Nichts passiert

Zwei Frauen gebären. Bald darauf stellen sie sich vor, das Neugeborene zu töten. Und dann immer wieder. Wie sie es schafften, ihre Zwangs­gedanken zu überwinden.

Von Pascal Amri (Text) und Julia Spiers (Illustration), 29.07.2023

Vorgelesen von Patrick Venetz
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Das Kind ist wenige Sekunden alt, seine Haut wie von weissem Wachs überzogen. Es hat blutrote Spritzer auf der Brust, am Bein. Es liegt in zwei grossen Händen, darunter sieht man den offenen Bauch seiner Mutter. Das Foto hat die Hebamme gemacht, es ist der 10. August 2021, 18.18 Uhr.

Die ganze Nacht liegt das Kind bei seiner Mutter. Pflegerinnen kommen ins Zimmer, drücken in ihren Bauch, tasten nach der Gebär­mutter. Das Fentanyl, ein starkes Schmerz­mittel, lässt nach, alles schmerzt, im Zimmer ist es heiss. Am Morgen fragt Maria, die eigentlich anders heisst, ob man ihr das Kind abnehmen könne.

«Ich verspürte nur eines», sagt Maria heute und zögert.

Sekunden verstreichen, es ist still. Sie holt Luft.

«Ekel.»

Kurz schlingert ihre Stimme. «Ich dachte: Nein, das ist nicht meins.» Das Haar des Kindes ist blond, das der Mutter braun. Die Augen sind blau, Marias Augen dunkel.

82’730 Kinder kamen 2022 in der Schweiz zur Welt. Die Frauen, die sie gebaren, hatten Bilder im Kopf gehabt davon, wie sie das Kind in den Arm nehmen. Sie hatten sich ausgemalt, wie sich der Vater um das Neugeborene kümmern würde; sie hatten darüber gesprochen, wie ihr Kind werden könnte, störrisch oder sanftmütig. Und mit der Geburt trafen die Bilder aus dem Kopf auf die Realität.

Die Zeitspanne rund um die Entbindung gilt als Risiko­phase für die Psyche einer Frau.

10 bis 15 Prozent der Frauen erleben nach der Geburt eine postpartale Depression (auch bekannt als postnatale Depression oder Wochenbett­depression). Bei vermutlich ebenfalls rund 15 Prozent brach eine Zwangs­störung aus.

Bei dem Begriff denken viele zuerst an Menschen, die sich ständig die Hände waschen. Die zigmal kontrollieren, ob sie das Auto abgeschlossen haben. Aggressive Zwangs­gedanken, die Teil einer Zwangs­störung sind und sich gegen Menschen aus dem engsten Umfeld richten können, sind weniger bekannt. Rund um die Geburt kreisen sie oft darum, dass dem Kind etwas zustossen könnte. Oder, für die Betroffenen noch schlimmer, dass sie selbst ihrem Kind etwas antun könnten.

Bei Maria dauerte es ungefähr zwei Monate, bis sie zum ersten Mal daran dachte, dem Kinderwagen einen Schubs zu geben, wenn der Bus einfuhr. Bei Salome verging ein halbes Jahr, bis sie sich zum ersten Mal vorstellte, wie sie ihren Sohn ersticht.

Maria

Wie Maria heute erzählt, konnte sie damals im Spital ihre Tochter kaum in den Arm nehmen, so sehr ekelte sie sich. Ihr Mann sass neben dem Bett, das Kind schlief an seiner Brust. Maria hatte noch immer Schmerzen, die Frauen­ärztin sagte, sie solle nicht so ein Theater machen. Sie wollte stillen, aber ihre Brust­warzen waren wund.

Am dritten Tag lag Maria im Bett, die Augen verquollen, neben ihr im Zimmer eine Frau, die ihr viertes Kind zur Welt gebracht hatte. Sie schaute Maria an: Du musst dich nicht schämen, wenn die Tränen kommen.

«Man glaubt, mit der Geburt ist es geschafft», sagt Maria. «Aber mit der Geburt fängt alles erst an.»

Fünf Tage blieb sie im Spital und gab ihrem Kind die Flasche, sie hielt sich strikt an die Tabelle: 30 bis 50 Milliliter am vierten Tag, 40 bis 60 Milliliter am fünften Tag, alle drei bis vier Stunden. Aber Louisa hörte nicht auf zu schreien, wenn sie getrunken hatte. Hat sie Bauch­weh, hat sie Hunger? Zu viel? Zu wenig? Wahrscheinlich Bauchweh, sagte die Hebamme.

Zurück in der Wohnung, beruhigte sich Louisa oft erst in den Armen ihrer Mutter.

Ist das jetzt mein Alltag, dass ich hier sitze und sie halte?

Die meiste Zeit schlief das Kind, Maria wagte kaum, eine Pfanne hervor­zuholen. Wenn es wach war, schrie es, immer war irgendwas. Marias beste Freundin brachte Wasser­melonen­salat mit Mozzarella, Rohschinken und Basilikum, sie brachte Risotto mit Rotkraut und Gorgonzola, am 18. August fotografierte Maria den Melonen­salat auf dem Tisch, daneben die Bedienungs­anleitung für die Milchpumpe.

Mache ich das jetzt richtig?

Maria filmte mit dem Smart­phone, wie Louisa sich bewegte, wie sie atmete, zeigte die Videos später der Hebamme.

Ihr Mann war zu Hause, hatte zwei Wochen Ferien genommen, nie war Maria mit ihrem Kind allein. Als er einmal wegmusste, kam eine Freundin und richtete im Wohn­zimmer ihr Homeoffice ein. Mittags sassen sie zu dritt am Tisch, Louisa weinte und die Freundin sagte: Gib sie mir mal, und Maria weinte auch und sagte: Nein! Ich gebe sie dir nicht!

«Gleichzeitig hätte ich sie in die Ecke werfen können.»

An einem Mittwoch Anfang September hörte Louisa nicht auf zu schreien. Maria, die seit Tagen nicht geschlafen hatte, nahm sie auf, legte sie hin, nichts half. Ihr Mann nahm Louisa und lief Kreise in der Wohnung.

Mach, dass dieser Balg aufhört. Mach, dass dieser Balg aufhört!

Als ihr Mann zu weinen begann, rief Maria ihre Mutter an, nachts um halb zwölf, sagte, es geht nicht mehr, jetzt weint sogar der Julien.

Ich treffe Maria an einem warmen Tag Ende Mai. Sie sind inzwischen umgezogen, Maria, Julien und Louisa. Ein bisschen mehr Platz, nicht weit von der alten Wohnung weg. Ein rotes Trottinett steht im Wohn­zimmer, eine Spielküche aus Holz, im Regal Plüsch­tiere, ein Foto von Maria und Julien, sie mit weissem Schleier, er in Schwarz, vor ihnen der Thunersee.

Wenn Sie damals allein hätten entscheiden können, was hätten Sie gewollt?

«Das Kind weggeben.»

Damals, Anfang September 2021, machte Maria ein letztes Foto von Louisa daheim, dann packte sie sie ins Auto und fuhr mit ihrem Mann zur psychiatrischen Klinik. Ein dreistöckiges Gebäude, die Räume hell, Parkett­boden, manche Wände gelb, manche grün. Diagnose: Depression.

In der ersten Nacht schlief ihr Mann neben ihr im gleichen Zimmer. Am zweiten Abend rief Maria ihre Mutter an, sagte, ihr müsst Louisa holen kommen, ihr habt schon vier Kinder grossgezogen, ihr schafft das schon. Jeden Abend fuhr ihr Mann nach der Arbeit in die Klinik. Er gab Louisa die Flasche, stundenlang sass er auf dem Stuhl neben dem Bettchen und legte seine Hand auf Louisas Bauch. Erst abends um zehn, wenn die Nacht­wache kam und Louisa ins Bett im Pikett­zimmer brachte, fuhr er nach Hause, und Maria schluckte ein Zyprexa und schlief trotzdem schlecht.

«Ich war der Meinung, alle sind ohne mich besser dran. Mein Mann, mein Kind, alle.»

In der Mal­therapie zeichnete Maria zwei geschwungene Bögen, die vielleicht ein Herz sind, vielleicht ein Bauch, ein Bogen ist pink, einer orange, dazwischen liegt ein kleines Kind.

Einen Monat lang blieb Maria in der Klinik. Dann kehrte sie heim.

Die ersten Wochen zu Hause gingen gut, morgens standen Maria und ihr Mann gemeinsam auf, er ging zur Arbeit, Maria gab Louisa die Flasche. Danach zog sie sie an und legte sie auf den Spiel­teppich.

Was mache ich jetzt den ganzen Tag?

Wenn Maria mit dem Kind im Arm vom dritten Stock ins Erdgeschoss lief, hatte sie Angst, sie könnte Louisa fallen lassen. Oder stolpern. Manchmal, wenn der Bus einfuhr, dachte sie darüber nach, dem Kinder­wagen einen Schubs zu geben. Dann umklammerte sie den Griff, hielt ihn noch stärker.

Dass sie unter einer Zwangs­störung litt, wusste Maria damals nicht. Ihre Gedanken konnte sie nicht einordnen. «Zwangs­gedanken rütteln enorm am Bild der fürsorglichen Mutter und ihrer bedingungslosen Liebe», sagt die Psycho­therapeutin Angela Häne, deren Behandlungs­schwerpunkt auf Zwangs­störungen im Kontext der Mutter­schaft liegt. «Auch bei den Betroffenen selbst. Das bringt sie in einen gewaltigen Konflikt.»

Wenn Maria fürchtete, die Treppe hinunter­zufallen mit Louisa auf dem Arm, blieb sie in der Wohnung. Setzte sich an den Tisch und lackierte sich die Nägel. Blutrot. Hellrosa mit Glitzer. Altrosa.

Ich könnte Lou mit dem Kissen ersticken, es wäre so einfach.

Ein Tag im Dezember 2021, grau und neblig, Maria war seit zwei Monaten zurück aus der Klinik. Louisa lag auf der Spiel­decke. Feine blonde Haare, Babyspeck.

Ich werfe sie aus dem Fenster, ich werfe mich aus dem Fenster, ich werfe uns aus dem Fenster. Wenn ich jetzt nicht irgendetwas mache, drehe ich durch.

Maria zog Louisa eine Mütze an, Schal, Jacke, schleppte sie vom dritten Stock nach unten, lief ins Dorf, ging in den Park. Kein Mensch unterwegs.

Ich werfe sie vor den Bus. Ich werfe mich vor den Bus.

Ein paar Tage später hatte Maria einen Termin bei ihrer Psychiaterin, sie weinte und die Psychiaterin sagte: Ich weise Sie wieder ein.

Kurz nach Weihnachten: ein dreistöckiges Gebäude, die Räume hell, Parkett­boden, grüne Sofakissen. Beim Eintritts­gespräch erzählte Maria von sich, von ihrem Kind, vom Alltag und von den Gedanken. Die Ärztin sagte: Sie haben eine schwere Depression. Eine sehr schwere.

«Die Depression stand bei mir im Vorder­grund», sagt Maria. «Die Zwangs­gedanken waren ein Symptom von vielen.»

Am Anfang erlaubte die Ärztin keinen Ausgang. Später durfte Maria alleine spazieren gehen. Dann durfte Maria mit Louisa zusammen raus, aber nur in den Hof, wo die Pfleger sie sahen. Und irgendwann durfte sie mit Louisa das Klinik­gelände verlassen. Es lag an einer Haupt­strasse, Maria steuerte den Kinder­wagen auf dem Trottoir, ein Auto kam ihr entgegen. Was, wenn ich jetzt den Kinderwagen auf die Strasse lenke? Maria kehrte um und klammerte sich an den Griff.

Ich kann nicht die Mutter sein, die das Kind braucht. Das muss doch auffallen.

Einmal fragte sie die Sozial­arbeiterin, die für sie zuständig war: Was muss ich tun, damit die Kesb eingeschaltet wird und mir mein Kind wegnimmt?

Anfang März 2022 war sie zum letzten Mal im Wochenend­urlaub zu Hause. Ihr Mann machte ein Foto: Maria, angestrengtes Lächeln, steht oben an der Treppe im dritten Stock mit Louisa im Arm. Louisa im roten Strampel­anzug, Maria mit der Sonnen­brille im Haar und leuchtend hellen Turnschuhen. Mit Louisa im Arm stieg Maria die Treppe runter und wieder hoch.

Salome

«Ich stelle mir vor, wie ich in der Küche meiner Wohnung stehe. Es ist kurz vor Mittag, die Küche ist hell, graue Fliesen am Boden. Ich schneide Gemüse, mein Sohn, sieben Monate alt, liegt in seinem Schalensitz. Ich nehme das Messer, beginne auf ihn einzustechen. Dort, wo ich zusteche, am Bauch und am Hals, fliesst Blut.»

Stille. Draussen ruft ein Uhu. Es ist Juni 2023, eine Frau sitzt auf einem grau melierten Sofa. Sie erzählt von den schlimmsten Stunden und Tagen ihres Lebens.

Einmal pro Woche sitzt sie auf diesem Sofa in der Praxis für Psychotherapie im Zürcher Seefeld. Vis-à-vis von ihr die Psycho­therapeutin Angela Häne. Auf der Fensterbank stehen Blumen, auf dem Salontisch eine Schachtel Taschen­tücher. Im Warte­bereich steht ein Schaukelpferd.

Angela Hänes Patientinnen sind überwiegend Frauen. Sie haben ein Kind verloren, ringen mit postpartalen Depressionen oder Zwangs­störungen. Eine postpartale Depression, sagt Häne, sei bis heute scham­behaftet. In der Gesellschaft beobachtet Häne aber auch zunehmendes Verständnis. Nicht so bei Zwangs­störungen. Häne stellt einen Krug Wasser auf den Salontisch, füllt drei Gläser. «Manche meiner Patientinnen sagen: Ich hätte lieber eine postpartale Depression als eine Zwangs­störung.»

Wie gross die Scham ist, als Mutter über aggressive Zwangs­gedanken zu sprechen, zeigt die Begegnung mit Angela Hänes Patientin. Sie hat zwar zugesagt, in Begleitung von Häne aus ihrem Leben als Mutter mit Zwangs­störung zu berichten. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sie komplett anonym bleibt. Auch die Republik kennt ihren richtigen Namen nicht.

In diesem Beitrag heisst die Frau Salome. Sie ist 37 Jahre alt, hat rötliches Haar und trägt Sandalen mit goldenen Riemen. Bis zur Geburt ihres Sohnes arbeitete sie als Pflege­fachfrau in einem Spital.

Dass Salome und Maria beide als Pflegefach­frauen tätig waren, ist nicht untypisch. Manche Menschen, Männer wie Frauen, bringen sogenannte Vulnerabilitäts­faktoren mit: Eigenschaften, die zu einem erhöhten Risiko führen, eine Zwangs­störung zu entwickeln.

Zu diesen Faktoren gehören unter anderem Aspekte der Persönlichkeit. Ein starkes Kontroll­bedürfnis kann die Entwicklung einer Zwangs­störung begünstigen, ebenso ein Hang zum Perfektionismus und hohe Gewissenhaftigkeit. Eigenschaften, wie sie in gewissen Berufen unabdingbar sind. Die Pflege­fachfrau, die ihrem Patienten das Medikament in der richtigen Dosis geben muss. Der Anwalt, der genau überlegen muss, welchen Wortlaut er wählt. Menschen, deren Beruf ein hohes Verantwortungs­bewusstsein erfordert, seien überdurchschnittlich oft mit einer Zwangs­störung konfrontiert, sagt Angela Häne.

Damit die Störung schliesslich eintritt, braucht es einen akuten Auslöser. Schlafmangel, Stress, ein einschneidendes persönliches Erlebnis. Bringt eine Frau ein Kind zur Welt, können all diese Faktoren irgendwann aufeinander­prallen.

Salomes Geschichte beginnt im Sommer 2021. Sie ist zu Hause, ein Neubau irgendwo in der Schweiz. Ein gutes halbes Jahr ist es her, dass ihr Sohn auf die Welt kam. Sie scrollt auf ihrem Handy und stösst auf einen Artikel, der schildert, wie eine Mutter mit einem Messer auf ihr Neugeborenes einstach. Das Kind starb.

«Warum bringt eine Mutter ihr Kind um?», fragt sich Salome. «Das kann doch nicht wahr sein.»

Ein paar Sekunden später: Was, wenn ich plötzlich mein Kind ersteche?

Angela Häne reicht ein Taschentuch. Der Gedanke, sagt Salome, sei in ihrem Kopf eingeschlagen «wie ein Meteorit».

Sie versuchte, ihn zu verdrängen, zu vergessen. Sie begann zu zittern. Salome dachte: Jetzt passiert es gleich. Und der Gedanke blieb. «Wie wenn du ein Lied im Kopf hast, repeat, repeat, repeat. Was ist, wenn du dein Kind verletzen würdest?» Was ist, wenn …?

Sie sagte sich: «Du bist doch ein guter Mensch.»

Bin ich das? Was, wenn 35 Jahre lang ein schlechter Mensch in mir schlummerte? Wenn ich Gedanken habe, meinem Kind etwas anzutun – vielleicht will ich das ja insgeheim?

In Salomes Kopf schlüpften neue Gedanken. Sie handelten davon, die Kontrolle zu verlieren. Die Kontrolle über sich. Und ihre Handlungen.

In der Küche, sie schnitt eine Peperoni: Was ist, wenn dir das Messer ausrutscht? Im Supermarkt: Was ist, wenn du sämtliche Wein­flaschen aus dem Regal fegst? In ihren Gedanken klirrte Glas, Rotwein lief über den Boden, Salomes Herz hämmerte, sie kriegte kaum Luft, ihre Wangen wurden heiss. Wenn die Panik abflaute: ein neuer Gedanke.

Sie ging nicht mehr alleine einkaufen. Doch selbst wenn ihre Mutter dabei war: Was, wenn ich plötzlich jemanden beschimpfe? Was wird meine Mutter denken?

Salome fragte ihren Mann: Wirke ich aggressiv auf dich? Sie fragte ihre Mutter: Könnte ich jemandem wehtun? Sie lachten. Wenn sie ausser Haus musste, schminkte sich Salome, trug Parfüm, mimte die glückliche Mutter.

«Ich hätte mir so sehr gewünscht, mich einmal hinlegen zu können und einzuschlafen. Einmal ein Buch zu lesen», sagt Salome. Sie konnte nicht mehr fernsehen, Gewalt hier, Gewalt da, sie hörte draussen eine Polizei­sirene – was ist, wenn die mich einsperren? Mir mein Kind wegnehmen?

Im Spätsommer 2021 wendete sich Salome an ihre Frauen­ärztin. Sie sagte: Mit mir stimmt etwas nicht. Ich habe Angst vor meinen Gedanken, habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ich habe Panik­attacken. Die Frauenärztin sagte: Es ist normal, dass man mal Angst hat. Die Hormone, wissen Sie. Sie verschrieb Temesta, das beruhigt, und meldete Salome bei einer Psychologin an.

Jede sechste Mutter

Angela Häne, die Salome seit März 2022 behandelt, schult neben ihrer Tätigkeit als Psycho­therapeutin Fachpersonen des Gesundheits­wesens, andere Psycho­therapeuten sowie Hebammen zu Zwangs­störungen. Grundsätzlich sei das Störungs­bild bekannt, sagt sie. Der Transfer vom Lehrbuch in die Praxis gelinge aber nicht immer. «An den Weiter­bildungen frage ich die Fachpersonen jeweils: ‹Wie reagieren Sie, wenn Ihnen eine Frau solche Symptome schildert?›» Eine Antwort, die sie oft höre, sei: «Das ist normal.»

Das sei sicherlich gut gemeint, sagt Häne. «Tatsächlich ist es aber problematisch. Denn: Für die Patientin sind die Symptome alles andere als normal. Deshalb bringt diese Aussage für die Betroffenen keine Erleichterung.»

Kommt hinzu: Bis sich Betroffene professionelle Hilfe holen, dauert es oft lange. Sie trauen sich nur in Ausnahme­fällen, darüber zu sprechen. Nicht selten weiss niemand im Detail Bescheid, weder der Partner noch die beste Freundin. Zu gross ist die Angst, falsch verstanden zu werden. Was dazu beiträgt, dass das Wissen über den Umgang mit Zwangs­gedanken bei Betroffenen und Angehörigen gering ist. Und bleibt. Ein Teufelskreis.

«Zwangs­gedanken fristen ein Schatten­dasein», sagt Angela Häne. «In der Forschung, in der Ausbildung der Fach­personen und in der Öffentlichkeit.» Dementsprechend gibt es keine offiziellen Zahlen dazu, wie viele Menschen in der Schweiz davon betroffen sind. Eine kanadische Studie liefert Anhalts­punkte: Rund jede sechste Mutter (16,9 Prozent) berichtete in den 38 Wochen nach der Geburt von Symptomen, die auf eine Zwangs­störung hinweisen.

«Wie viele andere Beschwerden rund ums Wochen­bett kann auch eine Zwangs­symptomatik von sich aus wieder abklingen», sagt Angela Häne. Der Anteil jener Frauen, die psychologische Unter­stützung in Anspruch nehmen, liege eher im einstelligen Prozent­bereich, vermutet sie.

Jeden Morgen nun schluckte Salome ein Temesta. Im Oktober 2021 ging sie zum ersten Mal zur Psychologin, zu der ihre Frauen­ärztin sie geschickt hatte.

Die Psychologin fragte: Was hilft Ihnen, um sich zu beruhigen? Salome sagte: Das Einzige, was ein bisschen hilft, ist duschen. Wenn ich unter dem warmen Wasser stehe, beruhige ich mich. Die Psychologin sagte: Dann gehen Sie duschen!

Aber ich kann nicht den ganzen Tag unter der Dusche stehen?

Die Psychologin riet zur Ablenkung. Machen Sie Sudoku. Versuchen Sie Atem­therapie. «Ich befolgte alle Ratschläge», sagt Salome, «an jeden Strohhalm klammerte ich mich. Nahm Temesta, sah fern, ging duschen, lud mir eine App runter, tagelang stand ich vor dem Spiegel, sagte: Du bist ein guter Mensch! Du bist positiv! Du bist eine gute Mutter.»

Salome sagt, sie habe einfach nur gehofft, dass jemand sagt: Ja, wir kennen das. Aber das sagte niemand. Salome ging zur Psychologin, ihr Vater fuhr sie hin, die Stunde war um, sie fühlte sich elend wie zuvor, ihr Vater fuhr sie zurück. «Ich war der Überzeugung, dass ich die einzige Mutter auf dem Planeten bin, die solche Gedanken hat.»

Salome hatte Angst, dass sie ihren Mann erstechen könnte. Ihre Mutter, ihren Vater. Alle könnte sie verletzen, fürchtete sie.

Salome ist eine Frau, die, wenn eine Fliege am Fenster surrt, einen Becher nimmt und ein Blatt Papier, die Fliege einfängt und sie aus dem Fenster fliegen lässt. Als sie ihrem Mann erzählte, sie habe Angst, sie könnte ihn verletzen, wusste er nicht, was er sagen sollte.

«Alles, was ich wollte, war die Bestätigung: ‹Hey, mit dir ist alles okay.› Dann hatte ich Ruhe – für zehn Minuten vielleicht.»

Zu jener Zeit stand Salome am Morgen auf, das Temesta linderte ihre Angst für eine knappe Stunde, dann kam ihre Mutter, sie versorgten den Kleinen. Wenn nötig, gingen sie einkaufen – zu Fuss. Wenn sie das Mittag­essen kochte, zwang sie sich, das Messer in die Hand zu nehmen. «Ein kleiner Teil in mir erinnerte sich daran, dass ich mein Leben lang gekocht hatte», sagt Salome. «Ein winziger Funken Hoffnung.» Am Nach­mittag ging sie mit ihrer Mutter und ihrem Sohn spazieren, einmal pro Monat ging sie zur Psychologin. Sie war ständig müde, schlafen konnte sie nicht.

Im Januar 2022 fand Salome einen Psychiater, zu dem sie einmal wöchentlich gehen konnte. Wieder brachte ihr Vater sie hin. Der Psychiater wollte mit ihr über ihre Vergangenheit sprechen, war überzeugt, sie trage diese Angst in sich seit der Kindheit.

Hören Sie, ich habe einfach diese Gedanken, dass ich die Kontrolle verlieren könnte über mich.

Der Psychiater sagte: Ja, aber diese Gedanken kennen wir doch alle. Das sind Fantasien, über die Sie sich freuen können! Die nettesten Menschen haben solche Fantasien.

Der Fall von Salome sei in vielerlei Hinsicht typisch, sagt Angela Häne, die sie nun seit über einem Jahr behandelt. Zwangs­gedanken kreisten in der Regel um die Angst vor einem Kontroll­verlust. Und auch der Tod ist häufig Thema. «Klientinnen erzählen oft, dass sie der Gedanke plagt, ihr Kind aus dem Fenster zu werfen. Oder selbst zu springen.»

Das Perfide daran: Die Gedanken drücken das exakte Gegenteil dessen aus, was sich die Frau wünscht. Deshalb jagen ihr die Gedanken so starke Angst ein, und ihr Körper schaltet in den Überlebens­modus. Ein Körper im Panik­zustand wiederum geht mit einer veränderten Wahrnehmung einher, die Grenzen zwischen Denken und Handeln verwischen. Das Hirn kann nicht mehr unterscheiden, ob man nur daran denkt, sein Kind aus dem Fenster zu werfen, oder ob man im Begriff ist, es zu tun.

Treffen kann es grundsätzlich jede. Auch Menschen ohne psychische Vorerkrankungen. Für das Risiko, an einer Zwangs­störung zu erkranken, seien Vulnerabilitäts­faktoren wie die Ausprägung der Persönlichkeit entscheidender als die psychische Vorgeschichte, sagt Häne. «Gleichzeitig gilt: Jegliche Form von psychischen Erkrankungen im Verlauf des Lebens erhöht die Wahrscheinlichkeit, nach einer Entbindung psychisch zu erkranken, um ein Vielfaches.»

Salome beispielsweise hatte zuvor keinerlei psychische Beschwerden. Ihre Schwangerschaft beschreibt sie als traumhaft, die Geburt als schön.

Umso unvorbereiteter trafen sie die Zwangs­gedanken.

Der Psychiater, der mit Salome im Januar 2022 über ihre Kindheit sprechen wollte, half ihr nicht weiter. Salome begann zu googeln und stiess auf Bücher zum Thema Zwangs­gedanken. Über Instagram fand sie schliesslich eine Expertin, die sie an Angela Häne verwies. Ende März 2022 hatte sie ihren ersten Termin bei ihr.

«Sie müssen nicht so weiterleben» war der Satz, den Salome in der ersten Therapie­sitzung hörte. Sie erinnert sich bis heute daran. Nach dieser Sitzung fuhr sie nach Hause, legte sich ins Bett und schlief ein. Zum ersten Mal seit Monaten.

Eine der ersten Lektionen, die Salome lernte: Gedanken sind bloss Gedanken. Sie sagen nichts aus über die Persönlichkeit eines Menschen, sie verraten keine geheimen Wünsche des Unter­bewusstseins. Aufklärung sei ein wesentlicher erster Schritt in der Therapie, sagt Angela Häne. «Die halbe Miete.» Betroffene müssen die Mechanismen verstehen, die bei einer Zwangs­störung ablaufen. Ohne Verständnis dafür seien die nächsten Therapie­schritte schwierig.

Weil Betroffene den Zwangs­gedanken eine besondere Bedeutung zuschreiben, können sie sich nicht davon lösen. Sie lesen sie als Indiz, dass sie eine böse Mutter sind, ein schlechter Mensch. Dadurch, dass sich diese Bedeutung häufig nicht mit den eigenen Werten deckt, erleben sie die Zwangs­gedanken als umso quälender. Um den Teufels­kreis zu brechen, lernen Menschen mit einer Zwangs­störung, die Gedanken als Zwangs­gedanken zu erkennen und auszuhalten. Sie spüren die Panik, die aufsteigt im Körper, und merken: Es passiert nichts.

Es war ungefähr ein halbes Jahr nach Beginn der Therapie, als sich Salome im Rahmen einer Übung vorstellte, wie sie zu Hause in ihrer Wohnung steht, in der Küche mit den grauen Fliesen, kurz vor Mittag: sie mit dem Messer in der Hand, der Sohn im Schalen­sitz. Salome musste ihre Gedanken im Detail ausformulieren, Angela Häne nahm sie auf. Zu Hause hörte sich Salome die Aufnahme wieder und wieder an. Später reihte sie die Küchen­messer vor sich auf, der Sohn wieder neben ihr im Schalensitz. Sie merkte: Es passiert nichts.

Der Weg zurück

Im März 2022, nach zweieinhalb Monaten Klinik, war Maria wieder zu Hause. Am Morgen nach der ersten Nacht machte sie ein Selfie: Mutter, Vater, Tochter, weisse Vögel auf der Bettwäsche, Lächeln. Ab April ging Louisa in die Kita, im Mai fing Maria wieder an zu arbeiten.

Salome begann, das Temesta abzusetzen.

Den ganzen Sommer über war Maria nie allein mit Louisa. Oft begleitete ihre Mutter sie. Als diese erkrankte, merkte Maria: Ich schaffe es auch allein.

Salome begann, Zwangs­gedanken als Zwangs­gedanken zu erkennen. Sie kamen im Minutentakt: Zwangs­gedanke. Weitermachen. Wieder ein Zwangs­gedanke. Weiter. Normaler Gedanke, okay. Weitermachen.

Irgendwann hatte Louisa Durchfall. In der Kita spülten die Betreuerinnen sie ab, ohne zu merken, dass der Wärme­regler kaputt war. Das Wasser, plötzlich siedend heiss, verbrannte Louisa den Po und den Rücken, die Beine und die Füsse. Eine Woche lang blieb Louisa im Spital, zweimal, als die Ärztinnen ihre Wunden behandelten, erhielt sie eine Vollnarkose. Als Louisa wieder zu Hause war, musste Maria die Wunden ausspülen. Louisa schrie wie am Spiess.

«Ich fühlte mich, als würde ich das Kind foltern», sagt Maria. Sie erzählt, wie sie selbst zu weinen begann, weil sie es kaum aushielt, Louisa so leiden zu sehen. «Gleichzeitig spürte ich, wie sich die Beziehung zu meinem Kind verändert hatte», sagt Maria. «Wie die Bindung stärker geworden war.»

Salome ging Kaffee trinken mit einer Freundin. Eine Stunde ohne Zwangs­gedanken. Heute liest sie wieder Zeitung. Nachts schläft sie.

Worauf sind Sie stolz, Maria?

«Auf mich. Dass ich das alles geschafft habe.»

Was war der schönste Moment in Ihrem Leben?

«Als ich den positiven Schwangerschafts­test sah.» Sie hat ihn aufbewahrt und sie holt ihn hervor, zwei dicke Linien auf weissem Grund.

Zur Identität der Protagonistinnen

Um die Privatsphäre von Maria und Salome zu schützen, treten die beiden Frauen in diesem Beitrag unter einem Pseudonym auf. In Wirklichkeit heissen sie anders. Während Marias richtiger Name dem Autor bekannt ist, wünschte Salome, auch gegenüber dem Autor anonym zu bleiben. In der journalistischen Praxis ist dies eher ungewöhnlich. Da unser Autor Salome aber im Beisein der Psycho­therapeutin Angela Häne zum Gespräch traf, konnte er vor Ort ihre Glaub­würdigkeit einschätzen. Zudem bestätigte Angela Häne die Schilderungen ihrer Klientin.

Zu Anlaufstellen für Betroffene

Zwangsstörung: Wenn Ihnen die Symptome, die im Beitrag geschildert werden, bekannt vorkommen, können in einem ersten Schritt Selbsthilfe­bücher wirksam sein. Beispielsweise das Buch «Tyrannen in meinem Kopf. Zwangsgedanken überwinden». Wenn Sie glauben, dass Sie unter einer Zwangs­störung leiden, lohnt sich eine rasche Abklärung. Auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangs­störungen finden Sie Therapeuten, die Erfahrung haben in der Behandlung von Zwangsstörungen.

Postpartale Depression: Betroffene (auch Väter können an einer postpartalen Depression erkranken) und ihre Angehörigen finden Hilfe beim Verein Postpartale Depression Schweiz. Auf seiner Website gibt es auch einen Fragebogen zur Selbst­einschätzung.

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