Wie lösen wir die Wohnungsnot?

Mit der «Verdichtung nach innen» soll mehr Wohnraum geschaffen werden. Warum klappt das nicht?

Von Ernst Hubeli (Text) und Marvin Zilm (Bilder), 22.06.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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Wer darf wo – und vor allem: wie – bauen?

Was dem Oligarchen die Länge seiner Jacht ist, war dem Adeligen die Grösse seines Schlosses. Jean-Baptiste Colbert, Staatshaushalt-Sanierer von Ludwig XIV., kokettierte gerne mit dem ultimativen Übermass, um dem «Sonnen­könig» ein Luxus­ideal einzuflössen, das selbst im Ancien Régime Schock­starre auslöste: Ein ganzes Leben sollte nicht ausreichen, um alle Zimmer im königlichen Schloss kennen­zulernen. Als Versailles schier aus allen Nähten platzte, besass der Letzte seiner Dynastie, Ludwig XVIII., über zweitausend Zimmer – nicht wenige, aber weit entfernt vom Ideal. In ein paar Monaten hatte er sie durch­kämmt, um sich schliesslich mit 152 für den Eigen­gebrauch zu begnügen.

Im 19. Jahrhundert hatten sich Ideale vom schönen Wohnen verbürgerlicht und urbanisiert. Innen und aussen, Privatheit und Öffentlichkeit suchten nach der perfekten Balance. Traum­tänzerisch schwebte diese vor den Augen Kurt Tucholskys, als er frühmorgens aus seiner Berliner Gründerzeit­wohnung schaute: «Vorn der Ku’damm, hinten die Ostsee.» Jenseits seiner geografischen Unmöglichkeit und der sich aussprechenden Sehnsucht nach unbegrenzten Räumen hat Tucholskys Tagtraum einen wahren Kern: Urbane Seelen begehren die Stadt und haben gleichzeitig ein Bedürfnis nach Weite und Leere.

Dieses Ideal, das zum Paradox wird, hadert zwar auch mit der Wirklichkeit, erweckt aber unseren Möglichkeits­sinn, der politisch und lebens­praktisch massgebend werden kann: Seit dem 19. Jahrhundert wird gestritten, wie dicht die Stadt sein soll und wie aufgelockert sie sein muss. Am liebsten beides gleichzeitig.

Das Credo bleibt abstrakt

Die Frage ist heute wieder brandaktuell. In Europa und in der Schweiz. Bund und Kantone haben zwar weder ein Ideal noch eine souveräne Antwort gefunden, aber ein Ziel fixiert: Die Städte sollen dichter werden, als sie sind. «Verdichtung nach innen» ist das Credo, das allerdings völlig offenlässt, wie das geschehen soll. Was als Nach­verdichtung erträglich ist – und was nicht.

Gewiss ist lediglich, dass es sich nicht um eine bloss theoretische Debatte handelt, sondern um eine volks­wirtschaftliche Notwendigkeit, nur schon aus ökologischem Zwang: Die Pendler­ströme, der Energie­verbrauch und die Zersiedlung nehmen immer weiter zu. Nun müssen sie wieder reduziert werden. Die Städte müssen wachsen, und zwar effizient wachsen – dort nämlich, wo die teuren Infra­strukturen und Service­leistungen schon vorhanden und die Wege kurz sind. Nur so besteht eine Chance, den ökonomischen und ökologischen Verschleiss ausfransender Agglomerationen zu bremsen.

Die «Energie­strategie 2050», der «haushälterische Umgang mit dem Boden» und kantonale Richtpläne programmieren solche Stadt­verdichtungen seit 2014. Diese planerischen Rahmen­bedingungen sind zwar mehr oder weniger verbindlich, bleiben aber auch abstrakt, weil ihre konkrete Umsetzung an die Städte delegiert wird.

Urbaner Groove

Grünes Licht gäbe es von der grossen Mehrheit. Viele Studien belegen, dass 80 Prozent der Bevölkerung am liebsten in einer Stadt leben möchten, wenn sie es denn könnten. Aus plausiblen Gründen. Selbst mit digitalen Vernetzungen bis in die Baum­kronen und noch mehr Home­office ist es halt immer noch angenehm und alltags­praktisch, wenn alles nah und fast alles möglich ist – Leute treffen, Bildungs­chancen wahrnehmen, Jobs finden, den Geist und das Nerven­system anregen. Zudem wollen die meisten Frauen nicht mehr in einem traditionellen Mutter-Kind-Ghetto veröden und unter dem Apfel­baum nochmals den neusten Coelho lesen. Lieber bewegen sie sich im urbanen Treiben, inklusive File-, Care- und Food­sharing.

Der Cocktail aus vielen Möglichkeiten an einem Ort setzt eine hohe Bevölkerungs­dichte voraus, damit die Angebote auch benützt werden. Schon Aussen­quartiere erfüllen diese Voraussetzung selten. Häufiger herrscht dort ein Schlafort-Ambiente. Auch in nur wenigen der 163 Schweizer Gemeinden, die statistisch als «Städte» gelten (mit 10’000 und mehr Bewohnerinnen), schnuppert man tatsächlich die Stadtluft, die befreiend wirkt. Als Faustregel gilt: 4000 bis 5000 Personen pro Quadrat­kilometer sind nötig, damit sich urbaner Groove entfalten kann.

Und dieser wirkt offenbar magnetisch. In den grösseren Städten ist die Bevölkerung gewachsen. In Zürich hat die Einwohner­zahl seit der Jahrtausend­wende um 80’000 Personen zugenommen. Bemerkenswert ist jedoch, dass Zürich Mitte der 1960er-Jahre schon gleich dicht bewohnt war wie heute. Dann aber flüchteten Tausende aus der Stadt – Büros verdrängten Wohnungen, «Kahlsanierungen» verteuerten sie, Autobahnen und Schnell­strassen durch­kreuzten Wohn­quartiere. Erst in den 1980er-Jahren begann allmählich eine Stadt­rückwanderung. Eingeleitet von der Jugend­bewegung, die Sehnsucht nach einer Metropole mit «freiem Blick aufs Mittelmeer» hatte.

Stadtverdichtung als Null­summenspiel

In den 1960er-Jahren verbrauchten 440’000 Stadt­zürcher 16 Millionen Quadratmeter Wohn­fläche. Nun brauchen gleich viele 24 Millionen. Wären alle so bescheiden wie früher, könnten heute 660’000 Menschen in Zürich wohnen. Und das Zürcher Stadt­wachstumsziel von 520’000 Personen bis 2040 könnte übertroffen werden – ohne Bauboom.

In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Die Stadt ist baulich um die Hälfte gewachsen, die Stadt­bevölkerung um null. Diese Form der «Verdichtung nach innen» ist also eine Nullnummer. Das Übel liegt im gesteigerten Konsum (der bekanntlich auch die Haupt­ursache der Klimakrise ist). Also runter mit der Wohnfläche pro Person!

Doch so einfach ist es nicht. In der Wohnung wird längst nicht mehr nur gewohnt – jedes Zimmer ist eine digitale Welt­bibliothek, ein Kommunikations- und Unterhaltungs­zentrum. Wir können den ganzen Globus erkunden, ohne unsere vier Wände überhaupt je zu verlassen. Und das Wohnen hat sich auch deshalb nach innen verlagert, weil es früher mehr Aussen­räume gab, bevor sie dem gesteigerten Flächen­konsum nach innen geopfert wurden.

Neu und veraltet

Nun sind Statistiken wie nackte Zahlen trügerisch: Auch bei einer durchschnittlich kniehohen Seetiefe kann man ertrinken. Weder haben viele eine grössere Wohnung noch könnten sie sich eine solche leisten. Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob der gesteigerte Konsum auch eine andere Ursache hat: Werden die Wohnungen falsch und mit unnötigem Flächen­verschleiss gebaut (so wie Autos immer grösser werden)?

In der Tat. Neue 2-, 3- oder 4-Zimmer-Wohnungen sind zwar grösser, sie folgen aber immer noch dem Urmodell aus den 1950er-Jahren – dem Küche-Wohnraum-Schlafzimmer-Bad/WC-Schema, das dem damals dominanten Lebensstil der Kleinfamilie entsprach: ein Ehepaar, zwei Kinder, ein Volks­wagen, ein Fernseher, ein Blick ins Grüne. Abgesehen davon, dass auch die Familien­haushalte nicht mehr sind, was sie einmal waren – sie bilden längst nur noch eine Minderheit in den Städten: 11 Prozent in Zürich.

Um dem realen Bedarf entgegen­zukommen, müssten Wohnungen – egal ob gross oder klein – nicht Funktionen folgen, sondern einige Räume mit verschiedenen Atmosphären anbieten. Nach dem Motto: Gib mir einen Reichtum an Möglichkeiten, den Rest mache ich selbst! Das wäre entmaterialisierter Luxus. Er braucht nicht mehr Fläche, sondern – im Gegenteil – deutlich weniger, aber die richtige.

Wohnungen werden ohnehin vermehrt anders genutzt als geplant, sodass wir uns schon lange fragen, weshalb Räume festen Funktionen folgen sollen. Lust und Launen sind dem heutigen Bewohner näher als Zwecke. Das architektonische Subjekt ist nicht der modern rationale, sondern der reflexiv-labile Mensch, der Räume mit wechselnden Eigenschaften begehrt, damit er sich selbst begegnen kann, was nicht kleine Zellen mit verbindenden Korridoren, sondern nur Räume mit Dazwischen­raum auch leisten können.

Es existieren zwar auch in Zürich einige Wohn­modelle, die zeitgemässer sind. Gemessen an der grossen Neubau­masse sind sie aber Ausnahmen. En masse wird am Bedarf vorbei­produziert. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Wohnungs­markt nicht unter Innovations­druck steht: Wenn Wohnungs­not herrscht, sind alle Wohnungen begehrt.

Verdichten für wen?

Jedenfalls setzt eine intelligente «Verdichtung nach innen» ein passendes Wohnungs­angebot voraus, das erstens, wie erwähnt, dem demografischen Wandel folgt und zweitens eine Frage der Empfangs­politik ist: Diese muss sich kümmern um die Bürgerinnen, die in die Stadt zurück­kehren möchten, und um all diejenigen, die aus ihr verdrängt zu werden drohen.

Anders gefragt: Für wen wurde, für wen wird verdichtet? Für jene, die in der Service­industrie arbeiten, ist die «Verdichtung nach innen» eine «Verteuerung nach innen». Zählt man zum Gastro-, Unterhalts- und Pflege­personal noch Leute in der Ausbildung dazu, bestätigt sich das, was die Spatzen von den Dächern pfeifen: Für die grosse Mehrheit besteht in Zürich eine Wohnungsnot.

Wohnungen werden sowieso anders genutzt als geplant. Weshalb sollen Räume festen Funktionen folgen?

Diese ist nicht nur ökonomisch, sondern auch seelisch prekär. Wer chancenlos eine Wohnung sucht, wird zum einen entwürdigt, zum anderen diszipliniert. Viele fühlen sich selber schuldig, wenn sie keine Wohnung finden oder die Miete das Einkommen halbiert. Wenn dieses Gefühl unerträglich wird, geschehen Übertragungen – im Fachjargon – kognitive Dissonanzen: An der Wohnungsnot seien Ausländerinnen und die Zuwanderung schuld. Freilich, ohne diese würde nicht nur Zürich, sondern fast alle Städte in sich zusammen­brechen. Umgekehrt bedeutet der Trugschluss: «Jede bezahlbare Wohnung ist eine Stimme gegen Rassismus und Rechts­extremismus.» So formulierte es der deutsche Ex-Bundeswohn­bauminister Franz Müntefering.

Wohnungen für kleine Einkommen sind auch aus anderen Gründen keine karitative Angelegenheit. Wer die Stadt sauber hält, die Stadt­bevölkerung unterhält und pflegt, wer das Ausbildungs- und Bildungs­niveau steigert, sollte auch in der Stadt wohnen. Ohne soziale, kulturelle Inklusion ist «Stadt» ohnehin nicht zu haben – funktional, mental und seelisch nicht. Auch die urbane Oberschicht taucht in ein urbanes Stahlbad, wenn sie sich nur noch selbst treffen und bewirten kann. Insofern verschärft sich die Frage: Kann mit der Nach­verdichtung auch ein Wohnungs­angebot für alle entstehen?

Der innere Widerspruch der Wohnungs­frage

Wohnen für alle: unerreichbar? Es gibt jedenfalls keine einfachen Lösungen, obwohl – salopp gesagt – sowohl von links als auch von rechts immer wieder Versuche gemacht worden sind, für zahlbaren Wohn­raum zu sorgen. Das vermeintliche Paradox verweist auf einen inneren Widerspruch, welcher der Wohnungs­frage eingeschrieben ist: Der Immobilien­markt ist der systemische Feind des Arbeits­markts. Wenn Immobilien an Wert gewinnen und die Mieten steigen, steht der Arbeits­markt unter Druck, die Löhne zu erhöhen. Dabei steht die Immobilien­wirtschaft auf dünnem Eis, weil sie nur einen Bruchteil der Gesamt­wirtschaft ausmacht – rund 10 Prozent.

Das erklärt, dass rechts nach links einschwenken kann, wenn es um die Wohnungs­frage geht. Etwa Jacques Chirac. Als er der bürgerlich-konservative Staats­präsident Frankreichs war, wollte seine Regierung Anfang der 2000er-Jahre Boden­eigentum massiv besteuern (was schliesslich an bürokratischen Hindernissen scheiterte). Auch Horst Seehofer verkündete als deutscher CSU-Bundes­minister für Bau und Heimat, dass die «wichtigste soziale Frage» eine «Bodenwende» erfordere. Und auch für die globalen Gross­konzerne des Plattform­kapitalismus ist der Immobilien­markt toxisch, wenn ihre Belegschaft vom Fitness­studio ins eigene Auto pendeln muss, um darin zu pennen, weil im steuergünstigen Dublin keine Wohnungen zu finden sind.

Singapur und Wien, Gegensätze treffen sich …

Singapur mit dem Ruf eines turbo­kapitalistischen Stadt­staats hat sich Anfang der 1960er-Jahre für die Priorität des Arbeits­markts entschieden und das Recht auf Wohnen eingeführt, gleichgestellt mit dem Recht auf Gesundheit. Mit anderen Worten: Wohnen wird mit gesellschaftlicher Solidar­haftung belegt. Dafür wurde (nach der Unabhängigkeit vom British Empire) ein staatlicher Immobilien­konzern etabliert, der Boden gekauft und ihn durch Aufschüttungen im Meer vermehrt hat. Mit dem Programm, dass alle eine Wohnung kaufen können, mehr oder weniger teuer.

Dabei handelt es sich nicht um Einfamilien­häuser, sondern um dichte, städtische Siedlungen mit grossen Pärken, sozial durchmischt und mit allem, was es im Alltag so braucht. 80 Prozent der Bewohner sind heute kleine Kapitalisten, die aber nur eine geförderte Wohnung besitzen dürfen, für 99 Jahre.

Wien, beliebt und berüchtigt für seine freundliche Unfreundlichkeit, ist seit über 100 Jahren geradezu sprichwörtlich eingebettet. Sozialistische Regierungen haben den Anteil städtischer gemein­nütziger und genossenschaftlicher Wohnungen kontinuierlich auf 60 Prozent gesteigert. Bis heute ist das «Wiener Modell» resistent. Keine Regierung hat sich je getraut, etwas daran zu verbiegen. Die alten und neuen Siedlungen sind oft innovativ, Städte in der Stadt, sozial heterogen und gut versorgt. Selbst das Stadt­magazin «Monocle», spezialisiert auf gehobene Lebens­stile, empfiehlt seiner Klientel, sich in Wien einzunisten.

… und auch nicht

Nun existieren Ideale, wie erwähnt, nicht wirklich. In Wien wird kollektiv über undurchsichtige Verteilungs­verfahren von Wohnungen gemeckert. Und ohne Ausländerinnen wäre auch Wien ein Dorf. Seit längerem finden neu Zugewanderte keine Wohnung. Die Stadt kann auf dem privaten Restmarkt keinen Boden kaufen, weil er schlicht zu teuer ist. Nun laboriert die Regierung mit Bodensteuer­modellen und Mehrwert­abschöpfungen.

Singapur hat neben dem erwähnten auch einen anderen Ruf: «Ein Disneyland mit Todes­strafe», wie der Science-Fiction-Autor William Gibson sagte. Das trifft insofern zu, als das geförderte Wohn­eigentum in den paradiesischen Stadt­oasen zwar mit hohem Gewinn verkauft werden darf, dieser aber der Alters­versorgung dienen muss, weil der Staat keine vorsieht. Die Klein­kapitalisten gewinnen also Geld, verlieren aber ihre Wohnung und stehen auf der Strasse. Allenfalls finden sie etwas Billiges im Nirgendwo. Nun hadert die Regierung mit ihrem Erfolgs­modell, das auch zu massiver «Verteuerung nach innen» geführt hat, und überlegt sich neue Regulierungen.

Bei allen Unterschieden – das Ideal vom «Wohnen für alle» wird vom gleichen Problem eingeholt: Im Kern dreht sich die Wohnungs­frage nicht um Wohnungen, sondern um den Boden. Wem gehört er? Wäre er wie Luft, gehörte er allen – das war das Ideal von Marx und Engels. Markt­konform ergeben verzinste Baukosten und verzinste Boden­preise den Mietpreis. Der Boden­anteil ist in den Städten evident. Wäre der Boden wie Luft, würden die Mietpreise schrumpfen, auf einen Drittel bis die Hälfte.

Was nun?

Nun zeichnet sich in der Schweiz ein Ende vom Ersatzbau-Boom ab (wie schon einmal Anfang der 1990er-Jahre). Billiges Geld wird Investorinnen nicht mehr nachgeworfen. Der Hypothekar­zins tendiert zur Verdreifachung, wahrscheinlich steigt er bald noch weiter. Die höheren Zinsen einfach auf die Miete zu schlagen, ist unrealistisch. Das wissen auch die Pensions­kassen und Börsen­profis; sie steigen aus Immobilien­fonds aus. Wenn also Bund, Kantone und Stadt­regierungen die «Verdichtung nach innen» weiter­verfolgen wollen und müssen, dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nach anderen Möglichkeiten zu suchen.

Zum Beispiel: «Wohnen für alle» in Zürich? Das Glas ist halb leer, halb voll: Rund ein Viertel sind städtische und genossenschaftliche Wohnungen – immerhin, aber besser wäre die Hälfte. Oder wäre eine Umverteilung die Lösung?

Mehr Fläche beanspruchen vor allem Einzel­personen und Wohlhabende. Ideal wäre es also, wenn die Belegung umverteilt würde. Eine Person mit vier Zimmern tauscht diese beispielsweise gegen zwei Zimmer, die mehrere Personen bewohnt haben. Es gibt Plattformen, die solchen Tausch­handel erprobt haben – mit geringem Erfolg. Wer über Pfründen verfügt, bleibt offenbar auf ihnen hocken und ist mit ihnen verwurzelt.

Umverteilungen werden zwar bei genossenschaftlichen und den städtischen Verwaltungen teilweise praktiziert – sie sind in der Gesamt­bilanz aber marginal. Eine theoretische Lösung des Problems müsste wohl erscheinen wie eine Variante von Tucholskys Tagtraum, wenn er aus seinem Penthouse im Lochergut schauen würde: «Vorn die Stadt, hinten die Villen­landschaft mit Wohn­gemeinschaften.»

Unsichtbare Nachverdichtung

Zürich ist heute rund dreimal weniger dicht bevölkert als Genf und zweimal weniger als Basel. Da könnte man annehmen: Eine Nach­verdichtung wäre in Genf und Basel allenfalls ein Problem – aber doch nicht in Zürich. So einfach ist es aber nicht, denn Städte zeichnen sich dadurch aus, dass sie verschieden sind. Allerdings hat die geringe Zürcher Dichte nicht mehr Pärke zur Folge. Im Gegenteil. Zürich ist beim Park-Ranking weit abgehängt, wenn auch nicht augenfällig, da viele Gärten privat sind.

Leipzig gilt als «perforierte Stadt». Mit dem Nach­verdichten wurde gleichzeitig entdichtet – für Freiräume, Pärke, Höfe. Paris ist mit fast nur Hofbebauungen dichter als Tokio mit fast nur Hoch­häusern, die, das ist hinlänglich nachgewiesen, kein probates Mittel für die «Verdichtung nach innen» sind.

Spezifisch für Zürich ist die Frage: Kann die Stadt sich so nachverdichten, dass es fast niemand merkt – eine Art unsichtbare Verdichtung?

Eine Untersuchung des Zürcher Energie­unternehmens Energie 360° hat ergeben, dass brachliegende Flach­dächer von über drei Millionen Quadrat­metern zur Verfügung stehen. Würden diese bloss einstöckig belegt, entstünden rund 50’000 mittel­grosse Wohnungen, bestückt mit Solar­panels und urban gardens – zusammen ein grünes Sonnen­kraftwerk.

Natürlich eignet sich nicht jedes Flachdach dazu, aber die meisten. In Holland, London und seit langem in Belgrad sind solche Aufbauten Standard. Leichtbau­module aus Holz, abgestützt auf den Aussen­mauern oder gestelzt auf Säulen. Zudem gibt es weiteres Potenzial im Bestand – Lücken­schliessungen, Anbauten, Umnutzungen von Büros und so weiter.

Das Potenzial der fast unsichtbaren Mikro­verdichtungen beläuft sich nach einer groben Schätzung auf rund 150’000 Wohnungen. Eine genauere Analyse für diese Möglichkeit fehlt noch. Jedenfalls wäre sie aussichts­reicher als 3000 neue Hoch­häuser mit gleich vielen Wohnungen, auch städtebaulich attraktiver und bräuchte dreimal weniger graue Energie als immer gleiche Immobilien­gestelle.

Mikroverdichtung und Baukostenmiete

Nun, die Menge allein macht es nicht. Man könnte etwa mit Sondernutzungs­plänen Folgendes vereinbaren: Eine Aufstockung und andere Mikro­verdichtungen werden bewilligt, wenn dafür eine Baukosten­miete kalkuliert wird. Diese ist evident tiefer als die Kosten­miete, weil der Boden als Mietpreis­anteil wegfällt. Das rechnet sich auch als Geschäfts­modell, weil kein Boden zugekauft werden muss, aber die Baukosten verzinst werden.

Damit wären an städtischen Lagen die Mieten von 150’000 Wohnungen um einen Drittel oder die Hälfte tiefer als üblich. Das wären dann – rechnet man den städtischen und genossenschaftlichen Bestand dazu – insgesamt knapp 400’000 Wohnungen (heute sind es rund 230’000). Fast wienerische Verhältnisse. Oder ein Zürcher Modell – auch weit entfernt von einem Ideal?

Zum Autor und zu diesem Text

Ernst Hubeli ist Architekt, Stadtplaner und Mitinhaber des Büros Herczog Hubeli in Zürich, das sich seit vielen Jahren mit Bauten und Projekten an den Nahtstellen von Urbanismus, Architektur und Kultur­politik befasst. Er war Leiter des Instituts für Städtebau an der TU Graz und von 1982 bis 2000 Chefredaktor der Schweizer Architektur­zeitschrift «werk, bauen + wohnen».

Dieser Text beruht zu Teilen auf einer Buch­publikation des Autors. Ernst Hubeli: «Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert». Rotpunkt­verlag, Zürich 2019. 192 Seiten, ca. 20 Franken.

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