Serie zum feministischen Streik – Folge 6

Aus «Burning Desires 11», Zürich, 2022. Entstanden für «Femal Views for Fujifilm Switzerland».

Ich fordere, Werk und Künstler zusammen­zudenken

Die Vorwürfe rund um die Band Rammstein verleihen einer alten Frage neue Brisanz: Wie umgehen mit der Kunst problematischer Männer? Serie zum feministischen Streik, Folge 6.

Von Ronja Beck (Text) und Johanna Hullár (Bild), 17.06.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Was über Menschen gesagt wird, ist oft gar nicht so wichtig. Was nicht gesagt wird, dort liegt das Gold vergraben.

Ich habe vier Jahre lang Kunst­geschichte studiert. Dass Pablo Picasso Frauen verachtete, erfuhr ich auf Netflix. Immerhin durch ein:e Kunst­historiker:in.

Im viel gepriesenen Stand-up-Special «Nanette» von 2018 erzählt Hannah Gadsby, was Gadsby von Picasso hält: nichts. «Ich hasse Picasso!», brüllt Gadsby immer wieder von der Bühne und erklärt das unter anderem mit einem Zitat des Künstlers: «Immer, wenn ich eine Frau verlasse, sollte ich sie verbrennen. Zerstört man die Frau, zerstört man die Vergangenheit, für die sie steht.»

Pablo Picasso zählt zweifellos zu den künstlerischen Ikonen des 20. Jahr­hunderts. Ihm wurde und wird deshalb ein eigenwilliges Privileg zuteil, das in seinem Fall Gadsby nicht als erste Person, aber wohl als erste einer so breiten Masse aufzeigte: das Privileg des Nicht-Erinnerns. Und zwar dann, wenns ungemütlich wird.

Serie zum feministischen Streik

Es ist wichtig, Probleme zu benennen. Noch besser ist es, Lösungen zu präsentieren. In der Woche des feministischen Streiks stellen sechs Republik-Autorinnen konkrete Forderungen. Zur Übersicht.

Folge 3

Ich fordere eine fe­mi­ni­sti­sche In­ter­na­tio­na­le

Folge 4

Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen

Folge 5

Ich fordere die Ent­zau­be­rung der Klein­fa­mi­lie

Sie lesen: Folge 6

Ich fordere, Werk und Künstler zusammen­zudenken

Debatte

Was fordern Sie?

Wir denken nicht gerne daran, dass unsere Ikonen unsympathische, misogyne, straffällige Menschen sind oder waren. Kein Jahr nach seinem Prozess gegen die Schau­spielerin Amber Heard erhielt der Schauspieler Johnny Depp – den man per gerichtlichen Entscheid einen wife beater, also Frauen­schläger, nennen darf und dessen Misogynie längst kein Geheimnis mehr ist – siebenminütige Standing Ovations an den diesjährigen Film­festspielen in Cannes.

Es sind die immergleichen Wege, die zum Applaus führen: Entweder wird geleugnet – oder es wird getrennt. Das Werk ist vom Künstler zu trennen, heisst es dann. Wer dies nicht tut, ist Teil der angeblichen Cancel-Culture, also eines zensurwütigen Mobs, der die Meinungs- und Kunst­freiheit beschneiden oder gleich ganz abschaffen will, so geht die Erzählung.

Aus kunsthistorischer Sicht ist sie absurd. Es gibt gute Gründe, wieso man sich im Kunst­geschichte-Studium nicht nur durch Ausstellungen, sondern auch durch Archive und Bibliotheken schleppen muss.

Es sind dieselben Gründe, die mich überhaupt zur Kunst­geschichte trieben. Weil ich durch die Museen irrte und nichts verstand. Zu oft wusste ich nicht, unter welchen sozialen und politischen Umständen die Werke entstanden sind. Ich wusste nichts über die Künstler, darüber, wie sie dachten, wie sie arbeiteten, wie sie lebten. Ich musste den Kuratorinnen und den Besuchern, die sich vor ausgewählten Bildern auf die Füsse traten, blind vertrauen. Das war mir zu wenig.

Es gibt unter Kunst­betrachtenden wie Kunst­schaffenden solche, die finden, ein Werk müsse allein für sich stehen. Davon halte ich nichts. Für mich ist Kunst ein Code, den es zu knacken gilt. Die Schlagkraft eines Werkes verstehe ich oft erst, wenn ich das Künstler­leben halbwegs kenne. Was nicht heisst, dass Leben und Werk nicht auseinander­klaffen können. So war Pablo Picasso ein Misogyn, seiner Kunst sah man das jedoch oft nicht an, wie die feministische Kunst­historikerin Linda Nochlin schon vor vielen Jahren beschrieb. Auch dieses Wissen kann Kunst noch mal in ein anderes Licht rücken. Aus all dem Wissen wird Kunst eben Kunst und bleibt nicht nur schön anzusehen und der Museums­besuch nicht nur Schlechtwetter­programm, sondern, wenn man Glück hat, ein Erwachen. Manchmal auch ein grausiges.

Das Künstler­leben interessiert nicht nur im Vorlesungs­saal. Frida Kahlo, Truman Capote, Virginia Woolf, Vincent van Gogh, Tina Turner, Elvis Presley – ihre und viele weitere Biografien pressten grosse Film­studios in mal bessere, mal schlechtere Filme. Nicht nur an der Uni, sondern auch im Kino gehen dabei gerne mal die ungemütlichen Episoden verloren. Aber ungeachtet dessen interessiert es offensichtlich genügend Menschen, was für eine Geschichte hinter Bildern, Büchern, Liedern versteckt liegt.

Vor diesem Hinter­grund verkommt der Ruf nach Trennung von Kunst und Künstler zu einem löchrigen Rettungs­ring: lieber die Dinge ganz auseinander­halten, bevor es ungemütlich wird, lieber den Menschen vom Werk trennen, als sich der Komplexität unserer Welt zu stellen.

Die Trennung wird gerne auf ein juristisches Fundament gebastelt: Wieso Konsequenzen ziehen, wenn die Schuld­frage noch nicht verhandelt ist?

Ob nun Rammstein-Sänger Till Lindemann systematisch junge Frauen für Sex hat rekrutieren lassen, sie mitunter betäubt und missbraucht hat, wie ihm das seit Wochen zahlreiche Frauen vorwerfen, hat ja noch kein Gericht entschieden. Im Zweifel für den Angeklagten. Lindemann weist alle Vorwürfe zurück.

Diese Haltung nährt sich oft an einem sozialen Miss­stand: Bei Sexual­straftaten kommt es in den wenigsten Fällen zu Anzeigen, geschweige denn zu Verurteilungen. Im Fall von Ramm­stein ging mindestens ein mutmassliches Opfer zur Polizei, nämlich die Irin Shelby Lynn. Ende Mai hat Lynn auf Social Media ausführlich berichtet, wie sie vor dem Rammstein-Konzert in Vilnius zu einer Backstage-Party geladen wurde und einen, wie sie vermutet, mit Betäubungs­mitteln versetzten Drink vorgesetzt bekam. Während des Konzerts wurde sie dann für Sex mit Lindemann unter die Bühne geführt. Shelby Lynn lehnte ab, worauf der Sänger wütend geworden sein soll. Nach dem Konzert soll die Irin grosse Erinnerungs­lücken gehabt und sich sehr schlecht gefühlt haben. Ausserdem war ihr Körper gemäss Fotos voller blauer Flecken. Es war Lynns Bericht, der die jetzige Welle an ähnlichen oder schlimmeren Vorwürfen lostrat. Inzwischen ermittelt auch die Staats­anwaltschaft in Berlin gegen den Rammstein-Sänger.

Aber eben, ob das alles nun stimmt?

Falsche Anschuldigungen geschehen sehr selten. Sie können ebenfalls eine Straftat darstellen. Dass nun, wie die Autorin Margarete Stokowski pointiert schildert, auch für Opfer die Unschulds­vermutung zu gelten hat, geht beim Fundament-Giessen gerne vergessen.

Wenn dann Konzerte von Männern abgesagt, Biografien zurück­behalten, Verträge gekündigt werden, weil es um sie ungemütlich wird und man sich, aus was für Gründen auch immer, fürs Erinnern und Handeln entscheidet, sind die Warn­rufe so sicher wie laut: Achtung, freiheitliche Werte in Gefahr! Als wären wir in einem Abwehr­reflex gefangen, quittieren wir problematische Männer gerne mit Bühne und Applaus und verkaufen es als eine Verneigung vor unseren demokratischen Grund­sätzen.

Doch warum sollen wir uns an Verfehlungen und Straf­taten nicht erinnern dürfen? Und warum sollte das Erinnern folgenlos bleiben müssen, das Nicht-Erinnern aber mit Applaus belohnt werden?

Da ist zum Beispiel Roman Polanski. Der Regisseur gestand 1977 in einem Deal mit der US-Staats­anwaltschaft den Missbrauch einer 13-Jährigen ein, floh dann aber ins Ausland – aus Angst, dass der involvierte Richter den Deal bricht. 2009 sollte er am Zurich Film Festival den Preis für sein Lebenswerk erhalten, wäre er wegen eines internationalen Haftbefehls nicht noch am Zürcher Flughafen verhaftet worden. Der Polanski, der den Preis dann halt 2011 verliehen bekam. Roman Polanski, der 2020 den César, den französischen Oscar, erhielt für Beste Regie, nachdem ihm in den Jahren zuvor weitere Frauen Vergewaltigung vorgeworfen hatten. Und es war die Schau­spielerin Adèle Haenel, die bei genau jener César-Verleihung von ihrem Sitz aufsprang, «Schande!» rief und den Saal verliess. Die Haenel, die sich desillusioniert vor einem Jahr aus der Film­branche zurückzog, die sie als «absolut reaktionär, rassistisch und patriarchalisch» beschreibt.

Was bedeutet das für unsere freiheitlichen Werte?

Unser Weghören, unser Schweigen, unsere Tatenlosigkeit, das Nicht-Erinnern also, verhüllt im Deck­mäntelchen angeblich fairer Kunst­rezeption, es hat Folgen, die weit über eine Preis­verleihung hinaus­reichen. Am Ende müssen wir uns immer fragen:

Wer bleibt, wenn wir das Werk vom Künstler trennen, und wer geht?

Zur Fotografin

Die Bilder zur Serie zum feministischen Streik stammen von Johanna Hullár. Die gebürtige Budapesterin ist Fotografin und Video­künstlerin und lebt in Zürich. In ihrer Arbeit interessiert sich Hullár für «Verbindung, Intimität, Materialität, Zeit und Wahrnehmung», wie sie selber schreibt. Die Bilder hat Hullár für die Republik kuratiert, sie stammen aus diversen Projekten und Kollaborationen der Fotografin und sollen einen kunstvollen Blick auf Frauen­anliegen eröffnen – der natürlich auch viel Interpretations­spielraum lässt. Mehr zu Johanna Hullár gibt es auf ihrer Website.

Zur Debatte: Was fordern Sie?

Was muss sich für Sie in Sachen Gleich­stellung ändern? Warum ist Ihnen genau diese Forderung wichtig? Und was erhoffen Sie sich dadurch? Reden Sie mit und teilen Sie Ihre Forderungen mit der Republik-Community. Hier gehts zur Debatte.

Folge 3

Ich fordere eine fe­mi­ni­sti­sche In­ter­na­tio­na­le

Folge 4

Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen

Folge 5

Ich fordere die Ent­zau­be­rung der Klein­fa­mi­lie

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Ich fordere, Werk und Künstler zusammen­zudenken

Debatte

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