Ein fataler Grenzübertritt
Ein Mann auf Diebeszug überquert aus Versehen eine Landesgrenze. Bestraft wird er von beiden Staaten – und das ungewöhnlich hart.
Von Anina Ritscher, 14.06.2023
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In der Ostschweiz markiert der Rhein die Grenze zwischen der Schweiz und Liechtenstein. Wer das nicht weiss, kann kaum erkennen, dass der Fluss eine Trennlinie zwischen zwei Rechtsräumen darstellt. Diverse Fussgängerbrücken führen von einem Land ins andere. Kein Zollhaus, kein Grenzposten ist dort zu sehen, nichts, was einer Spaziergängerin anzeigen könnte, dass sie nun Schweizer Staatsgebiet verlässt.
Diese unscheinbare Grenze wurde einem Mann in St. Gallen zum Verhängnis, der nun schon seit sieben Jahren im Gefängnis sitzt.
Eigentlich kennt das Schweizer Strafrecht das Prinzip «Asperation statt Kumulation». Es wird in Artikel 49 des Strafgesetzbuchs festgehalten: «Hat der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt, so verurteilt ihn das Gericht zu der Strafe der schwersten Straftat und erhöht sie angemessen.» Es wird also eine Gesamtstrafe gebildet, die dann mit Zusatzstrafen erhöht wird.
Mit anderen Worten: Wer an zehn Tagen hintereinander einen Diebstahl begeht, der kriegt nicht zehn einzelne Strafen aufgebrummt. Sonst könnte der Dieb schnell vierzig Jahre im Gefängnis sitzen, was nicht im Sinne des Strafgesetzes wäre.
Doch das Bundesgericht hat seine langjährige Praxis 2016 geändert und entschieden: Dieses Prinzip gilt künftig nicht für Straftaten im Ausland. Sobald eine Straftäterin eine Landesgrenze übertritt, fängt eine neue Grundlage für die Strafzumessung an – auch wenn die Taten diesseits und jenseits der Grenze eng zusammenhängen. Diese höchstgerichtliche Praxisänderung kann zu ungewöhnlich harten Urteilen führen, wie ein Fall aus St. Gallen zeigt.
Ort: Kantonsgericht St. Gallen
Zeit: 7. Juli 2021
Fall-Nr.: ST.2015.43313
Thema: Gewerbs- und bandenmässiger Diebstahl, mehrfache Sachbeschädigung, mehrfacher Hausfriedensbruch
Preng Prendi sitzt mit gefalteten Händen am Tisch in einem Besucherraum des Gefängnisses Cazis Tignez in der Nähe von Thusis. Es gilt als das modernste Gefängnis der Schweiz, Besucher werden per Iris-Scan erfasst. Prendi trägt ein burgunderrotes T-Shirt und graue Jogginghosen, so wie alle Häftlinge hier.
Der Insasse fühlt sich von der Schweizer Justiz ungerecht behandelt. «Menschen, die jemanden getötet haben, kommen früher raus als ich», sagt er. Prendi gesteht seine Taten vollumfänglich ein, und tatsächlich wiegt sein Verschulden weit weniger schwer als eine Tötung. Das sagen Gesetz und Rechtsprechung, es ist unumstrittener Konsens.
In den Jahren zwischen 2014 und 2016 bricht Prendi mit zwei Komplizen in Dutzende private Schweizer Haushalte ein. In diesen rund zwei Jahren reisen die drei quer durch die Schweiz.
Die Liegenschaften, in denen sie ihre Diebstähle verüben, liegen in Stäfa, Winterthur oder Estavayer-le-Lac. Die Männer klauen Diebesgut im Wert von mehreren hunderttausend Franken, vieles davon verkaufen sie. Gewalt ist nie im Spiel, es kommt zu keiner Begegnung mit den Bestohlenen. «Wenn ich einen Ehering gesehen habe, habe ich den immer zurückgelegt», beteuert Prendi.
Das Gericht hält ihm später zugute, dass er nur dann einbrach, wenn kein Licht in den Häusern brannte.
Alles verloren
Prendi wuchs in Albanien auf, wo er eine Ausbildung zum Chauffeur absolvierte. Bereits als Teenager arbeitete er im Ausland, weil die Gehälter dort besser waren. Als Dreissigjähriger war er in Spanien in einem Restaurant tätig. Viele seiner Kollegen kamen aus Albanien, so wie er. Einige von ihnen gerieten irgendwann mit dem Gesetz in Konflikt. Die Polizei stellte auch Prendi unter Verdacht und setzte ihn in Untersuchungshaft. Nach zwei Monaten wurden die Ermittlungen gegen ihn eingestellt.
Obwohl er wieder freigekommen sei, erzählt er, habe er während der Haft alles verloren: seinen Job, seine Wohnung, sein Geld. Der Weg zurück ins Arbeitsleben gelang ihm nicht, und er wurde spielsüchtig. Schliesslich sah er in der Kriminalität den einzigen Weg, seinen Unterhalt zu bestreiten. Ab 2014 kam er zum Stehlen in die Schweiz.
Ein «Kriminaltourist», wie das Gericht später feststellt.
An einem Novembertag 2016 wird Prendis Diebestour ein Ende gesetzt. Er ist zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. Mit seinen Komplizen zieht er damals von Haus zu Haus, dieses Mal sind sie in der Ostschweiz unterwegs. Sie brechen in mehrere Häuser ein, stehlen Uhren, Perlenketten, Krawattennadeln und Bargeld. Im Laufe des Abends überqueren sie, das Diebesgut aus der Schweiz noch in den Taschen, eine Brücke.
Sie wissen nicht, dass sie in diesem Moment liechtensteinisches Staatsgebiet betreten. Sie waren diesen Weg schon in den Jahren zuvor einige Male gegangen.
Erste Station: Ein Gefängnis in der Nähe von Wien
Doch an diesem Tag kommen sie nicht weit. In Schaan werden sie von der Polizei auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Das Gericht in Vaduz verurteilt Prendi am 11. Mai 2017 zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe. Die Anklage gegen alle drei lautet «gewerbsmässiger schwerer Diebstahl», was voraussetzt, dass die Diebstähle regelmässig und arbeitsteilig durchgeführt werden und dazu dienen, an ein Einkommen zu gelangen.
Der Straftatbestand schliesst also ein, dass es sich um mehrere Einbrüche handelt.
Für den Vollzug wird Prendi in eine Haftanstalt in der Nähe von Wien gebracht. In der Zwischenzeit ermitteln auch die Schweizer Behörden und bringen Prendi in Zusammenhang mit mehreren Einbrüchen auf hiesigem Staatsgebiet. Sie leiten ebenfalls ein Verfahren ein. Ende 2018 wird Prendi zur Einvernahme in die Schweiz geführt, Weihnachten verbringt er in Untersuchungshaft. Nach zwei Monaten geht es zurück nach Wien, um die von Liechtenstein verhängte Strafe abzusitzen.
Das Kreisgericht in St. Gallen verurteilt Prendi wegen «banden- und gewerbsmässigen Diebstahls» – begangen auf Schweizer Staatsgebiet im selben Zeitraum – zu weiteren fünf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe für die Delikte. Prendi legt Berufung ein, mit der Begründung, das Strafmass sei zu hoch angesetzt. Insbesondere, weil er vom Gericht in Vaduz bereits zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden war.
Im Ergebnis habe er elfeinhalb Jahre Freiheitsstrafe erhalten für eine Tat, auf die sowohl in Liechtenstein als auch in der Schweiz eine Höchststrafe von zehn Jahren gelte.
Die zweite Instanz, das Kantonsgericht, bestätigt in ihrem Entscheid: «Er wird zwar durch das Wechseln der Landesgrenze härter bestraft als ein Täter, der sämtliche Delikte in der Schweiz begangen hätte.» Die Richterinnen lehnen die Berufung trotzdem ab und verweisen auf ein umstrittenes Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2016. Es wurde nur wenige Wochen vor Prendis Festnahme gefällt.
Eine höchstrichterliche Praxisänderung
Dieser Entscheid bezieht sich auf einen Fall aus Basel, bei dem es um Diebstahl, Betäubungsmitteldelikte und «Fahren ohne Ausweis» ging. Das Bundesgericht hält fest: «Die kantonalen Gerichte hätten für die in der Schweiz begangenen Straftaten die von ihnen hierfür als angemessen erachtete Gesamtfreiheitsstrafe als eigenständige Strafe aussprechen müssen.»
Im wichtigsten Nachschlagewerk zum Schweizer Strafrecht, im «Basler Kommentar», wird betont, diese Praxisänderung könne zu stossenden Ergebnissen führen und sei nicht überzeugend.
Und obwohl das Bundesgericht damals einen Fall beurteilte, der sich mit Prendis Fall kaum vergleichen lässt, folgert das Kantonsgericht in St. Gallen prompt: «Die schweizerische Praxis zur Zusammenfassung mehrerer Delikte zu einer Einheit gilt somit nur für das inländische Hoheitsgebiet und wirkt nicht über die Landesgrenzen hinaus.»
Dass Prendi gar nicht bemerkte, dass er sich in einem anderen Land befand und nicht vorsätzlich in mehreren Ländern Delikte begehen wollte, half ihm nicht: «Territoriale Fragen sind nicht Voraussetzung für die Erfüllung der hier in Frage stehenden Tatbestände», so die Auffassung der St. Galler Kantonsrichter.
Prendi spricht kaum Deutsch und kennt sich im Schweizer Rechtssystem nicht aus. Das führt zu einem Missverständnis: Er ist der Auffassung, dass die Jahre, die er bereits im Gefängnis in Wien verbrachte, an seine Freiheitsstrafe in der Schweiz angerechnet würden. Zudem ist der Gang vors Bundesgericht langwierig und möglicherweise teuer. Prendi entschliesst sich darum dagegen – gemäss seinen Berechnungen würde er ja sowieso bald freikommen.
Zweite Station: Ein Gefängnis in Graubünden
Erst als er den rechtskräftigen Berufungsentscheid des St. Galler Kantonsgerichts in Händen hält, wird ihm klar: Frühestens 2024 wird er aus dem Gefängnis entlassen.
Im April 2021 wird er vom österreichischen Gefängnis direkt nach Graubünden überstellt und tritt in Cazis Tignez seine zweite Freiheitsstrafe an. Vom neuen Gefängnis aus gelangt er an Rechtsanwältin Angela Agostino, die seinen Fall erneut aufrollt und in St. Gallen ein Begnadigungsgesuch einreicht.
Darin hält die Anwältin zur neuen höchstrichterlichen Praxis fest: «In den Fällen, die das Bundesgericht zu beurteilen hatte, ging es (…) um komplett unterschiedliche Straftatbestände und nicht um sachlich zusammenhängende Ereignisse, die im Rahmen von Banden- und Gewerbsmässigkeit von einem einzigen Vorsatz getragen wurden.»
Agostino ist der Auffassung, im Fall von Prendi bestünden gute Chancen, dass das Bundesgericht anders geurteilt und seine bisherige Rechtsprechung präzisiert hätte. Wenn es den Fall hätte beurteilen können.
Zudem macht sie geltend, dass Prendi nur etwa halb so hart bestraft worden wäre, wenn er zunächst in der Schweiz und erst danach in Liechtenstein angeklagt worden wäre. Denn im Gegensatz zur Schweiz ist es in Liechtenstein möglich, zu ausländischen Urteilen eine Zusatzstrafe zu bilden, wie die Anwältin von einem liechtensteinischen Berufskollegen erfährt.
Das Begnadigungsgesuch wird jedoch abgelehnt. Begründung: «Das Begnadigungsverfahren dient nicht dazu, ein rechtskräftiges Urteil, gegen das ein ordentliches Rechtsmittel zur Verfügung stand, nachträglich zu überprüfen.»
Wenn für Prendi alles gut läuft, kann er 2024 auf Bewährung entlassen werden. Dann ist er 45 Jahre alt.
Nach fast zwei Stunden Gespräch holt ein Aufseher Prendi ab und bringt ihn zurück in seine Zelle. Er werde seinen Fall wohl nie ganz verstehen, sagt er zum Abschied. Und zuckt ratlos mit den Schultern.
Illustration: Till Lauer
Anina Ritscher ist freiberufliche Journalistin und lebt in Basel. Sie schreibt unter anderem für die deutsche Tageszeitung TAZ und die WOZ.