Seit Europa kein russisches Öl mehr annimmt, fahren Tanker ihre Fracht Tausende Kilometer bis nach Indien, Südamerika oder China. HeliRy/iStock

Putins Genfer Drehscheibe

Der Handel mit russischem Erdöl ist aufgrund der Sanktionen komplizierter geworden. Doch er geht weiter – gesteuert auch aus der Schweiz. Dass er zunehmend im Verborgenen statt­findet, schafft gigantische Umwelt­risiken.

Eine Recherche von Priscilla Imboden, Nikolas Leontopoulos (Reporters United), Chris Matthews und Nico Schmidt (Investigate Europe), 28.06.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
0:00 / 12:29

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!

Anfang Juni nähert sich der Tanker Dale im Lakonischen Golf vor der Küste der griechischen Halbinsel Peloponnes einem zweiten Tanker, der Gem No. 3, an. Die beiden Riesen­schiffe – beide sind rund 200 Meter lang – trennen sich erst einen knappen Tag später wieder, nachdem die Dale den Grossteil ihres Öls in den Bauch der Gem No. 3 gepumpt hat.

Alles deutet darauf hin, dass die Schweizer Rohstoff­händlerin Trafigura dieses Umlade­manöver organisiert hat. Trafigura verwaltete nach Informationen des Recherche­kollektivs Investigate Europe sowie des griechischen Journalisten­teams Reporters United zum damaligen Zeitpunkt die Dale. Das Journalistinnen­team stützt sich auf verschiedene Daten­banken wie Marine Traffic, Equasis, Kpler sowie auf Quellen aus der Schifffahrts­branche vor Ort.

Der Ladungs­tausch auf offener See ist brisant: Wahrscheinlich sind hier russische Ölprodukte transferiert worden. Die Dale war nämlich Ende Mai im russischen Schwarzmeer­hafen Noworossijsk mit Roh­benzin beladen worden. Zwar wird in Noworossijsk auch kasachisches Öl umgeschlagen. Doch die Dale hatte im Sheskharis-Terminal gedockt, in dem laut der Brüsseler Denkfabrik Bruegel russisches Öl geladen wird. Trafigura selbst will den Sachverhalt nicht kommentieren. «Wir äussern uns nie zu kommerziellen Transaktionen», teilte ein Konzern­sprecher auf Nachfrage mit.

Manöver wie jenes Anfang Juni kann der griechische Umwelt­aktivist Giorgos Daoutakos während seiner Strand­spaziergänge inzwischen fast täglich beobachten. An der Peloponnes-Küste legt zum Beispiel die vom Aussterben bedrohte Karett­schildkröte ihre Eier. «Wenn es da draussen zu einem Unfall kommt, sind wir ökologisch und finanziell ruiniert», sagt Daoutakos. «Das wird unumkehrbar sein.»

Trafigura kauft laut eigenen Angaben seit dem russischen Angriff auf die Ukraine kein russisches Rohöl mehr. Mit Produkten aus russischem Erdöl handelt der Konzern aber weiterhin, wie ein Sprecher auf Anfrage bestätigt. Laut der Nichtregierungs­organisation Global Witness hat Trafigura im ersten Jahr seit Beginn des Krieges in der Ukraine rund 50 Millionen Fass russische Erdöl­produkte gehandelt, was multipliziert mit dem Preis von 60 Dollar pro Fass einem Verkaufswert von mindestens 3 Milliarden Dollar entspricht. Trafigura teilte mit, man weise die Analyse von Global Witness «entschieden zurück».

Mindestens indirekt würde Trafigura durch diese Transaktionen den russischen Angriffs­krieg mitfinanzieren. Allerdings ist die Genfer Firma nicht die einzige Rohstoff­händlerin, die solche Geschäfte aus der Schweiz heraus tätigt: Die beiden Genfer Handels­firmen Vitol und Gunvor figurieren vor Trafigura auf Platz eins und Platz zwei der Rangliste von Global Witness. Beide handelten demnach im ersten Kriegs­jahr mehr als doppelt so viele russische Ölprodukte wie Trafigura. Und die Zuger Firma Glencore figuriert auf Platz vier nach Trafigura.

Dass die beiden Schweizer Rohstoff­händlerinnen Vitol und Gunvor – und in geringerem Masse auch Trafigura – weiterhin mit russischen Erdöl­produkten handeln, wird von neuen Zahlen bestätigt, die die «Financial Times» ausgewertet hat.

Alle diese Transaktionen sind legal, solange sich die Firmen an die Preis­obergrenze von 60 Dollar pro Fass halten, welche die G-7 festgesetzt hat. Und solange sie kein russisches Erdöl oder Erzeugnisse daraus direkt in die EU verkaufen.

Die EU wollte mit ihren Sanktionen den Handel mit russischem Öl erschweren. Das ist nur teilweise gelungen. Und: Das Risiko einer Umwelt­katastrophe vor den europäischen Küsten hat sich massiv erhöht.

Einerseits, weil die Sanktionen dazu führen, dass Reeder auf offener See ihre Fracht tauschen. Denn seit die Europäerinnen kein russisches Öl mehr annehmen, fahren die Tanker ihre Fracht Tausende Kilometer weiter über das Meer bis nach Indien, Südamerika oder China. Für diese Transport­wege brauchen sie andere Tank­schiffe, was mit ein Grund ist, weshalb das Erdöl häufiger denn je in Schiff-zu-Schiff-Transfers (kurz: STS-Transfers) umgepumpt wird. Solche Transfers dauern kürzer und kosten weniger als der Umschlag in einem Hafen. Und sie können auch dazu dienen, die Herkunft des russischen Öls zu verschleiern.

6 bis 10 Prozent aller russischen Ölexporte auf dem Seeweg seien inzwischen mit Schiff-zu-Schiff-Transfers verbunden, schätzt Craig Kennedy, Wissenschaftler am Davis-Zentrum der Harvard-Universität, im Gespräch mit Investigate Europe. Deutlich mehr als noch vor Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs. «Immer wenn STS-Transfers stattfinden, besteht die Gefahr eines Öllecks», sagt Kennedy. Auch westliche Händler wie eben Trafigura beteiligen sich an diesen riskanten Manövern.

Um die Gefahr für die Küsten­ökosysteme zu mindern, sind Schiff-zu-Schiff-Transfers stark reguliert. Allerdings nur, wenn sie auch innerhalb der Hoheits­gewässer der Anrainer­staaten stattfinden – im Fall des Lakonischen Golfs reichen diese bis sechs Meilen vor die Küste. Um die Regulierung zu umgehen, finden die Erdöl-Umladungen deshalb derzeit genau ausserhalb dieser Distanz statt.

Eine weitere gefährliche Auswirkung der Sanktionen ist das Heran­wachsen einer grossen Schatten­flotte, die das russische Erdöl transportiert.

Zum Beispiel nach Indien: Indische Raffinerien importierten vor dem Krieg fast kein russisches Öl, aber jetzt ist der Sikka-Hafen in Gujarat der grösste Importeur weltweit von über den Seeweg transportiertem russischem Erdöl geworden und zugleich der grösste Export­hafen russischer Erdöl­produkte für die EU. «Russisches Erdöl fliesst nun nach Osten. Die Inder raffinieren es und verschiffen es dann zurück nach Europa. Russische Moleküle gelangen immer noch auf den europäischen Markt, nur in anderer Form», sagt ein Ölhändler, der nicht namentlich genannt werden möchte.

So werden die EU-Sanktionen umgangen, indem ein Schlupf­loch im Sanktions­regime genutzt wird. Der Import von russischem Erdöl und von russischen Erdöl­erzeugnissen in die EU ist zwar verboten. Raffiniertes Erdöl aus Indien oder China fällt aber nicht unter das Verbot, auch wenn es ursprünglich aus Russland stammt. Es gibt deshalb keine Hinweise darauf, dass die in diesem Artikel genannten Unternehmen Sanktionen umgangen haben. Die neuen Handels­wege sind absurd, und es fliessen weiterhin riesige Summen nach Russland. Aber alles ist legal.

Weil viele westliche Firmen wegen der Sanktionen darauf verzichten, russisches Erdöl direkt zu kaufen und zu transportieren, ist im Laufe des letzten Jahres eine sogenannte «dunkle Flotte» entstanden, bestehend aus Schiffen, die von dubiosen Eigentümerinnen über die Meere geschickt werden, um russisches Öl zu transportieren. In dieser Schatten­flotte sammeln sich auch überalterte Schiffe in mitunter schlechtem Zustand, die ohne Versicherungs­schutz betrieben werden müssen.

Und diese Flotte wird immer grösser. Die britische Analyse­firma S&P Global Market Intelligence schätzt, dass die russische Schatten­flotte inzwischen auf 443 Tanker ausgebaut wurde. Laut dem Schiffs­händler Braemar hat Russland allein im vergangenen Jahr heimlich mehr als 100 neue Schiffe in Dienst gestellt, um Sanktionen zu umgehen. Eine grosse Sorge ist, dass die deutlich älteren Schiffe der russischen Schatten­flotte nicht ordnungs­gemäss inspiziert und gewartet werden, was zu einem katastrophalen Unfall auf See führen könnte.

Das sagt der wissenschaftliche Leiter des britischen Schiffs­händlers EA Gibson, Richard Matthews, im Gespräch mit Investigate Europe. Je älter ein Schiff, desto höher die Gefahr eines Motor­schadens. Je unerfahrener die Schiffs­eigner, desto grösser die Gefahr einer Kollision. «Das erhöht tragischer­weise die Gefahr einer Ölkatastrophe, die unvermeidbar scheint», sagt Matthews.

Branchen­beobachter berichten, dass viele Schiffe der Schatten­flotte gar nicht mehr versichert sind. Matthew Wright, Fracht­analyst bei der Rohstoff­handelsdaten-Anbieterin Kpler, sagt: «Bei einem Unfall könnte es schwierig sein, heraus­zufinden, welche und ob eine Versicherung für den Schaden aufkommt.»

Dennoch beteiligen sich nach Informationen von Investigate Europe und Reporters United auch westliche Unter­nehmen am Handel mit Schiffen der Schattenflotte.

Zum Beispiel Trafigura.

Der Tanker Nanda Devi – benannt nach dem zweithöchsten Berg in Indien – hielt sich im Dezember 2022 in einer Bucht im Lakonischen Golf auf. Dort vollzog der Frachter unter anderem einen Schiff-zu-Schiff-Transfer mit einem Tanker von Trafigura. Der globale Ölhändler mit Sitz in Genf wollte auf Anfrage auch diese Transaktion nicht kommentieren. Die Nanda Devi wurde vor zwanzig Jahren gebaut und sollte altershalber langsam die Verschrottungs­werft ansteuern. Der Frachter schippert aber weiter über die Weltmeere.

Zum erwähnten Zeitpunkt gehörte das Schiff der Firma Gatik, einem geheimnisvollen Unternehmen mit Sitz in Mumbai. Branchen­kennerinnen vermuten, dass Gatik Verbindungen hat zur sanktionierten russischen Ölfirma Rosneft. Gatik entstand nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wie aus dem Nichts und hat sich zu einer der wichtigsten Transport­firmen für russische Erdöl­produkte entwickelt. Die Firma steht symbolhaft für die Schatten­flotte, welche russisches Erdöl über neue Handels­routen führt – und für die tickende Zeitbombe, die sie darstellt.

Im April 2023, als die USA die Schraube gegen Gatik weiter anzogen, musste die Nanda Devi den Eigner wechseln und verlor Berichten zufolge, wie alle Gatik-Schiffe, ihren amerikanischen Versicherer. Im Wesentlichen bedeutet dies, dass ein Öltanker, der an komplizierten Öltransfers in der Nähe von europäischen Naturschutz­gebieten beteiligt ist, unversichert durch den Golf fährt. Ähnliche Warnungen vor einer ökologischen Katastrophe gibt es auch in Bezug auf die Meer­engen von Dänemark und Schweden – Wasser­strassen, die jetzt von Schiffen der Schatten­flotte genutzt werden, um russisches Öl nach Asien zu transportieren.

Eine höchst ungemütliche Situation, der man sich in den meisten Teilen Europas erst langsam bewusst wird. Eine besonders kompromittierende Rolle spielt dabei die Schweiz. Die Genfer Dreh­scheibe für russische Erdöl­produkte scheint weiterhin zu funktionieren – ganz egal, welche hehren Neutralitäts- oder gar Solidaritäts­erklärungen aus dem Bundeshaus zu vernehmen sind.

Derweil schlägt Giorgos Daoutakos, der örtliche Aktivist am Strand von Mavrovouni, weiter Alarm – wegen seines «Stücks Paradieses» auf dem Peloponnes, das nun an der Frontlinie der Öltanker liegt.

Zu dieser Recherche

Dieser Artikel ist Teil der Serie «Fuelling War», einer gemeinsamen Recherche von Investigate Europe und Reporters United. Investigate Europe ist ein Team von Investigativ­journalistinnen aus elf Ländern, das Themen von europaweiter Relevanz recherchiert. Reporters United ist ein griechisches Recherche­team.

Zu den Medienpartnern zählen neben der Republik der «Tagesspiegel» (Deutschland), «Il Fatto Quotidiano» (Italien) und «Meduza» (Lettland).

An dieser Recherche waren ausserdem beteiligt:

  • Reporters United: Thodoris Chondrogiannos, Konstantina Maltepioti, Sotiris Sideris (Datenauswertung)

  • Investigate Europe: Lorenzo Buzzoni

Investigate Europe wird unterstützt von seinen Leserinnen, durch Spender sowie durch die Schöpflin Stiftung, die Rudolf Augstein Stiftung, die Fritt Ord Stiftung, die Open Society Initiative for Europe, die Adessium Stiftung, die Reva und David Logan Stiftung, die TAZ Panter Stiftung und die Cariplo Stiftung. Reporters United wird durch Medien­partnerschaften, Spenden und Abonnenten finanziert.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus mit einem Monatsabonnement oder einer Jahresmitgliedschaft!