Wählen? Nein, danke
Wer die Wahlen gewinnen will, muss in den Agglomerationen mobilisieren. Doch das ist eine Knacknuss. Ein Ortsbesuch.
Von Priscilla Imboden, 27.07.2023
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Gäbe es eine Partei, die die grösste Gruppe der Wahlberechtigten in der Schweiz vertreten würde: Es wäre die Partei der Abwesenden. Bereits jetzt lässt sich voraussagen, weil es seit Jahren so ist: Rund die Hälfte aller Wahlberechtigten in der Schweiz werden an den eidgenössischen Parlamentswahlen diesen Herbst nicht teilnehmen. Vor vier Jahren blieben 54,9 Prozent zu Hause – der dritthöchste Wert seit der Einführung des Proporzwahlrechts im Jahr 1919.
Eine dieser Bürgerinnen sitzt an einem sonnigen Julinachmittag in einem Parkcafé im zürcherischen Opfikon. «Ich habe mich vom Wählen distanziert», sagt die blonde Mittfünfzigerin. Sie ist von der Politik enttäuscht: «Die Mieten steigen, die Preise im Supermarkt auch, die Leute werden ärmer. Doch die Politiker sehen diese Probleme nicht.» Früher habe sie «mal ein bisschen SP, mal ein bisschen SVP» gewählt, denn: «Das Soziale ist mir wichtig. Und auch, dass die Wirtschaft läuft.»
Als Nichtwählerin ist sie in Opfikon in sehr guter Gesellschaft. Fast nirgendwo sonst in der Schweiz wohnen so viele Wahlmuffel wie hier: Nur knapp ein Viertel der wahlberechtigten Opfiker stimmte an den letzten eidgenössischen Wahlen ab.
Opfikon ist ein Ort des Transits. Menschen durchfahren die Gemeinde in S-Bahnen, die hier an zwei Bahnhöfen halten, oder in Autos auf den Strassen, die von Zürich zum Flughafen Kloten führen.
Kaum angekommen, sind die Leute wieder am Gehen.
Einer aber ist geblieben, wie schon seine Mutter und sein Grossvater. Er steht mit breitem Lächeln und Rossschwanz vor einer Verkehrskreuzung und sagt: «Willkommen in Glattbrugg!» Jörg Mäder, Umweltwissenschaftler, Mitglied der Stadtregierung, Nationalrat der Grünliberalen.
Drei Erklärungen für die Abstinenz
Die Gewerbezone ist ein Teil von Opfikon-Glattbrugg. Mäder schiebt sein Elektrovelo in Richtung Stadtzentrum. «Vor fünf Jahren wurde ich mit dem besten Resultat in den Stadtrat wiedergewählt: 1051 Stimmen», sagt er und lacht. «Es gibt kleine Dörfer, wo Leute mehr Stimmen erhalten als ich.»
Wie geht man damit um als Politiker? «In Opfikon lernt man das», sagt Mäder. Und schon sprudeln diverse Erklärungen aus ihm heraus, wieso die Wahlberechtigten in dieser Agglomerationsgemeinde so selten an die Urne gehen.
Erstens: «45 Prozent der Bevölkerung haben keinen Schweizer Pass.» Die zählen zwar nicht als Nichtwählende, weil sie gar nicht wahlberechtigt sind. Aber in Gemeinden mit hohem Ausländeranteil gehen auch jene, die könnten, seltener an die Urne, wie Umfragen zeigen. Unter anderem, weil dort auch mehr Eingebürgerte wohnen, und diese nehmen seltener an Wahlen teil als gebürtige Schweizerinnen.
Der zweite Grund für die hohe Wahlabstinenz laut Jörg Mäder: «Wir haben eine sehr junge Bevölkerung.» Junge gehen weniger oft wählen als ältere Leute. Opfikon ist verkehrstechnisch gut an die Stadt Zürich angeschlossen, und im Gegensatz zu Zürich findet man hier noch erschwingliche Wohnungen. Das mache Opfikon sehr attraktiv für Berufseinsteigerinnen, die in Zürich arbeiteten, sagt Mäder: «Sie ziehen zuerst hierher und schauen dann weiter. Die Politik interessiert sie in dieser Lebensphase nicht so stark.»
Und drittens: «Wir sind eine Büezergemeinde.» Es gebe in Opfikon sehr viele eher tief bezahlte Jobs: «Es ist der Gepäckpacker am Flughafen. Oder es sind Leute, die in Hotels arbeiten.» Weniger gut gebildete Menschen gehen weniger oft wählen als gut gebildete, wie auch die Analyse nach den letzten nationalen Wahlen gezeigt hat.
Die Opfiker Stadtverwaltung hat vieles versucht, um die Wahlbeteiligung zu steigern: Gipfeli an die Wählenden verteilen, Wettbewerbe an den Urnen veranstalten. «Das hat alles nichts genützt», sagt Mäder.
Würde es etwas nützen, wenn Menschen ohne Schweizer Pass in Opfikon wählen könnten, so wie es auf Gemeindeebene in Graubünden möglich ist und zusätzlich auch auf kantonaler Ebene in der Westschweiz?
Bei dieser Frage kommt der grünliberale Politiker ins Zaudern, auch wenn er sonst um keine Antwort verlegen ist. «Das ist schwierig zu sagen. Wenn sie wirklich alle konsequent abstimmen würden, könnten sie – es sind ja so viele – Opfikon politisch übernehmen», antwortet Mäder leicht schmunzelnd. Er wisse nicht, ob er für oder gegen das Ausländerstimmrecht wäre. Eines weiss der gebürtige Opfiker aber: «Bei uns würde das in der Schweizer Bevölkerung einiges an Abwehrreaktionen auslösen, wahrscheinlich stärker als an anderen Orten.»
Die Frage nach dem Ausländerstimmrecht dürfte in Opfikon wohl noch lange eine theoretische bleiben. Weil nur 55 Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt sind, bestimmen bei einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent nur rund 14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über die Geschicke der Gemeinde. Weitere 40 Prozent der Bevölkerung wären ebenfalls wahlberechtigt, bleiben aber zu Hause.
So wie zwei Schweizerinnen Mitte zwanzig, die vor dem Bahnhof Glattbrugg auf Englisch miteinander reden. Auf die Frage, ob sie wählen gingen, winken sie freundlich ab. Es interessiere sie nicht, sagt die eine, die aus Zentralamerika als Kind in die Schweiz eingewandert ist. Ihre Kollegin wurde in der Schweiz geboren und stammt aus einer türkischen Familie. Sie sagt: «Ich verfolge nicht die Schweizer Politik, sondern jene in der Türkei. Dort läuft viel mehr, hier ist eigentlich alles in Ordnung.»
Die beiden jungen Frauen gehören zu der grössten Gruppe jener, die nicht wählen gehen: den «zufrieden Desinteressierten». So sieht es jedenfalls Markus Freitag, Professor für Politologie an der Universität Bern. Er hat das weitverbreitete Phänomen der Wahlabstinenz untersucht. Und dabei sechs verschiedene Typen von Nichtwählenden definiert. Sie umfassen neben «zufrieden Desinteressierten», «politisch Verdrossenen», «politisch Inkompetenten» und «sozial Isolierten» auch Nichtwählende, die sich durchaus politisch beteiligen, dies aber lieber über Abstimmungen oder Demonstrationen und Petitionen tun. Er nennt sie die «abstimmenden Nichtwählenden» und die «unkonventionell Partizipierenden.»
Grundsätzlich gebe es drei Fragen, die bestimmten, ob jemand zur Wahl gehe oder nicht, erklärt Freitag im Gespräch in seinem Büro an der Universität Bern: «Kann man? Will man? Wird man gefragt?»
Ob jemand tatsächlich wähle, hänge vom Einkommen, vom Alter und von der Bildung ab: Je höher jeder dieser drei Faktoren ist, desto eher gehe jemand zur Wahl. Ob jemand wolle, hänge von der individuellen Motivation ab. Und ob jemand gefragt werde, habe mit der sozialen Umwelt und dem Zusammenhalt in einer Gemeinde zu tun, sagt Freitag: «Gibt es Netzwerke, die mich überzeugen, die mich informieren, die mich vielleicht auch sanktionieren, wenn ich nicht zur Wahl gehe?» An manchen kleineren Orten, wo die Distanz zwischen Wähler und Kandidatinnen kleiner sei, gebe es eine Kultur der Wahlbeteiligung, sagt Freitag. In Ergisch im Oberwallis liegt die Wahlbeteiligung beispielsweise regelmässig bei über 80 Prozent.
Die 10 Gemeinden mit der konstant höchsten Wahlbeteiligung
Durchschnitt der Nationalratswahlen 2003 bis 2019
Gemeinde | Durchschnitt | Stimmberechtigte | Kanton |
---|---|---|---|
Ergisch | 84 % | 157 | VS |
Gampel-Bratsch | 79 % | 1475 | VS |
Merishausen | 75 % | 564 | SH |
Rebévelier | 73 % | 35 | BE |
Lohn | 72 % | 540 | SH |
Kilchberg | 72 % | 117 | BL |
Dörflingen | 71 % | 679 | SH |
Isone | 71 % | 307 | TI |
Buchberg | 70 % | 667 | SH |
Stetten | 70 % | 884 | SH |
10 Gemeinden mit hoher durchschnittlicher Wahlbeteiligung. In der Auswertung sind nur Gemeinden, bei denen die tiefste und die höchste Wahlbeteiligung weniger als 10 Prozentpunkte voneinander abweichen. Quelle: BFS.
Die 10 Gemeinden mit der konstant tiefsten Wahlbeteiligung
Durchschnitt der Nationalratswahlen 2003 bis 2019
Gemeinde | Durchschnitt | Stimmberechtigte | Kanton |
---|---|---|---|
Cama | 26 % | 367 | GR |
Spreitenbach | 30 % | 4731 | AG |
Mumpf | 30 % | 874 | AG |
Sisseln | 32 % | 968 | AG |
La Ferrière | 32 % | 412 | BE |
Opfikon | 32 % | 9313 | ZH |
Oberglatt | 32 % | 3598 | ZH |
Henniez | 33 % | 208 | VD |
Mesocco | 33 % | 957 | GR |
Saint-Imier | 33 % | 3062 | BE |
10 Gemeinden mit tiefer durchschnittlicher Wahlbeteiligung. In der Auswertung sind nur Gemeinden, bei denen die tiefste und die höchste Wahlbeteiligung weniger als 10 Prozentpunkte voneinander abweichen. Quelle: BFS.
Die spezielle Ausprägung der Demokratie in der Schweiz bedeute zudem, dass sich hierzulande im internationalen Vergleich weniger Personen an Wahlen beteiligen. Ironischerweise führe die direkte Demokratie dazu, dass die Motivation, an Wahlen teilzunehmen, sinke, sagt Freitag. Weil die Bevölkerung übers Jahr hinweg mehrmals über Abstimmungen mitentscheiden könne, erschienen Wahlen als weniger wichtig als in Ländern, in denen die Bürger nur alle vier Jahre an Wahlen ihre Stimme abgeben können. Zudem mache die Konkordanzdemokratie das politische System in der Schweiz sehr stabil. Das wirke sich ebenfalls negativ auf die Beteiligung aus, so Freitag: «Das Wahlergebnis schlägt sich beinahe nie in der Regierungsbildung nieder. Dadurch entsteht der Eindruck, dass das Wählen wenig verändert.»
Früher ging die Bevölkerung häufiger an die Urne. In der Nachkriegszeit lag die Wahlbeteiligung bei um die 70 Prozent – erst nach Einführung des Frauenstimmrechts ist sie auf unter 50 Prozent gesunken.
Ein grundsätzliches Problem?
Was wäre, wenn sich dieser Trend fortsetzen würde? Man stelle sich vor: Es sind Wahlen und fast niemand geht hin. Das ist der Plot des Buches «Die Stadt der Sehenden» von José Saramago. In dieser Geschichte gehen die Leute zwar hin, die meisten legen aber leere Wahlzettel ein. Eine Wiederholung der Wahl ergibt das gleiche Resultat. Die Stadtverwaltung verhängt den Ausnahmezustand, die Demokratie wird abgeschafft.
Davon ist die Schweiz glücklicherweise weit entfernt. Ob eine tiefe Wahlbeteiligung überhaupt ein Problem sei, hänge davon ab, was der Grund dafür sei, sagt Markus Freitag. «Wenn sie Ausdruck einer Unzufriedenheit, eines Protests ist, dann wird das natürlich auf Dauer für das politische System schwierig, mit solchen Regierten umzugehen.» Seien die Wahlabstinenzlerinnen hingegen grösstenteils mit der Politik zufrieden und gingen deswegen nicht wählen, sei es kein Problem.
So ein Wahlabwesender könnte zum Beispiel ein Mann sein, der in Opfikon einen kleinen Kiosk führt. Vor zehn Jahren ist er aus Sri Lanka in die Schweiz eingewandert, inzwischen wurde er eingebürgert. Er verkauft Swisslose und Schleckstengel, aber keine Zeitungen. Auf die Frage, ob er wählen gehe, schüttelt er den Kopf, lächelt und sagt in gebrochenem Deutsch: «Nein, noch nie. Ich interessiere mich nicht für Politik.»
Die sinkende Wahlbeteiligung sei durchaus ein grundsätzliches Problem, findet hingegen Armin Schäfer, Professor für Politikwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Sie schade der Demokratie. Schäfer befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen der Nichtwählerschaft in Deutschland – in der Schweiz ist es nur spärlich untersucht worden. Er erklärt in einem ausführlichen Interview im Deutschlandfunk: Eine niedrige Beteiligung sei «in der Regel auch eine ungleiche Beteiligung». Nämlich: Gebildetere, wohlhabendere Bevölkerungsschichten gehen wählen, weniger gebildete, ärmere Schichten nicht. Diese ungleiche Wahlbeteiligung habe sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt, sagt Schäfer. Dies, weil der Einfluss von Kirche und Gewerkschaften geschwunden sei, die ärmere Bevölkerungsschichten zur Wahlteilnahme motiviert hätten.
Und wenn eine ganze Gesellschaftsschicht nicht oder weniger oft wählt, so fehlt ihre Stimme in der Politik. Gesetze orientierten sich deshalb heute stärker an den Interessen der Privilegierten, sagt Armin Schäfer im Deutschlandfunk: Mit seinem Team habe er herausgefunden, «dass die Entscheidungen, die der Bundestag zwischen 1980 und der Gegenwart getroffen hat, viel stärker mit den Präferenzen von Menschen übereinstimmen, denen es besser geht, als mit denen von Menschen, denen es schlechter geht».
Bedeutende Zwischenräume
Insofern gibt es ein gesellschaftliches Interesse, die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Bei der Frage nach den Rezepten macht sich aber unter Beobachterinnen eine gewisse Ratlosigkeit breit. Es komme wiederum darauf an, was die Gründe für das Nichtwählen seien, sagt Markus Freitag: «Wenn es fehlendes Pflichtgefühl ist, so kann man dem allenfalls mit politischer Bildung an den Schulen entgegenwirken. Oder dadurch, dass in der Familie darüber gesprochen wird, dass es wichtig ist, sich an der Demokratie zu beteiligen.»
Es gebe keine einfache Antwort auf die sinkende Wahlbeteiligung, sagt auch Armin Schäfer. Eine Wahlpflicht, wie es sie in Australien, Belgien, Luxemburg oder auch im Kanton Schaffhausen gibt, sei ein möglicher Ansatz. Wobei sie gerade im Kanton Schaffhausen zwar zu einer höheren Wahlbeteiligung führt, aber auch dazu, dass die Wahlberechtigten häufiger als in jedem anderen Kanton leer einlegen, um die 6 Franken Busse nicht bezahlen zu müssen. Ferner müsse ein Lernprozess innerhalb der politischen Parteien stattfinden, sagt Armin Schäfer: «Der hat zum Teil, glaube ich, schon begonnen, weil die Parteipolitiker merken, dass das Gefühl, sie seien für bestimmte Gruppen nicht mehr da, ihnen schadet.»
Das ist ein entscheidender Punkt. Es zeigt sich immer klarer, dass jene Parteien Wahlen gewinnen, denen es am besten gelingt, die eigene Wählerschaft an die Urne zu bringen. Darum geht es – mehr als darum, Andersdenkende zu überzeugen. So waren die Wahlverluste der SVP vor vier Jahren einer aussergewöhnlich tiefen Mobilisierung ihrer Wählerschaft geschuldet. Besonders entscheidend ist die Mobilisierungsfähigkeit in der Agglomeration. Denn: Immer häufiger werden Wahlen und Abstimmungen nicht in der Stadt entschieden, die verlässlich progressiv stimmt, oder auf dem Land, das verlässlich konservativ stimmt – sondern im Zwischenraum, in der Agglomeration.
An Orten wie in Opfikon.
«Hardcore-Agglo» nennt der grünliberale Politiker Jörg Mäder seine Gemeinde. Dass die Wahlbeteiligung hier ausschlaggebend sein könnte, findet er eine «interessante These». Er sagt: «Ich denke, die Agglomeration ist ein spannender dritter Pol, den wahrscheinlich viele noch nicht auf ihrem Radar haben.» Nicht einmal er, im grösseren Kontext.
Und manchmal findet sich dieser grössere Kontext im Kleinen. Am Beispiel eines Mannes, der an einem Julinachmittag an einem runden Tisch vor dem Avec-Laden des Bahnhofs Glattbrugg sitzt, vor ihm ein ausgefülltes Swisslos, daneben eine Dose Feldschlösschen-Bier. Er gehe wählen, sagt er, obwohl die Politiker viel versprechen und nichts halten würden und er das viele Geld, das in den Wahlkampf fliesse, grotesk finde.
Denn: «Wenn man nicht wählen geht, kann man nicht motzen.»