Am Gericht

Ein fataler Grenzübertritt

Ein Mann auf Diebeszug überquert aus Versehen eine Landes­grenze. Bestraft wird er von beiden Staaten – und das ungewöhnlich hart.

Von Anina Ritscher, 14.06.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 11:41

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In der Ostschweiz markiert der Rhein die Grenze zwischen der Schweiz und Liechtenstein. Wer das nicht weiss, kann kaum erkennen, dass der Fluss eine Trennlinie zwischen zwei Rechts­räumen darstellt. Diverse Fussgänger­brücken führen von einem Land ins andere. Kein Zollhaus, kein Grenz­posten ist dort zu sehen, nichts, was einer Spazier­gängerin anzeigen könnte, dass sie nun Schweizer Staats­gebiet verlässt.

Diese unscheinbare Grenze wurde einem Mann in St. Gallen zum Verhängnis, der nun schon seit sieben Jahren im Gefängnis sitzt.

Eigentlich kennt das Schweizer Strafrecht das Prinzip «Asperation statt Kumulation». Es wird in Artikel 49 des Strafgesetz­buchs festgehalten: «Hat der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraus­setzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt, so verurteilt ihn das Gericht zu der Strafe der schwersten Straftat und erhöht sie angemessen.» Es wird also eine Gesamt­strafe gebildet, die dann mit Zusatz­strafen erhöht wird.

Mit anderen Worten: Wer an zehn Tagen hinter­einander einen Diebstahl begeht, der kriegt nicht zehn einzelne Strafen aufgebrummt. Sonst könnte der Dieb schnell vierzig Jahre im Gefängnis sitzen, was nicht im Sinne des Straf­gesetzes wäre.

Doch das Bundes­gericht hat seine langjährige Praxis 2016 geändert und entschieden: Dieses Prinzip gilt künftig nicht für Straftaten im Ausland. Sobald eine Straftäterin eine Landes­grenze übertritt, fängt eine neue Grundlage für die Straf­zumessung an – auch wenn die Taten diesseits und jenseits der Grenze eng zusammen­hängen. Diese höchst­gerichtliche Praxis­änderung kann zu ungewöhnlich harten Urteilen führen, wie ein Fall aus St. Gallen zeigt.

Ort: Kantonsgericht St. Gallen
Zeit: 7. Juli 2021
Fall-Nr.: ST.2015.43313
Thema: Gewerbs- und banden­mässiger Diebstahl, mehrfache Sach­beschädigung, mehrfacher Hausfriedens­bruch

Preng Prendi sitzt mit gefalteten Händen am Tisch in einem Besucher­raum des Gefängnisses Cazis Tignez in der Nähe von Thusis. Es gilt als das modernste Gefängnis der Schweiz, Besucher werden per Iris-Scan erfasst. Prendi trägt ein burgunder­rotes T-Shirt und graue Jogging­hosen, so wie alle Häftlinge hier.

Der Insasse fühlt sich von der Schweizer Justiz ungerecht behandelt. «Menschen, die jemanden getötet haben, kommen früher raus als ich», sagt er. Prendi gesteht seine Taten vollumfänglich ein, und tatsächlich wiegt sein Verschulden weit weniger schwer als eine Tötung. Das sagen Gesetz und Recht­sprechung, es ist unumstrittener Konsens.

In den Jahren zwischen 2014 und 2016 bricht Prendi mit zwei Komplizen in Dutzende private Schweizer Haushalte ein. In diesen rund zwei Jahren reisen die drei quer durch die Schweiz.

Die Liegenschaften, in denen sie ihre Diebstähle verüben, liegen in Stäfa, Winterthur oder Estavayer-le-Lac. Die Männer klauen Diebesgut im Wert von mehreren hundert­tausend Franken, vieles davon verkaufen sie. Gewalt ist nie im Spiel, es kommt zu keiner Begegnung mit den Bestohlenen. «Wenn ich einen Ehering gesehen habe, habe ich den immer zurückgelegt», beteuert Prendi.

Das Gericht hält ihm später zugute, dass er nur dann einbrach, wenn kein Licht in den Häusern brannte.

Alles verloren

Prendi wuchs in Albanien auf, wo er eine Ausbildung zum Chauffeur absolvierte. Bereits als Teenager arbeitete er im Ausland, weil die Gehälter dort besser waren. Als Dreissig­jähriger war er in Spanien in einem Restaurant tätig. Viele seiner Kollegen kamen aus Albanien, so wie er. Einige von ihnen gerieten irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt. Die Polizei stellte auch Prendi unter Verdacht und setzte ihn in Untersuchungs­haft. Nach zwei Monaten wurden die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.

Obwohl er wieder freigekommen sei, erzählt er, habe er während der Haft alles verloren: seinen Job, seine Wohnung, sein Geld. Der Weg zurück ins Arbeits­leben gelang ihm nicht, und er wurde spielsüchtig. Schliesslich sah er in der Kriminalität den einzigen Weg, seinen Unterhalt zu bestreiten. Ab 2014 kam er zum Stehlen in die Schweiz.

Ein «Kriminal­tourist», wie das Gericht später feststellt.

An einem Novembertag 2016 wird Prendis Diebes­tour ein Ende gesetzt. Er ist zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Mit seinen Komplizen zieht er damals von Haus zu Haus, dieses Mal sind sie in der Ostschweiz unterwegs. Sie brechen in mehrere Häuser ein, stehlen Uhren, Perlen­ketten, Krawatten­nadeln und Bargeld. Im Laufe des Abends überqueren sie, das Diebesgut aus der Schweiz noch in den Taschen, eine Brücke.

Sie wissen nicht, dass sie in diesem Moment liechten­steinisches Staats­gebiet betreten. Sie waren diesen Weg schon in den Jahren zuvor einige Male gegangen.

Erste Station: Ein Gefängnis in der Nähe von Wien

Doch an diesem Tag kommen sie nicht weit. In Schaan werden sie von der Polizei auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Das Gericht in Vaduz verurteilt Prendi am 11. Mai 2017 zu sechseinhalb Jahren Freiheits­strafe. Die Anklage gegen alle drei lautet «gewerbs­mässiger schwerer Diebstahl», was voraus­setzt, dass die Diebstähle regelmässig und arbeits­teilig durchgeführt werden und dazu dienen, an ein Einkommen zu gelangen.

Der Straftat­bestand schliesst also ein, dass es sich um mehrere Einbrüche handelt.

Für den Vollzug wird Prendi in eine Haft­anstalt in der Nähe von Wien gebracht. In der Zwischen­zeit ermitteln auch die Schweizer Behörden und bringen Prendi in Zusammen­hang mit mehreren Einbrüchen auf hiesigem Staats­gebiet. Sie leiten ebenfalls ein Verfahren ein. Ende 2018 wird Prendi zur Einvernahme in die Schweiz geführt, Weihnachten verbringt er in Untersuchungs­haft. Nach zwei Monaten geht es zurück nach Wien, um die von Liechtenstein verhängte Strafe abzusitzen.

Das Kreisgericht in St. Gallen verurteilt Prendi wegen «banden- und gewerbs­mässigen Diebstahls» – begangen auf Schweizer Staats­gebiet im selben Zeitraum – zu weiteren fünf Jahren und drei Monaten Freiheits­strafe für die Delikte. Prendi legt Berufung ein, mit der Begründung, das Strafmass sei zu hoch angesetzt. Insbesondere, weil er vom Gericht in Vaduz bereits zu sechs­einhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war.

Im Ergebnis habe er elfeinhalb Jahre Freiheits­strafe erhalten für eine Tat, auf die sowohl in Liechtenstein als auch in der Schweiz eine Höchst­strafe von zehn Jahren gelte.

Die zweite Instanz, das Kantons­gericht, bestätigt in ihrem Entscheid: «Er wird zwar durch das Wechseln der Landes­grenze härter bestraft als ein Täter, der sämtliche Delikte in der Schweiz begangen hätte.» Die Richterinnen lehnen die Berufung trotzdem ab und verweisen auf ein umstrittenes Bundesgerichts­urteil aus dem Jahr 2016. Es wurde nur wenige Wochen vor Prendis Festnahme gefällt.

Eine höchst­richterliche Praxis­änderung

Dieser Entscheid bezieht sich auf einen Fall aus Basel, bei dem es um Diebstahl, Betäubungsmittel­delikte und «Fahren ohne Ausweis» ging. Das Bundes­gericht hält fest: «Die kantonalen Gerichte hätten für die in der Schweiz begangenen Straftaten die von ihnen hierfür als angemessen erachtete Gesamt­freiheits­strafe als eigenständige Strafe aussprechen müssen.»

Im wichtigsten Nachschlage­werk zum Schweizer Strafrecht, im «Basler Kommentar», wird betont, diese Praxis­änderung könne zu stossenden Ergebnissen führen und sei nicht überzeugend.

Und obwohl das Bundes­gericht damals einen Fall beurteilte, der sich mit Prendis Fall kaum vergleichen lässt, folgert das Kantons­gericht in St. Gallen prompt: «Die schweizerische Praxis zur Zusammen­fassung mehrerer Delikte zu einer Einheit gilt somit nur für das inländische Hoheits­gebiet und wirkt nicht über die Landes­grenzen hinaus.»

Dass Prendi gar nicht bemerkte, dass er sich in einem anderen Land befand und nicht vorsätzlich in mehreren Ländern Delikte begehen wollte, half ihm nicht: «Territoriale Fragen sind nicht Voraus­setzung für die Erfüllung der hier in Frage stehenden Tatbestände», so die Auffassung der St. Galler Kantons­richter.

Prendi spricht kaum Deutsch und kennt sich im Schweizer Rechts­system nicht aus. Das führt zu einem Missverständnis: Er ist der Auffassung, dass die Jahre, die er bereits im Gefängnis in Wien verbrachte, an seine Freiheits­strafe in der Schweiz angerechnet würden. Zudem ist der Gang vors Bundes­gericht langwierig und möglicherweise teuer. Prendi entschliesst sich darum dagegen – gemäss seinen Berechnungen würde er ja sowieso bald freikommen.

Zweite Station: Ein Gefängnis in Graubünden

Erst als er den rechtskräftigen Berufungs­entscheid des St. Galler Kantons­gerichts in Händen hält, wird ihm klar: Frühestens 2024 wird er aus dem Gefängnis entlassen.

Im April 2021 wird er vom österreichischen Gefängnis direkt nach Graubünden überstellt und tritt in Cazis Tignez seine zweite Freiheits­strafe an. Vom neuen Gefängnis aus gelangt er an Rechts­anwältin Angela Agostino, die seinen Fall erneut aufrollt und in St. Gallen ein Begnadigungs­gesuch einreicht.

Darin hält die Anwältin zur neuen höchst­richterlichen Praxis fest: «In den Fällen, die das Bundes­gericht zu beurteilen hatte, ging es (…) um komplett unterschiedliche Straftat­bestände und nicht um sachlich zusammen­hängende Ereignisse, die im Rahmen von Banden- und Gewerbs­mässigkeit von einem einzigen Vorsatz getragen wurden.»

Agostino ist der Auffassung, im Fall von Prendi bestünden gute Chancen, dass das Bundes­gericht anders geurteilt und seine bisherige Recht­sprechung präzisiert hätte. Wenn es den Fall hätte beurteilen können.

Zudem macht sie geltend, dass Prendi nur etwa halb so hart bestraft worden wäre, wenn er zunächst in der Schweiz und erst danach in Liechtenstein angeklagt worden wäre. Denn im Gegensatz zur Schweiz ist es in Liechtenstein möglich, zu ausländischen Urteilen eine Zusatz­strafe zu bilden, wie die Anwältin von einem liechten­steinischen Berufs­kollegen erfährt.

Das Begnadigungs­gesuch wird jedoch abgelehnt. Begründung: «Das Begnadigungs­verfahren dient nicht dazu, ein rechtskräftiges Urteil, gegen das ein ordentliches Rechts­mittel zur Verfügung stand, nachträglich zu überprüfen.»

Wenn für Prendi alles gut läuft, kann er 2024 auf Bewährung entlassen werden. Dann ist er 45 Jahre alt.

Nach fast zwei Stunden Gespräch holt ein Aufseher Prendi ab und bringt ihn zurück in seine Zelle. Er werde seinen Fall wohl nie ganz verstehen, sagt er zum Abschied. Und zuckt ratlos mit den Schultern.

Illustration: Till Lauer

Zur Autorin

Anina Ritscher ist freiberufliche Journalistin und lebt in Basel. Sie schreibt unter anderem für die deutsche Tages­zeitung TAZ und die WOZ.

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