Frankreich kommt nicht weiter
Die Banlieue steht in Flammen. Was bedeutet die Gewalteruption für die französische Gesellschaft? Und für die politische Zukunft des Landes?
Von Daniel Binswanger, 01.07.2023
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Nachdem am Dienstagmorgen in Nanterre, einem Vorort von Paris, der 17-jährige Nahel M. bei einer Polizeikontrolle erschossen worden war, sind in Banlieue-Quartieren im ganzen Land schwerste Unruhen ausgebrochen. Nahel M. kam aus einer Familie mit algerischem Migrationshintergrund. Der Verdacht, dass der Todesschuss durch antiarabischen Rassismus motiviert war, hat das Pulverfass der französischen Vorstädte zur Explosion gebracht.
Autos werden abgefackelt, Polizeistationen und Rathäuser mit Brandsätzen angegriffen, der Tram- und Busbetrieb musste am Donnerstagabend in sämtlichen Pariser Aussenquartieren um 21 Uhr eingestellt werden, weil die Protestierenden auch öffentliche Verkehrsmittel attackierten. Die Behörden reagierten mit einem spektakulären Aufgebot von Sicherheitskräften, mobilisierten Spezialtruppen und 40’000 Bereitschaftspolizisten für die Nacht von Donnerstag auf Freitag.
Es kam zu 875 Verhaftungen, in einzelnen Gebieten wurden Ausgangssperren verhängt. Es herrscht ein Gefühl von Ausnahmezustand. Dabei handelt es sich bei dem Vorfall, der zum Auslöser wurde, eigentlich nur um die traurige Normalität.
Die Gewalteruption ist nicht die erste ihrer Art und es steht zu fürchten, dass sie nicht die letzte bleiben wird. Die Ghettoisierung der Vorstädte, der weiterhin virulente, sich im Zug von Marine Le Pens politischen Erfolgen tendenziell verstärkende Rassismus, die zwar abnehmende, aber noch immer sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit haben ungebrochenes Sprengpotenzial.
Im Wesentlichen stellen sich nun zwei Fragen: Was sagt es aus über die Entwicklung der französischen Gesellschaft, dass heute, achtzehn Jahre nach den verheerenden Banlieue-Unruhen von 2005, wieder derselbe Punkt erreicht zu sein scheint? Und welche politischen Folgen werden diese Spannungen haben?
Immer wieder werden junge Männer getötet, die versuchen, sich einer Polizeikontrolle zu entziehen (refus d’obtempérer). Seit Anfang des Jahres ist es in Frankreich der zweite Zwischenfall dieser Art. Im Jahr 2022 wurden 13 Verdächtige erschossen, die fliehen wollten. Ungewöhnlich an der Tötung von Nanterre ist hauptsächlich, dass eine Passantin die Szene, als ein Polizist die Waffe auf Nahel M. richtete und kurz darauf abdrückte, mit ihrem Handy gefilmt hat. Nur wenige Stunden später ging das Video viral. Und brachte die französische Regierung in bittere Erklärungsnot.
Auf der kurzen Filmsequenz sind zwei Polizisten an der Seite eines stillstehenden Wagens zu sehen, beide mit gezogener Waffe. Es ist zu hören, wie jemand brüllt: «Ich werde dir eine Kugel in den Kopf schiessen.» Daraufhin fährt der Wagen an, ein Polizist drückt ab. Zwanzig Meter weiter (das ist im Video nicht zu sehen) knallte das Auto in einen Pfosten. Nahel M., der aus nächster Nähe in den Thorax getroffen worden war, starb eine Stunde später. Die herbeigerufenen Sanitäter konnten nichts mehr tun für ihn.
Kurz nach dem Vorfall – und noch bevor das Video viral ging – liessen die Polizeibehörden verlauten, das Opfer sei mit dem Wagen auf die Ordnungshüter losgefahren. Dann wäre der Schuss potenziell – wenn die Polizisten selbst in akuter Gefahr gewesen wären – ein Fall von legitimer Notwehr gewesen. Auf dem Video ist allerdings unzweideutig festzustellen, dass keine unmittelbare Bedrohung vorlag. Die Polizisten standen neben, nicht vor dem Wagen, als Nahel M. aufs Gas ging, um zu fliehen. Er brachte weder sie noch Drittpersonen in Gefahr.
Damit scheint erwiesen, dass der Polizist seine Schusswaffe nicht hätte einsetzen dürfen. Im Jahr 2017 wurde mit dem sogenannten Gesetz zur inneren Sicherheit der heute hochumstrittene Paragraf 435-1 eingeführt, der den Schusswaffeneinsatz bei Fahrzeugkontrollen regelt. Nachdem ein Jahr zuvor vier Polizisten in ihren Fahrzeugen mit Molotowcocktails angegriffen und zwei davon sehr schwer verletzt worden waren, glaubte die damalige Regierung unter François Hollande, Handlungsbedarf zu erkennen.
Schüsse auf Fahrzeuge sollten künftig nicht mehr nur im Fall von Notwehr gemäss der bestehenden Definition zulässig sein, sondern bei «absoluter Notwendigkeit und auf strikt verhältnismässige Art» auch dann, wenn durch das Verhindern einer Flucht bevorstehende Angriffe auf die physische Unversehrtheit oder das Leben der Beteiligten oder von Drittpersonen verhindert werden können. Gemäss dem damaligen Premierminister Bernard Cazeneuve beinhaltet der Text allerdings keine Erweiterung der Rechtfertigungsgründe für Schusswaffeneinsatz. Es handle sich vielmehr um eine «rechtsgleiche» Präzisierung des bestehenden Notwehrkonzepts in Anwendung auf den Bereich der Fahrzeugkontrollen.
Was immer auch die formaljuristisch korrekte Interpretation sein mag: De facto hat die Zahl der Todesfälle bei Polizeikontrollen im Nachgang zu dieser Gesetzesneuerung zugenommen. Bei der für ihre Brutalität und ihren Rassismus ohnehin berüchtigten französischen Polizei scheint ein Kulturwandel eingesetzt zu haben – zum noch Schlechteren. Ist er Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung?
Nahel M. versuchte zwar eindeutig, sich der Polizeikontrolle zu entziehen. Die Polizisten mögen auch richtig vermutet haben, dass er noch nicht achtzehn war und keinen Führerausweis hatte. Sie hatten den Wagen schon vorher zu stoppen versucht und über eine längere Strecke verfolgt. Es trifft auch zu – und wurde von den konservativen französischen Medien sofort ins Zentrum der Berichterstattung gerückt –, dass Nahel M. eine belastete Vorgeschichte hatte und sich nicht zum ersten Mal durch Flucht einer Polizeikontrolle zu entziehen versuchte. Aber all dies rechtfertigt natürlich in keiner Weise die kaltblütige Exekution eines Verdächtigen. Eines siebzehnjährigen Teenagers.
Dieser Befund war so eindeutig, dass nicht nur die Banlieue-Jugend sofort und heftig reagierte, sondern auch das politische Personal.
Emmanuel Macron erklärte nur 24 Stunden nach dem Vorfall, der Tod des Teenagers sei «unerklärbar, unentschuldbar». Angesichts der heftigen Proteste und des unzweideutigen Videobeweises kam es nicht überraschend, dass Macron keinen Versuch machte, das Verhalten der Polizei zu legitimieren, sondern stattdessen ein Strafverfahren gegen den Todesschützen ankündigte. Es ist inzwischen tatsächlich eröffnet worden.
Dennoch ist Macrons Reaktion nicht selbstverständlich. Zum einen wurden dem Präsidenten selbst schon heftigste Vorwürfe wegen seiner Komplizenschaft mit Polizeibrutalitäten gemacht. Der Protestbewegung der Gilets jaunes begegnete Macron mit der vollen Wucht seines Repressionsapparates. Auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen, die zu vielen Schwerverletzten führten, insbesondere zu vielen Demonstrantinnen, die ein Auge verloren, weil die Sicherheitskräfte nicht zögerten, aus nächster Nähe mit Gummigeschossen auf Kopfhöhe zu schiessen, machte Macron Aussagen, die seither sein öffentliches Bild prägen. In einem öffentlichen Gespräch meinte er 2019: «Reden Sie nicht von Repression oder von Polizeigewalt, diese Ausdrücke sind inakzeptabel in einem Rechtsstaat.»
Kann ein Präsident, der es als «inakzeptabel» deklariert hat, auch nur das Problem zu benennen, dem Rassismus und den Gewaltexzessen der französischen Polizei heute glaubwürdig entgegentreten? Da sind Zweifel angebracht. Ein relativ autoritärer Regierungsstil, gerade im Umgang mit öffentlichen Protesten, gehört zu Macrons Markenzeichen. Er dürfte zu abhängig sein von seinem Law-and-Order-Image, um sich ernsthaft anzulegen mit den Polizeikräften.
Und hier stellt sich auch die entscheidende Frage der politischen Folgen dieser neuen Banlieue-Unruhen.
Häufig wird nun der Vergleich mit dem Jahr 2005 gemacht, als in den Banlieues sehr heftige, lang andauernde Unruhen ausbrachen. Der Auslöser war damals der Tod von zwei Teenagern, die vor der Polizei flohen (sie starben nicht durch Schüsse, sondern aufgrund eines Unfalls). Erst damals trat ins Bewusstsein, wie massiv das französische Banlieue-Problem geworden war, wie tiefe Gräben sich entlang der sozialen und ethnischen Konfliktlinien gebildet hatten.
Französischer Innenminister war damals ein gewisser Nicolas Sarkozy, der in der Parteienlandschaft von 2005 unter den Gaullisten als Rechtsausleger und Hardliner gelten konnte. Er sprach davon, dass man die Banlieue mit Hochdruckstrahlern vom Abschaum säubern müsse. Es war der Anfang seiner Eroberung des Élysée-Palastes, in den er 2007 schliesslich einziehen sollte. Auf die Banlieue-Unruhen konnte nur ein Law-and-Order-Präsident folgen.
Die bange Frage ist: Wird sich das nun wiederholen?
Die Républicains, wie die Gaullisten inzwischen heissen, versuchen bereits Kapital zu schlagen aus der Situation. Parteipräsident Éric Ciotti hat seine «totale Unterstützung der Polizeikräfte» erklärt und fordert die breite Anwendung von Notrecht. Aber die Républicains sind heute nur noch der Schatten ihrer selbst. Die dominierende Rechtsauslegerin heisst inzwischen Marine Le Pen.
Im Anschluss an die Stellungnahme von Macron zeigte sie sich empört über die angebliche Vorverurteilung der Polizisten durch den Staatspräsidenten und plädierte dafür, dass Ordnungshüter von einer «Notwehrvermutung» profitieren müssten. Es ist für Le Pen die ideale Gelegenheit, die Polizeikräfte und das konservative Elektorat noch weiter auf ihre Seite zu ziehen. Sie lässt sie nicht ungenutzt.
Hat die französische Gesellschaft beim Antirassismus, bei der Integrationspolitik, bei der Chancengleichheit noch immer keine Fortschritte gemacht? An Anstrengungen, etwa im Bereich der Bildungspolitik, hat es nicht gefehlt. Es sind auch einzelne Erfolge erzielt worden, insbesondere die gesunkene Jugendarbeitslosigkeit. Die Gesamtbilanz ist jedoch finster. Und je länger die Probleme ungelöst bleiben, desto heftiger werden die politischen Verwerfungen, die sie provozieren können.
Illustration: Alex Solman