Die Menschen können nur noch wenige hundert Dollar im Monat abheben: Beirut im Juni 2023.

Der Banker der Kleptokraten

Im Libanon machen viele Riad Salameh für die aktuelle Wirtschaftskrise verantwortlich. Die Schweiz und andere europäische Länder ermitteln gegen ihn. Was, wenn der mächtige Zentralbank­chef verurteilt wird?

Von Meret Michel (Text) und Myriam Boulos (Bilder), 21.06.2023

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Vorgelesen von Jonas Gygax
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In den ersten Monaten der Wirtschaftskrise wurde dem libanesischen Online-Magazin Daraj Media ein brisantes Dokument zugespielt. Der Inhalt: Screen­shots von Konto­auszügen sowie weitere detaillierte Informationen über das Vermögen des libanesischen Zentralbank­chefs Riad Salameh. Insgesamt soll sich dieses auf rund 2 Milliarden Dollar belaufen. Eine verdächtig hohe Zahl für einen, der offiziell nicht mehr als seinen Lohn vom Staat verdient.

Seit drei Jahrzehnten steht Riad Salameh der libanesischen Zentralbank Banque du Liban vor. Lange Zeit war er kaum umstritten. Er galt mit seiner Wirtschafts­politik als stabiler Anker in einem Land, das regelmässig von politischen Krisen erschüttert wird. Auch Alia Ibrahim, Geschäfts­führerin von Daraj Media, sagt: «Er war nicht auf unserem Radar.»

Das System Salameh brach im Herbst 2019 zusammen. Hundert­tausende demonstrierten in jenen Wochen im ganzen Libanon gegen Korruption und Misswirtschaft der herrschenden Elite. Am zweiten Tag der Proteste schlossen die Banken. Zwei Wochen später gingen sie wieder auf. Nur, ab jetzt konnten die Menschen nur noch wenige hundert Dollar im Monat abheben. Es war der Anfang einer Wirtschafts­krise, die das Leben im Libanon so schnell und tiefgreifend verändern würde wie zuvor nur der Bürger­krieg zwischen 1975 und 1990.

«Betrüger Riad Salameh vor Gericht»: Ein Prozess gegen den libanesischen Zentralbankchef wäre ein Meilen­stein.

Heute laufen in fünf europäischen Ländern Ermittlungen gegen den Zentralbank­chef: in Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Liechtenstein – und der Schweiz. Hier ermittelt die Bundes­anwaltschaft seit 2020 wegen Verdachts auf Geldwäscherei gegen ihn, seinen Bruder und seine Assistentin. Auch die Finanzmarkt­aufsicht Finma ist aktiv geworden. Bei zwölf Banken machte sie Abklärungen. Gegen zwei hat sie inzwischen eine Untersuchung eingeleitet. In Frankreich hat die Justiz einen Haftbefehl gegen Riad Salameh erlassen, nachdem dieser nicht zu seiner Anhörung in Paris am 16. Mai erschienen war.

Der Vorwurf: Zwischen 2002 und 2015 sollen mehr als 300 Millionen US-Dollar von der libanesischen Zentralbank über eine Offshore-Firma auf Konten bei mehreren Schweizer Banken transferiert worden sein. Rund 250 Millionen wurden auf ein Konto der HSBC in Genf einbezahlt, das Raja Salameh gehört – dem Bruder des Zentralbank­chefs.

Der Fall wirft kein gutes Licht auf die involvierten Schweizer Banken. «Es ist ein Desaster», sagt die Compliance-Expertin Monika Roth. «Der Fall zeigt, dass manche Banken offenbar bewusst wegschauen und ohne Skrupel die Geldwäscherei­prävention unterlaufen.» Der Skandal sei nicht nur wegen der hohen Geldsummen gross, so Roth, sondern weil die Regeln klar seien – und dennoch bewusst gegen sie verstossen wurde.

Doch die Geschichte von Riad Salameh ist grösser als Korruption und Geld­wäscherei. Es geht darum, wie Gier gepaart mit Macht ein Land in den Abgrund reissen kann. Riad Salameh war kein Gangster, der im Untergrund seine Geschäfte macht. Er ist eine zentrale Figur in der libanesischen Kleptokratie: Er ist ihr Banker.

Ein Prozess gegen ihn wäre ein Meilen­stein. Die Libanesinnen haben Jahrzehnte des Kriegs erlebt, Attentate auf hochrangige Politiker, Aktivistinnen, Journalisten – ohne dass jemals ein politisch Verantwortlicher zur Rechenschaft gezogen wurde. Nun gibt es zum ersten Mal eine realistische Chance, dass einer aus der ersten Reihe verurteilt wird.

«Wir sprechen davon, dass die Leute die Ersparnisse ihres ganzen Lebens verloren haben», sagt Alia Ibrahim. «Jemand muss dafür den Preis bezahlen.»

Banking outside the box

Die Geschäfts­führerin von Daraj Media sitzt in ihrem Büro im Norden der libanesischen Hauptstadt Beirut. Vor kurzem ist das Online-Magazin umgezogen. Sie hat kaum noch Zeit, selbst zu recherchieren. Nur über ein Thema hat sie in den letzten Jahren regelmässig geschrieben: Riad Salameh.

Alia Ibrahim gründete Daraj Media 2016 zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen. Davor hatte sie ausgiebig über die arabischen Revolutionen und deren Folgen berichtet, war nach Tunesien, Libyen, Syrien und in den Jemen gereist. Das Problem der arabischen Medien, sagt sie, sei, dass die meisten von ihnen Politikern gehörten oder Geschäfts­männern, die Parteien oder Regimes nahe­stehen. Die Hof­berichterstattung, die viele libanesische TV-Sender bis heute über Riad Salameh betrieben, sei dafür ein gutes Beispiel. «Wir wollten ein Medium gründen, das ganz den Journalisten gehört.»

Ibrahim ist eine von rund einem Dutzend Personen, mit denen die Republik in den vergangenen Wochen in Beirut gesprochen hat – Journalistinnen, Anwälte, Aktivistinnen, Politiker. Sie alle setzen sich dafür ein, dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird für diese Wirtschafts­krise, die die Mehrheit der Menschen im Libanon in die Armut gestürzt hat.

Von ihnen wollten wir wissen: Was bedeutet es für den Libanon, wenn Riad Salameh nun tatsächlich der Prozess gemacht wird?

Als Daraj Media jenes Dokument über das Vermögen Salamehs zugespielt wurde, war dies der Start­schuss für eine Recherche, die bis heute andauert. Wochenlang versuchten die Journalistinnen, das Geflecht aus Offshore-Firmen und Bank­konten aufzuschlüsseln, das Riad Salameh und seine Entourage geschaffen hatten. Sie fanden Immobilien in Paris und London, die der Zentralbank­chef gekauft hatte. Zum Beispiel eine Wohnung für 4,1 Millionen US-Dollar nahe der Royal Albert Hall und mit Sicht auf den Hyde Park in der britischen Haupt­stadt.

«Der wichtigste Regulator war der korrupteste von allen»: Alia Ibrahim, Co-Gründerin von Daraj Media.

Mit der Recherche wurde Ibrahim nicht nur klar, welches Jetset-Leben der Zentralbank­chef all die Jahre geführt haben muss – sondern auch, welch zentrale Rolle er innerhalb der libanesischen Politik inne­hatte. Er war nicht einfach ein Rad im Getriebe. Er hatte das System miterschaffen, dessen Kollaps einen Grossteil der Menschen im Land in die Armut stürzte. «Wirtschaftlich gesehen hat nichts Sinn ergeben», sagt Ibrahim. «Der wichtigste Regulator war der korrupteste von allen.»

Manchmal fragt sie sich, warum sie die Zeichen nicht früher gesehen hat. Zum Beispiel, als sie 2016 im Zentrum Beiruts eine riesige Konferenz für libanesische Start-ups besuchte, 9 Bühnen, über 20’000 Teilnehmerinnen und Gäste wie der Apple-Mitgründer Steve Wozniak. Damals war ihr neu gegründetes Online-Magazin auf der Suche nach Investoren. Doch ein ungutes Gefühl hielt Ibrahim von einer Bewerbung um Finanzierung ab.

Die Konferenz war Teil einer Initiative der Zentral­bank, die aus dem Libanon ein neues Silicon Valley machen wollte. Dafür hatte Riad Salameh 2013 beschlossen, Banken, die einen kleinen Prozent­satz ihres Kapitals in Start-ups investierten, mit hohen Zinsen auf Staats­anleihen zu belohnen. Ein gutes Geschäft für die Banken. Und ein ungewöhnlicher Schritt für eine Zentralbank, deren Aufgaben­bereich eigentlich auf Währungs- und Geld­politik beschränkt sein sollte.

Die libanesische Zentralbank aber fand einen schmissigen Begriff dafür: «Banking outside the box».

Der Ausdruck ist bezeichnend für die Illusion, die Riad Salameh geschaffen hat. Bis vor wenigen Jahren galt der Libanon und vor allem sein Banken­platz als ökonomisches Wunder, das politischen Krisen und Kriegen trotzte. Dafür krönte ein Branchen­magazin Riad Salameh 2009 zum Zentralbanker des Jahres.

Kein Strom für den Kühlschrank

Es war der damalige Minister­präsident Rafiq Hariri, der Riad Salameh 1993 als Zentralbank­chef einsetzte. Salameh sollte Hariris Vision umsetzen, die dieser nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 hatte: Der Libanon sollte wieder zu dem Finanz- und Tourismus­hub werden, der er vor dem Krieg gewesen ist. Dazu wurde das libanesische Pfund mit einem fixen Wechsel­kurs an den Dollar gebunden, um Vertrauen von Investoren in die Stabilität der libanesischen Wirtschaft zu schaffen.

Doch das System funktioniert nur, wenn genügend Dollars ins Land fliessen: im Fall des Libanon mit Touristinnen, über Investitionen in den Bau von Luxus­hochhäusern in Beirut und über reiche Leute, die ihr Geld auf libanesischen Konten anlegen. Doch nach Ausbruch des Bürger­kriegs im angrenzenden Syrien 2011 kamen kaum noch Touristen in den Libanon. Die Stellvertreter­kriege zwischen Saudi­arabien und dem Iran führten dazu, dass viele Investorinnen aus den Golf­staaten ihr Geld wegen der Präsenz der Iran-nahen Hizbollah-Miliz nicht in Beirut investierten. Und spätestens 2017, als der damals amtierende libanesische Minister­präsident Saad Hariri in Saudi­arabien festgehalten und zum Rücktritt gezwungen wurde, verloren viele Anleger das Vertrauen und zogen ihr Geld von Beiruts Banken ab.

Wer im Libanon Ersparnisse auf einem Konto hatte, verlor alles: Bankfassade in der Hauptstadt.
«Riad, geht es dir gut?»: Graffito an der Wand einer Bank.
«Schluss mit der Herrschaft der Banken»: Tag am Trottoirrand.

Als Gegenmassnahme setzte Zentralbank­chef Salameh auf jenes Spiel, das später selbst die Weltbank als «Ponzi scheme» bezeichnete: Der Begriff meint ein Betrugs­system, bei dem Anlegerinnen mit exorbitanten Zinsen angelockt werden, die wiederum aus potenziellen zukünftigen Investitionen bezahlt werden. Im Libanon gab der Zentralbank­chef Staats­anleihen zu rekord­hohen Zinsen an die Banken aus, die Banken gaben die hohen Zinsen weiter an neue Anleger mit Dollar­konten. Banking outside the box. Doch die Zinsen frassen die Reserven der Zentralbank auf und jene der Banken. Als dennoch immer weniger Dollars ins Land kamen und die Banken schliesslich im Herbst 2019 mit einem Anleger­sturm rechnen mussten, kollabierte das System.

Den Preis bezahlen die Libanesinnen, die ihre Ersparnisse auf der Bank hatten – und mit dem Kollaps alles verloren. «Wenn du die Sprach­nachrichten hören würdest, die wir erhalten», sagt Fouad Debs, ein libanesischer Anwalt. «Sie haben die Leute zerstört.» Er scrollt durch sein Smartphone, um zu zeigen, wie viele geprellte Sparer ihm jeden Tag schreiben. «Manche Leute duschen nicht mehr, weil sie es sich nicht leisten können, das Wasser zu heizen», sagt er. «Sie haben kein Essen mehr zu Hause, weil sie sich den Generator nicht leisten können, um den Kühl­schrank zu betreiben.»

Fouad Debs hat Politik und Recht in Beirut und New York studiert, inzwischen besitzt er einen amerikanischen Pass. Er tat das, was schon vor der Krise viele Libanesinnen taten: Debs sorgte dafür, dass er im Zweifelsfall auch ausserhalb des Libanon eine Existenz haben würde. Diese Vorsorge ist heute mit ein Grund, warum der 35-Jährige bleibt: Er möchte jenen beistehen, die nicht dieselbe Möglichkeit haben wie er. «Zu sehen, was meinem Land gerade zustösst, ohne hier zu sein, würde mich umbringen.»

2019 hat Debs zusammen mit anderen die «Gewerkschaft der Sparer» gegründet. Sie klagen gegen Banken, um die Ersparnisse Einzelner herauszukriegen – denn die Kapital­kontrollen seien ohne gesetzliche Grundlage und damit illegal, so Debs. Sie lobbyieren bei Botschaften verschiedener Länder dafür, dass die Verursacher der Krise – die herrschende Elite im Libanon – zu personae non gratae erklärt werden. Und jeden Tag beantwortet Debs Fragen von Sparerinnen, telefoniert er mit verzweifelten Menschen.

«Die Reichen kaufen sich ihr Recht einfach»: Fouad Debs von der «Gewerkschaft der Sparer».

«Es ist frustrierend, weil so viele Bemühungen ins Leere laufen», sagt er. «Es macht wütend. Das ist es, was sie kreiert haben: eine unglückliche, deprimierte, wütende Bevölkerung. Das passiert, wenn es keine Gerechtigkeit gibt.»

Wie gross die Verzweiflung inzwischen ist, wurde vergangenes Jahr besonders deutlich. Damals kam es zu einer Serie von Bank­überfällen, bei denen Konto­inhaberinnen in Bank­filialen eindrangen, um die Herausgabe ihrer eigenen Ersparnisse zu erzwingen.

Da war etwa Sali Hafez. Im Herbst 2022 ging ein Video viral, das zeigte, wie die 28-Jährige mit einer echt wirkenden Spielzeug­pistole in eine Filiale eindrang. Laut Augen­zeugen übergoss sie sich mit Benzin und drohte, sich anzuzünden. Ihre Schwester war an Krebs erkrankt, Hafez wollte an ihr Geld, um für die Behandlung bezahlen zu können.

Ein anderer war Bassam Sheikh Hussein, der über Stunden mehrere Bank­angestellte als Geiseln festhielt, während ihm draussen eine Menschen­menge zujubelte und ein Restaurant Essen in die Bank schickte.

Um sich gegen die Wut der Menschen zu schützen, sind die Eingänge vieler Bank­filialen heute mit Stahl­platten abgeriegelt, als wären sie Gefängnisse.

Die Bank­überfälle sind für viele der letzte Ausweg, nachdem alle anderen Bemühungen, das eigene Geld von den Banken heraus­zubekommen, ins Leere gelaufen sind. Rund 400 Klagen hat die Sparer­gewerkschaft seit 2019 eingereicht, die meisten blieben bis heute ohne Antwort.

Klagen gegen Banken wanderten oft «in die Schublade», sagt Debs, denn viele Richter seien korrupt und stünden einer der herrschenden Parteien nahe. Die Einmischung der Politik in die Justiz zeigt sich im Fall Riad Salameh besonders deutlich: Anfang Mai erst wurde die Richterin Ghada Aoun entlassen. Sie galt als eine der wenigen, die zumindest die Unter­suchungen gegen den Zentralbank­chef nicht blockierten, sondern, im Gegenteil, vorantrieben.

«Einlagendiebe»: Die libanesischen Bankhäuser ziehen den Zorn der Bevölkerung auf sich.

Hinzu kommen die Folgen der Krise: Ein Richter, der vor der Krise umgerechnet 3000 Dollar verdiente, bekommt heute wegen der Inflation noch 60 Dollar. 2022 streikten die Richterinnen während Monaten, die meisten Gerichte blieben geschlossen. Der faktische Kollaps der Justiz hat weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft: «Es sind die armen Leute, die für Gerechtigkeit auf Gerichte angewiesen sind», sagt Debs. «Die Reichen kaufen sich ihr Recht einfach.»

Wenn einer fällt

Das Büro von Tarek Ammar liegt direkt gegenüber der Zentral­bank. Die grossen Fenster im Erdgeschoss der Bank sind vergittert, der Eingang ist mit einer Stahl­platte geschützt. Jeden Tag sieht Ammar Lastwagen hin- und wegfahren, gefüllt mit Libanesische-Pfund-Noten, die die Zentral­bank drucken lässt und so die Inflation weiter anheizt. «Wenn ich die Angestellten sehe, die das Geld hin- und hertragen, während ihr Monats­lohn nur etwa 30 Dollar beträgt, macht mich das krank», sagt Ammar.

Er hatte den libanesischen Banken schon früher nicht getraut und sein Geld stets ausserhalb des Libanon angelegt. Der Mittfünfziger hatte, wie Hundert­tausende andere Libanesen seiner Generation, jahrelang in den arabischen Golfstaaten gearbeitet. Viele seiner Freunde hätten jetzt, kurz vor der Rente, all ihre Ersparnisse verloren. «Wir haben hier keine Sozial­versicherung und kaum eine Rente wie in Europa», sagt Ammar. «Ich weiss, wie schwer es ist, Geld zu sparen, nur um eine Zukunft zu haben. Und dann wird alles gestohlen.»

Als 2019 die Massen­demonstrationen begannen, war er jeden Tag auf der Strasse. «Uns war von Anfang an klar, dass wir handeln mussten, um die Ersparnisse der Menschen zu schützen», sagt Ammar, der seit Jahrzehnten politisch aktiv ist. 2016 hatte er Beirut Madinati mitgegründet, die erste einer Reihe politischer Parteien, die in den letzten Jahren als Alternative zum politischen Establishment entstanden sind.

«Wenn Salameh fällt, fallen andere mit ihm»: Tarek Ammar, Co-Gründer der Partei Beirut Madinati.

In jenem Herbst 2019 kursierten Gerüchte, dass reiche und einflussreiche Personen ihr Geld aus dem Land transferierten – während das für normal­sterbliche Bürgerinnen nicht möglich war. So soll Riad Salamehs Sohn Nady 6,5 Millionen US-Dollar ins Ausland verschoben haben. Insgesamt seien wohl rund 6 Milliarden US-Dollar aus dem Land geschmuggelt worden, schätzte der frühere General­direktor des Wirtschafts­ministeriums Alain Bifani im Juni 2020.

Zusammen mit anderen Organisationen schrieben die Mitglieder von Beirut Madinati schliesslich einen Brief an die Schweizer Regierung. Denn ein Teil dieses Geldes, so vermuteten damals viele, könnte in der Schweiz gelandet sein. Sie forderten den Bundesrat auf, Vermögen von politisch exponierten Personen auf Schweizer Konten zu sperren, und beriefen sich dabei auf das Gesetz, das die Sperrung von Potentaten­geldern ermöglicht.

Sie erhielten eine Absage. In seiner Antwort an die libanesische Partei stellte der Bund sich auf den Stand­punkt, die Bedingungen für eine Sperrung seien nicht erfüllt. «Die Schweiz antwortete uns, dass sie eine offizielle Anfrage der libanesischen Regierung bräuchten», sagt Tarek Ammar. «Dabei ist es die Regierung, die uns ausraubt.» Eine ähnliche Antwort erhielt auch der SP-Nationalrat Fabian Molina, als er im Frühling 2020 vom Bundesrat wissen wollte, wie dieser sich zu den Geldern politisch exponierter Personen aus dem Libanon auf Schweizer Bank­konten stelle.

Der Bundesrat, der die Kompetenz hätte, ohne Rechtshilfe­gesuch der libanesischen Behörden Gelder politisch exponierter Personen zu sperren, wurde nicht aktiv. Doch nachdem die Bundes­anwaltschaft 2020 aufgrund einer Verdachts­meldung durch eine Genfer Bank Ermittlungen eingeleitet hatte, folgten später auch Unter­suchungen in Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Liechtenstein.

Wenn Ammar über die Ermittlungen und den anstehenden Prozess in Frankreich gegen Riad Salameh spricht, klingt er beinahe optimistisch: «Wenn Salameh fällt, fallen andere mit ihm.» Denn der Zentralbank­chef hat vermutlich nicht nur zu jeder einfluss­reichen Person eine Geschichte über korrupte Geschäfte in der Hand – sondern auch die Dokumente, um sie zu belegen.

Doch das sei auch das grösste Hindernis für eine Verurteilung Salamehs: Der Libanon, ist Ammar überzeugt, werde den Zentralbank­chef nicht ausliefern. Die herrschende Elite habe Angst vor diesem Prozess, Angst, dass Salameh vor Gericht auspacken und andere mit in den Abgrund ziehen könnte. «Ich denke, Riad Salameh wird eher getötet werden, als dass er verurteilt wird», sagt Tarek Ammar. «Ich wäre glücklich darüber. Er muss bestraft werden. Aber natürlich wäre es mir lieber, er würde verurteilt.»

In diesen Worten spiegelt sich, was früher oder später viele Gesprächs­partner als Antrieb nennen: Wut. «Es gibt noch Dinge, um die es sich zu kämpfen lohnt. Die verbleibenden Geld­reserven, der Staats­besitz», sagt Nizar Ghanem vom Alternativ­medium «Badil», das nach 2019 entstanden ist. «Aber vor allem geht es darum, die Verantwortlichen zu bestrafen. Es geht um Rache.»

Dass ihr Kampf nicht mit Riad Salameh endet, zeigt ein aktueller Bericht von «Badil». Darin werden Aktionäre der grössten libanesischen Banken, von denen viele selbst hochrangige Politiker sind, beim Namen genannt. «Damit jemand im Ausland zumindest zweimal überlegt, ob er diesen Personen ein Darlehen geben will oder nicht.»

Nachdem Frankreich den Haftbefehl gegen Salameh erlassen hatte, forderte der libanesische Interims­vizepräsident Saade Shami den Zentralbank­chef zum Rücktritt auf. Salameh, dessen Amtszeit im Juli endet, hatte bereits davor angekündigt, nicht mehr anzutreten. Gegen den Haftbefehl will er Beschwerde einreichen.

«Salameh ist nicht dumm», so Tarek Ammar. «Er weiss, das hier ist kein Spiel. Es geht um sein Leben.»

Eine Bankfiliale sichert sich gegen wütende Sparer ab: Überwachungskamera, Gitter, Stahlrollladen.

Zur Autorin und zur Fotografin

Meret Michel ist freie Journalistin und lebt in Beirut und Bern. Ihre Beirut-Reportage für die Republik, «Das Haus am Krater», wurde mit dem Real21-Medienpreis ausgezeichnet. Die Fotografin Myriam Boulos ist im Libanon geboren und lebt in Beirut. Sie arbeitet für die Bildagentur Magnum.

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