Binswanger

Frankreich kommt nicht weiter

Die Banlieue steht in Flammen. Was bedeutet die Gewalt­eruption für die französische Gesellschaft? Und für die politische Zukunft des Landes?

Von Daniel Binswanger, 01.07.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
0:00 / 11:47

Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!

Nachdem am Dienstag­morgen in Nanterre, einem Vorort von Paris, der 17-jährige Nahel M. bei einer Polizei­kontrolle erschossen worden war, sind in Banlieue-Quartieren im ganzen Land schwerste Unruhen ausgebrochen. Nahel M. kam aus einer Familie mit algerischem Migrations­hintergrund. Der Verdacht, dass der Todes­schuss durch antiarabischen Rassismus motiviert war, hat das Pulverfass der französischen Vorstädte zur Explosion gebracht.

Autos werden abgefackelt, Polizei­stationen und Rathäuser mit Brandsätzen angegriffen, der Tram- und Busbetrieb musste am Donnerstag­abend in sämtlichen Pariser Aussen­quartieren um 21 Uhr eingestellt werden, weil die Protestierenden auch öffentliche Verkehrs­mittel attackierten. Die Behörden reagierten mit einem spektakulären Aufgebot von Sicherheits­kräften, mobilisierten Spezial­truppen und 40’000 Bereitschafts­polizisten für die Nacht von Donnerstag auf Freitag.

Es kam zu 875 Verhaftungen, in einzelnen Gebieten wurden Ausgangs­sperren verhängt. Es herrscht ein Gefühl von Ausnahme­zustand. Dabei handelt es sich bei dem Vorfall, der zum Auslöser wurde, eigentlich nur um die traurige Normalität.

Die Gewalt­eruption ist nicht die erste ihrer Art und es steht zu fürchten, dass sie nicht die letzte bleiben wird. Die Ghettoisierung der Vorstädte, der weiterhin virulente, sich im Zug von Marine Le Pens politischen Erfolgen tendenziell verstärkende Rassismus, die zwar abnehmende, aber noch immer sehr hohe Jugend­arbeitslosigkeit haben ungebrochenes Spreng­potenzial.

Im Wesentlichen stellen sich nun zwei Fragen: Was sagt es aus über die Entwicklung der französischen Gesellschaft, dass heute, achtzehn Jahre nach den verheerenden Banlieue-Unruhen von 2005, wieder derselbe Punkt erreicht zu sein scheint? Und welche politischen Folgen werden diese Spannungen haben?

Immer wieder werden junge Männer getötet, die versuchen, sich einer Polizei­kontrolle zu entziehen (refus d’obtempérer). Seit Anfang des Jahres ist es in Frankreich der zweite Zwischenfall dieser Art. Im Jahr 2022 wurden 13 Verdächtige erschossen, die fliehen wollten. Ungewöhnlich an der Tötung von Nanterre ist haupt­sächlich, dass eine Passantin die Szene, als ein Polizist die Waffe auf Nahel M. richtete und kurz darauf abdrückte, mit ihrem Handy gefilmt hat. Nur wenige Stunden später ging das Video viral. Und brachte die französische Regierung in bittere Erklärungsnot.

Auf der kurzen Film­sequenz sind zwei Polizisten an der Seite eines still­stehenden Wagens zu sehen, beide mit gezogener Waffe. Es ist zu hören, wie jemand brüllt: «Ich werde dir eine Kugel in den Kopf schiessen.» Daraufhin fährt der Wagen an, ein Polizist drückt ab. Zwanzig Meter weiter (das ist im Video nicht zu sehen) knallte das Auto in einen Pfosten. Nahel M., der aus nächster Nähe in den Thorax getroffen worden war, starb eine Stunde später. Die herbei­gerufenen Sanitäter konnten nichts mehr tun für ihn.

Kurz nach dem Vorfall – und noch bevor das Video viral ging – liessen die Polizei­behörden verlauten, das Opfer sei mit dem Wagen auf die Ordnungs­hüter losgefahren. Dann wäre der Schuss potenziell – wenn die Polizisten selbst in akuter Gefahr gewesen wären – ein Fall von legitimer Notwehr gewesen. Auf dem Video ist allerdings unzweideutig fest­zustellen, dass keine unmittelbare Bedrohung vorlag. Die Polizisten standen neben, nicht vor dem Wagen, als Nahel M. aufs Gas ging, um zu fliehen. Er brachte weder sie noch Dritt­personen in Gefahr.

Damit scheint erwiesen, dass der Polizist seine Schuss­waffe nicht hätte einsetzen dürfen. Im Jahr 2017 wurde mit dem sogenannten Gesetz zur inneren Sicherheit der heute hoch­umstrittene Paragraf 435-1 eingeführt, der den Schusswaffen­einsatz bei Fahrzeug­kontrollen regelt. Nachdem ein Jahr zuvor vier Polizisten in ihren Fahrzeugen mit Molotow­cocktails angegriffen und zwei davon sehr schwer verletzt worden waren, glaubte die damalige Regierung unter François Hollande, Handlungs­bedarf zu erkennen.

Schüsse auf Fahrzeuge sollten künftig nicht mehr nur im Fall von Notwehr gemäss der bestehenden Definition zulässig sein, sondern bei «absoluter Notwendigkeit und auf strikt verhältnis­mässige Art» auch dann, wenn durch das Verhindern einer Flucht bevor­stehende Angriffe auf die physische Unversehrtheit oder das Leben der Beteiligten oder von Dritt­personen verhindert werden können. Gemäss dem damaligen Premier­minister Bernard Cazeneuve beinhaltet der Text allerdings keine Erweiterung der Rechtfertigungs­gründe für Schusswaffen­einsatz. Es handle sich vielmehr um eine «rechtsgleiche» Präzisierung des bestehenden Notwehr­konzepts in Anwendung auf den Bereich der Fahrzeug­kontrollen.

Was immer auch die formal­juristisch korrekte Interpretation sein mag: De facto hat die Zahl der Todesfälle bei Polizei­kontrollen im Nachgang zu dieser Gesetzes­neuerung zugenommen. Bei der für ihre Brutalität und ihren Rassismus ohnehin berüchtigten französischen Polizei scheint ein Kultur­wandel eingesetzt zu haben – zum noch Schlechteren. Ist er Ausdruck einer gesamt­gesellschaftlichen Entwicklung?

Nahel M. versuchte zwar eindeutig, sich der Polizei­kontrolle zu entziehen. Die Polizisten mögen auch richtig vermutet haben, dass er noch nicht achtzehn war und keinen Führer­ausweis hatte. Sie hatten den Wagen schon vorher zu stoppen versucht und über eine längere Strecke verfolgt. Es trifft auch zu – und wurde von den konservativen französischen Medien sofort ins Zentrum der Bericht­erstattung gerückt –, dass Nahel M. eine belastete Vorgeschichte hatte und sich nicht zum ersten Mal durch Flucht einer Polizei­kontrolle zu entziehen versuchte. Aber all dies rechtfertigt natürlich in keiner Weise die kaltblütige Exekution eines Verdächtigen. Eines siebzehn­jährigen Teenagers.

Dieser Befund war so eindeutig, dass nicht nur die Banlieue-Jugend sofort und heftig reagierte, sondern auch das politische Personal.

Emmanuel Macron erklärte nur 24 Stunden nach dem Vorfall, der Tod des Teenagers sei «unerklärbar, unentschuldbar». Angesichts der heftigen Proteste und des unzweideutigen Video­beweises kam es nicht über­raschend, dass Macron keinen Versuch machte, das Verhalten der Polizei zu legitimieren, sondern stattdessen ein Straf­verfahren gegen den Todes­schützen ankündigte. Es ist inzwischen tatsächlich eröffnet worden.

Dennoch ist Macrons Reaktion nicht selbst­verständlich. Zum einen wurden dem Präsidenten selbst schon heftigste Vorwürfe wegen seiner Komplizenschaft mit Polizei­brutalitäten gemacht. Der Protest­bewegung der Gilets jaunes begegnete Macron mit der vollen Wucht seines Repressions­apparates. Auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen, die zu vielen Schwer­verletzten führten, insbesondere zu vielen Demonstrantinnen, die ein Auge verloren, weil die Sicherheits­kräfte nicht zögerten, aus nächster Nähe mit Gummi­geschossen auf Kopf­höhe zu schiessen, machte Macron Aussagen, die seither sein öffentliches Bild prägen. In einem öffentlichen Gespräch meinte er 2019: «Reden Sie nicht von Repression oder von Polizei­gewalt, diese Ausdrücke sind inakzeptabel in einem Rechtsstaat.»

Kann ein Präsident, der es als «inakzeptabel» deklariert hat, auch nur das Problem zu benennen, dem Rassismus und den Gewalt­exzessen der französischen Polizei heute glaubwürdig entgegen­treten? Da sind Zweifel angebracht. Ein relativ autoritärer Regierungsstil, gerade im Umgang mit öffentlichen Protesten, gehört zu Macrons Marken­zeichen. Er dürfte zu abhängig sein von seinem Law-and-Order-Image, um sich ernsthaft anzulegen mit den Polizei­kräften.

Und hier stellt sich auch die entscheidende Frage der politischen Folgen dieser neuen Banlieue-Unruhen.

Häufig wird nun der Vergleich mit dem Jahr 2005 gemacht, als in den Banlieues sehr heftige, lang andauernde Unruhen ausbrachen. Der Auslöser war damals der Tod von zwei Teenagern, die vor der Polizei flohen (sie starben nicht durch Schüsse, sondern aufgrund eines Unfalls). Erst damals trat ins Bewusstsein, wie massiv das französische Banlieue-Problem geworden war, wie tiefe Gräben sich entlang der sozialen und ethnischen Konflikt­linien gebildet hatten.

Französischer Innen­minister war damals ein gewisser Nicolas Sarkozy, der in der Parteien­landschaft von 2005 unter den Gaullisten als Rechts­ausleger und Hardliner gelten konnte. Er sprach davon, dass man die Banlieue mit Hochdruck­strahlern vom Abschaum säubern müsse. Es war der Anfang seiner Eroberung des Élysée-Palastes, in den er 2007 schliesslich einziehen sollte. Auf die Banlieue-Unruhen konnte nur ein Law-and-Order-Präsident folgen.

Die bange Frage ist: Wird sich das nun wiederholen?

Die Républicains, wie die Gaullisten inzwischen heissen, versuchen bereits Kapital zu schlagen aus der Situation. Partei­präsident Éric Ciotti hat seine «totale Unter­stützung der Polizei­kräfte» erklärt und fordert die breite Anwendung von Notrecht. Aber die Républicains sind heute nur noch der Schatten ihrer selbst. Die dominierende Rechts­auslegerin heisst inzwischen Marine Le Pen.

Im Anschluss an die Stellung­nahme von Macron zeigte sie sich empört über die angebliche Vorverurteilung der Polizisten durch den Staats­präsidenten und plädierte dafür, dass Ordnungs­hüter von einer «Notwehr­vermutung» profitieren müssten. Es ist für Le Pen die ideale Gelegenheit, die Polizei­kräfte und das konservative Elektorat noch weiter auf ihre Seite zu ziehen. Sie lässt sie nicht ungenutzt.

Hat die französische Gesellschaft beim Anti­rassismus, bei der Integrations­politik, bei der Chancen­gleichheit noch immer keine Fortschritte gemacht? An Anstrengungen, etwa im Bereich der Bildungs­politik, hat es nicht gefehlt. Es sind auch einzelne Erfolge erzielt worden, insbesondere die gesunkene Jugend­arbeitslosigkeit. Die Gesamt­bilanz ist jedoch finster. Und je länger die Probleme ungelöst bleiben, desto heftiger werden die politischen Verwerfungen, die sie provozieren können.

Illustration: Alex Solman

Wenn Sie weiterhin unabhängigen Journalismus wie diesen lesen wollen, handeln Sie jetzt: Kommen Sie an Bord!