Welt zuvor an ihr gezweifelt, sie «obsolet» oder gar «hirntot» genannt hatten.

Die USA garantieren unsere Verteidigung im Falle eines neuerlichen russischen Angriffs, wir werden weiter im grossen Stil mit modernen Waffen versorgt, ganz so wie Israel, dieses andere Amerika so besonders verbundene Land. Weitere wichtige Mitglieds­staaten der G-7 wie Deutschland, Frankreich und Gross­britannien haben in bilateralen Abkommen mit uns ebenfalls wichtige Sicherheits­abkommen abgeschlossen.

Moskau wird niemals mehr ein so fatales Abenteuer wagen. Und die gesamte Völker­gemeinde wacht mit: Internationale Uno-Truppen patrouillieren an den neuen Grenz­linien. Die Europäische Union hat uns ein Schnell­verfahren zur Aufnahme zugesichert, wir werden in wenigen Monaten zu diesem exklusiven Club der freien Nationen gehören. Einer Gemeinschaft, deren ideelle Zugehörigkeit wir uns durch unseren Unabhängigkeits­kampf und unsere gestärkten demokratischen Institutionen, durch unser rigoroses Vorgehen gegen jede Form von Korruption schon heute erworben haben.

Meine lieben Landsleute, ihr könnt sicher sein: Die ganze Welt schaut heute auf die Ukraine, und sie schaut voller Respekt und Bewunderung. Für viele sind wir ein Vorbild, denn wir haben ein Beispiel dafür gesetzt, dass man auch gegen einen anscheinend übermächtigen Gegner bestehen kann, wenn man das Recht und die Freiheit auf seiner Seite weiss und zu grossen Opfern bereit ist. Wenn man Freunde besitzt. Und die besitzen wir, und zwar nicht nur im Westen. Die überwältigende Mehrheit der Staaten hat den russischen Angriffs­krieg verurteilt, 141 von 193 Stimmen waren es bei der Abstimmung in der Voll­versammlung der Vereinten Nationen, rund drei Viertel der Welt. Der gescheiterte Überfall Moskaus auf unser Territorium wird für immer eine Warnung an alle allzu selbst­bewussten autoritären Staaten mit Expansions­drang sein.

Unsere Partner in der EU und in den USA haben für den Wieder­aufbau unseres geschundenen, überfluteten Landes und der verwüsteten, verbrannten Städte 600 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt (wir nennen hier eine Fantasie­summe, aber nach dieser Rede wird es schwer sein für unsere Partner, darunter­zubleiben). Wir werden unseren geliebten Staat wieder aufbauen und herrichten, schöner und erfolgreicher denn je, mit fort­schrittlichen grünen Technologien, mit Silicon Valleys von Odessa bis Lwiw, von Dnipro bis Melitopol, mit einer hyper­modernen ökologischen Landwirtschaft.

Packen wir es an! Wir haben so viel geschafft, liebe Landsleute, wir schaffen auch das, nicht nur für uns, sondern vor allem für unsere Kinder und Enkel. Und noch einmal: Ich bin stolz auf euch – und ich werde, versprochen, gemeinsam mit euch an der Erfüllung dieser Träume arbeiten!

Moskau

Notiz an Wladimir Wladimirowitsch: Bitte ein imperiales Ambiente im Prunk­saal des Kreml, ein Anzug in hellen, optimistischen Farben, Ansteck­nadel mit russischer Fahne am Revers.

Liebe Landsleute,

ich darf Ihnen heute Grosses, ja Historisches für unser glorreiches Russland verkünden: Die Waffen ruhen, unsere spezielle Militär­operation in der Ukraine ist erfolgreich beendet. Wir haben alle unsere wesentlichen Ziele erreicht, wir haben gesiegt. Einmal mehr haben wir der Welt gezeigt, dass diese grosse Nation auf dem Schlacht­feld nicht zu bezwingen ist, auch wenn der Westen seine modernsten Waffen in grössten Mengen gegen uns einsetzt: Die Weltmacht Russland widersteht jedem Feind, sie ist und bleibt – um nur ein Beispiel zu nennen – das Land der Erde mit den meisten Atom­sprengköpfen und damit dem grössten Zerstörungs­potenzial.

Sie alle wissen: Wir haben diesen Konflikt nicht gesucht, er wurde uns aufgezwungen. Die Nazi-Politiker in Kiew haben permanent unsere russischen Mitbürger im Donbass drangsaliert, schikaniert, gequält, bis die es nicht mehr aushalten konnten und uns zu Hilfe riefen. Und das rechts­radikale Regime hat immer wieder der Krim die Trinkwasser­zufuhr gesperrt und somit deren Lebens­ader abgeschnitten, Kiew hat sogar gedroht, die Krim mit Unterstützung von Nato-Kräften militärisch anzugreifen – das Ziel der Nato war ja schon immer die Schwächung und dann die Zerstückelung Russlands. Dem mussten wir zuvor­kommen und sie in ihre Schranken weisen.

(Hätte der Verräter Prigoschin unsere Legende zur Angriffs­begründung nicht so offen als Lüge deklariert, würden das noch mehr unserer Landsleute glauben, als sie es hoffentlich immer noch tun. Im Übrigen müssen wir das Krim-Szenario rhetorisch ausbauen, das ist derzeit so ziemlich unser einziger Pluspunkt.)

Wir haben nach verlustreichen und auch für mich schmerzlichen Kämpfen nun einem Waffen­stillstand und einer Neuregelung der Grenzen zugestimmt. Im Donbass kontrollieren wir weiterhin wichtige Städte. Chinesische, indische und brasilianische Uno-Blauhelme werden in einer demilitarisierten Zone patrouillieren und sicher­stellen, dass es zu keinen neuen militärischen Provokationen des Westens kommen kann.

Und das Beste: Die Krim bleibt in unserem Besitz, unsere heilige Halbinsel, unser Augapfel im Süden mit den Städten Simferopol und Jalta. Und natürlich unsere wunderbare Militär­basis in der Heldenstadt Sewastopol, die schon einmal, im Zweiten Weltkrieg, den Ansturm von Nazis mit grossen Opfern, aber letztlich erfolgreich abgewehrt hat.

Im Westen wird jetzt immer wieder behauptet, Russland sei mit seiner Militär­operation isoliert, vom Rest der Welt geächtet gewesen. Das Gegenteil ist richtig. Zwar haben die USA und die EU eine Stimmen­mehrheit bei der Uno-Voll­versammlung für ihr Anliegen zusammengebracht, dazu mussten sie sich auf Zwergstaaten stützen, auf Andorra und San Marino, auf Samoa und São Tomé. Die beiden volkreichsten Länder der Welt, China und Indien, dachten aber im Traum nicht daran, uns zu verurteilen, ebenso wenig wie die riesigen Staaten Algerien und Pakistan, Iran und Bangladesh. Diejenigen, die uns unterstützen, und alle jene, die neutral blieben, sind mit ihrem Votum doch um ein Vielfaches entscheidender als die Zwerge: Sie bilden die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten.

Wir können von einer historischen Wende sprechen: Durch unser Vorgehen in der Ukraine ist eine neue Welt­ordnung entstanden. Eine Welt­ordnung, in der sich die Staaten des Südens nicht mehr alles von den Amerikanern und Europäern diktieren lassen. Eine multipolare Welt, in der unsere Freunde in der Brics-Gemeinschaft – China, Indien, Brasilien und Südafrika – immer mehr das Sagen haben.

Bleiben die Sanktionen, die der Westen gegen uns verhängt hat. Waren es neunzehn Runden von Straf­massnahmen oder schon neunund­neunzig? Ich habe, wie wahrscheinlich auch Sie, längst aufgehört zu zählen. Aber ich kann Ihnen das Ergebnis dieser Sanktions­exzesse mitteilen: Der IWF, der unabhängige Internationale Währungs­fonds, hat geschätzt, dass Russland im Jahr 2023 ein Wirtschafts­wachstum von 1,5 Prozent erreichen wird – während die Wirtschaft Gross­britanniens gerade einmal um 0,4 Prozent wachsen wird und in Deutschland gar ein Minus von 0,3 Prozent erwartet wird.

Und noch ein Wort zu den ach so moralisch hochstehenden Vereinigten Staaten, die uns abstrafen und finanziell austrocknen wollen: Sie haben im vergangenen Jahr von Russland für eine Milliarde Dollar angereichertes Uran gekauft, ganz offensichtlich, weil sie ohne diesen Stoff für ihre Atom­kraftwerke nicht auskamen. (Keine Fake News, hat sogar die «New York Times» berichtet. Den dramatischen Verfall des Rubels erwähnen wir in diesem Zusammen­hang besser nicht.)

Soll ich die amerikanische Verlogenheit anprangern, soll ich die ökonomische Rest­vernunft in Washington anpreisen?

Was die Politiker im Westen im Übrigen nicht begriffen haben, vielleicht nie begreifen werden: Die Russen sind nicht so konsum­orientiert, so markenprodukt­gierig wie die Amerikaner und Europäer. Sie sind nicht zufrieden damit, Geld auf die hohe Kante zu legen, um sich ein neues iPhone oder einen neuen Tesla zu kaufen. Sie wollen soziale Ordnung sehen, Gemeinschafts­gefühl empfinden, nationalen Stolz und Würde erleben. Sie streben danach, Teil von etwas Einzig­artigem zu sein, dafür sind sie bereit, Entbehrungen hinzunehmen, ja sogar ihr Leben zu opfern. (Bei diesem Ausflug in unsere so einmalige russische Seele mache ich eine kleine Anleihe bei dem Autor Giuliano da Empoli.)

Wir im Kreml geben ihnen diese Perspektive, und niemand wird dieses ganz Besondere, Einmalige, die grosse russische Nation Ausmachende jemals zerstören können. Ihr glorreiches Fort­bestehen und weiteres Erblühen kann auch nicht an einer einzelnen Person hängen. Ich habe mich entschlossen, bei den Wahlen im nächsten Jahr nicht mehr anzutreten und mich ab sofort aus der grossen Politik zurück­zuziehen. Ich bin stolz darauf: Meine Mission ist erfüllt.

(Lieber Wladimir, ich ahne, dass dir diese Schlussworte nicht gefallen werden. Aber ich habe sie auf ausdrücklichen Wunsch des Minister­präsidenten Michail Mischustin, mehrerer hochrangiger Militärs und Milizen­führer – du ahnst ihre Namen – so formuliert. Du kannst diesen Absatz aus deiner Rede streichen und dann nach bewährtem Muster Verkehrs­unfälle oder Vergiftungen arrangieren, gegebenenfalls auch Schau­prozesse mit langjährigen Haftstrafen. Dazu brauchst du keinen Rat von deinem alten Freund und Reden­schreiber, der nach dem Diktat dieser Rede mit unbekanntem Ziel verreist ist.)

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