Handyzeit ist um … Ich meins ernst jetzt!

Was Eltern zum Umgang mit dem Smartphone wissen sollten – und wie mir mein gamender Sohn den Spiegel vorgehalten hat.

Von Cornelia Eisenach (Text) und Guy Bolongaro (Bilder), 06.06.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
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Es ist Mittwoch­nachmittag und mein 6-jähriger Sohn ist mit seinem Schul­freund verabredet. Natürlich nicht zum Spielen, sondern zu einem «Playdate». Soeben ist er beim Freund angekommen. Ich weiss das, weil dessen Mutter es per Whatsapp meldet.

Es ist gefühlt die tausendste Nachricht in einem Chat­verlauf, der vor hundert Wochen begonnen hat: Wann passt es euch? Da sind wir beim Skifahren. Freitags geht nicht, da haben wir Schwimm­kurs. Bei euch oder bei uns? Kommst du mit? Er kann zum Essen bleiben. Isst er Fleisch?

Als es endlich so weit ist, hält mich die Nachrichten-App mit Fotos auf dem Laufenden: Kinder im Garten. Kinder auf dem Spiel­teppich. Kinder vor Spaghetti bolognese (mit Fleisch). Ich quittiere alles mit Herzchen und Sternaugen-Smileys.

Wieder zu Hause erzählt mir mein Sohn mit leuchtenden Augen vom Playdate: «Wir haben Pokémon Go auf dem Handy gespielt!» Ich grüble kurz, ob das auch auf Whatsapp stand, während er von den vielen Spielen auf dem Tablet seines Freundes schwärmt.

Offensichtlich besitzt der Junge ein eigenes Gerät. In der ersten Klasse. Ist das nicht ein bisschen früh?

Ich google «Smartphone Kinder ab wann?» und lese: 11 bis 12 Jahre. Na also!

Doch dann erinnere ich mich an einen Essay der Journalistin Meredith Haaf, den ich vor kurzem gelesen habe. Ihre These: Kinder erhielten immer früher ein eigenes Smartphone. Eltern überliessen ihren Nachwuchs fast schicksals­ergeben den digitalen Geräten. Die Autorin diagnostiziert eine «Mischung aus Bequemlichkeit und Unwissenheit».

Zu den Bildern

Für die Bebilderung dieses Beitrags hat die Republik-Redaktion einfach mal bei Fotografinnen herumgefragt, ob sie denn Bilder von ihrem Nachwuchs hätten, während der sich grade mit dem Smartphone beschäftigt. Fündig wurden wir beim englischen Fotografen Guy Bolongaro. Und das ist kein Zufall: Einerseits ist Bolongaro gelernter Soziologe. Andererseits setzt er in seinem fotografischen Schaffen einen Schwerpunkt auf das Wesen von Familien.

Studiendaten aus der Schweiz zeigen: Tatsächlich besassen im Jahr 2021 bereits 20 Prozent der 6- bis 7-Jährigen ein eigenes Handy. 38 Prozent von ihnen spielten mindestens einmal pro Woche Games auf dem Gerät. Laut dem deutschen Marktforschungs­institut Bitkom Research stieg der Anteil der 6- bis 7-Jährigen, die mindestens ab und zu ein Smartphone benutzen, von 20 Prozent im Jahr 2014 auf 54 Prozent im Jahr 2019.

Die Situation des Schul­freundes war also gar nicht so ungewöhnlich. Mussten mein Partner und ich nun mit mehr solchen Playdates rechnen? Würde der Sohn womöglich gar ein eigenes Handy wollen? Und was sollten wir dann tun?

Von Eltern, die in der Tech-Industrie arbeiten, heisst es, sie verböten ihren Kindern die Apps und Geräte, die sie selbst entwickeln. Oder sie schränkten die Zeiten am Bildschirm strikt ein. Steve Jobs’ Kinder etwa hatten kein iPad.

Eine Kinder­ärztin erzählte mir, in ihrem Haushalt habe es, bevor die Kinder 13 Jahre alt waren, überhaupt keine Bildschirm­medien gegeben. Weder TV noch Handy.

Ist das also die Devise, an die ich mich halten sollte? So wenig wie möglich, so spät wie möglich?

«Window of opportunity»

Ich rufe Gregor Waller an. Er forscht zum Umgang von Kindern und Jugendlichen mit digitalen Medien an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und gehört der Fachgruppe Medien­psychologie an. Diese gibt gemeinsam mit dem Bundesamt für Sozial­versicherungen die Broschüre «Medien­kompetenz» heraus, die Tipps zum Umgang mit Smartphones und anderen digitalen Medien zusammenträgt.

Von der Leitlinie «So wenig wie möglich, so spät wie möglich» halte er wenig, obwohl er sie oft höre. «Das Kind wird früher oder später mit digitalen Medien in Kontakt kommen», sagt er. Wenn man warte, bis der Nachwuchs 13 oder 14 Jahre alt sei, «dann haben Sie verloren».

Im Alter von 7, 8, 9 oder 10 Jahren seien die Kinder empfänglicher für die Lenkung durch die Eltern. Waller bezeichnet es als window of opportunity. «In diesem Zeitfenster können Sie Medien­erziehung machen. Danach beginnt sich das Kind vom Elternhaus zu lösen, die Peer­group wird wichtiger.» Es wird zum Teenager, der sich von seinen Alten nichts mehr sagen lässt.

Auch deshalb werde die Sexual­aufklärung heute schon in der Grund­schule unterrichtet und nicht erst in der Oberstufe, sagt Waller.

Es geht beim Handy also nicht um das «ob», sondern um das «wann» und das «wie». Es geht darum, die Kinder Schritt für Schritt in die digitale Welt zu begleiten. Diese mit ihnen zu entdecken – in Spiele-Apps, in Gruppen­chats, in Youtube-Clips – und ihnen die Gefahren aufzuzeigen: Cyber­mobbing, leichtfertiges Daten­teilen oder Hatespeech.

Waller vergleicht es mit dem Strassen­verkehr. «Dort nimmt man die Kinder an die Hand und setzt sie nicht einfach ins Auto.» Erst lernten sie im Kinder­garten, den Zebra­streifen zu über­queren, dann komme irgend­wann die Velo­prüfung, und erst mit 17 könne man einen Lern­fahrausweis beantragen.

Dieses Begleiten ist Arbeit. Es erfordert Zeit und Nerven. Und das ist vielleicht der Grund, weswegen es manchmal leichter scheint, diese Themen ganz aus dem Alltag rauszuhalten.

Suche nach Balance

Ich bin ohne Smartphone gross geworden, aber mit Fernsehen. Mein Mann ebenso. Uns war darum klar: Wir lassen unsere Kinder schauen und bringen ihnen massvollen Umgang bei. Bei uns hat das schliesslich auch geklappt.

Natürlich herrschte am Anfang die Holzspielzeug-Mentalität: Wir besorgten uns DVDs einer handgezeichneten Cartoon-Serie, die uns gefiel. Die lustig war, aber nicht albern; bunt, aber nicht grell. Und deren Episoden nie länger als 15 Minuten gingen.

Natürlich kamen wir irgendwann in der Plastik­welt an, inklusive «Paw Patrol», diesem neoliberalen wet dream von einem Cartoon, der die Staats­gewalt als inkompetent und korrupt darstellt (Bürger­meister Besserwisser) und sämtliche gesellschaftliche Aufgaben an eine private Security-Organisation (die Paw Patrol) auslagert.

Treibt uns das manchmal in den Wahnsinn? O ja! Und trotzdem sagen wir öfter, als uns lieb ist: Okay, aber nur noch eine Folge!

Wie also findet man die Balance?

Vielleicht so.

  1. Medien­psychologe Waller empfiehlt ein eigenes Handy ab der Oberstufe. Davor sollten die Kinder bereits ein Smartphone oder Tablet nutzen können. «Wir raten dazu, die Kinder ab Mitte der Primar­stufe mit der Handy­nutzung vertraut zu machen.» Das heisst eine Spiele-App nutzen, Video­telefonie mit der Oma oder Youtube-Videos. Aber nicht allein, sondern zusammen mit den Eltern.

  2. Eingeschränkte Bildschirmzeit: ab 3 Jahren 30 Minuten pro Tag (in Begleitung). Ab 6 Jahren 5 Stunden pro Woche. Ab 10 Jahren maximal 10 Stunden pro Woche.

  3. Grenzen setzen. Medien­psychologe Waller empfiehlt klare Regeln für handy­freie Zeiten und Orte. Zum Beispiel: nicht am Tisch oder nicht nach 20 Uhr.

  4. Die 3-6-9-12-Regel. 0 bis 3 Jahre: Fernseher aus. 3 bis 6 Jahre: gemeinsam schauen, Zeit begrenzen. 6 bis 9 Jahre: Bildschirme kreativ nutzen, etwa zum Spielen. 9 bis 12 Jahre: zusammen Internet und Handy nutzen, eigenes Handy möglich. Ab 12: allein ins Netz.

Das Problem an Empfehlungen: Sie haben einen Endgegner. Er heisst Realität. Schliesslich gewinnt auch die Tiefkühl­pizza mit Bier allzu oft den Kampf gegen Broccoli mit Linsen und Mineral.

Oft fällt es leichter, das Richtige zu tun, wenn man weiss, warum man es tut. Was also steckt hinter den Empfehlungen?

Warum Grenzen sinnvoll sind

Dass kleinere Kinder gar nicht fernsehen sollten und danach vorerst nicht mehr als 30 Minuten am Tag, hat einen Grund. Für ihre Hirn­entwicklung brauchen sie den Kontakt mit Objekten in 3-D. Sie müssen sie im wahrsten Sinne des Wortes «begreifen», um sie zu verstehen. Auch eine Sprache lernt ein Kind nur über Interaktion mit anderen Menschen. Sie dienen als Spiegel. An ihnen kann es ablesen, wie seine Laute auf andere wirken.

Für diese Entwicklungs­aufgaben gibt es einen Zeitraum, Kinder können sie nicht aufschieben oder nachholen. Deswegen ist die 2-D-Welt der Bildschirme für die Kleinen wertlos. Sie raubt ihnen Zeit.

Aber macht es einen Unterschied, ob sie in ihrer Bildschirmzeit fernsehen oder Handy-Games spielen?

Ich frage Margarete Bolten. Sie ist leitende Psychologin an der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und trifft in ihrer Sprechstunde Kleinkinder mit Schlaf- oder Fütter­störungen, die oft mit dem Konsum digitaler Medien zusammen­hängen.

Bolten sagt: «Fernseh­konsum lässt sich überhaupt nicht mit den mobilen Geräten vergleichen.» Spiele-Apps seien so gebaut, dass sie die Aufmerksamkeit maximal fesselten. «Die grellen, intensiven Farben, die wieder­kehrenden Töne und die Tatsache, dass immer etwas Neues passiert, aktivieren das Belohnungs­system viel stärker als TV-Clips», sagt Bolten. Sie zögen die Kinder stark in den Bann. Dadurch spielten sie länger.

Aber: «Das junge Gehirn braucht Pausen», sagt Bolten. Sonst könne es die Reize nicht verarbeiten. Es entsteht Stress, die Kinder schlafen schlechter. Im Gegensatz zu den meisten Cartoons, die weniger als die empfohlenen 30 Minuten Bildschirm­zeit dauern, sehen Spiele-Apps keine Pausen vor.

Auch den Umgang mit Gefühlen müssen Kinder erst lernen. Dafür brauchen sie Erlebnisse in der realen Welt. Und das kostet Zeit. So hat mein Sohn zwar einen ganzen Nachmittag mit seinem Freund verbracht und Pokémon Go gespielt. Aber er hat zum Beispiel nicht gelernt, wie er seinen Freund dazu bringt, mit ihm eine Burg zu bauen, wenn der lieber Fussball spielen möchte. Oder, wie er seine Wut in den Griff bekommt, wenn die Burg immer wieder einstürzt.

«Beim analogen Spielen lernt das Kind, Frust auszuhalten. Es spielt auch, wenn es keine Belohnung erhält», sagt Bolten. Bei Handy­games sei das anders. Auf fast jede Aktion komme ein positives Feedback. «Das Kinder­gehirn wird auf Belohnung programmiert und Spielen im realen Leben wird uninteressant.»

Zu viel Zeit am Bildschirm schadet auch den Augen und der Haltung und kann bei Kindern mit ADHS das Aufmerksamkeits­defizit verstärken.

Bei älteren Kindern geht es in erster Linie um den Zugang zu problematischen Inhalten – und darum, wie sie im Internet und in sozialen Netzwerken damit umgehen können.

Sie müssen beispielsweise erst lernen, was real ist und was gespielt. Erst ab etwa 10 Jahren erkennen Kinder zuverlässig den Unterschied zwischen der Film­figur Harry Potter und dem Schauspieler Daniel Radcliffe. Können sie das noch nicht, sind sie im Netz verletzlich.

It’s the Beziehung, stupid

Klar, es gibt Einstellungen, Filter und Apps, mit denen Eltern überwachen und einschränken können, was ihr Kind im Netz treibt. Doch das wird nicht verhindern, dass Kinder früher oder später in der digitalen Welt etwas erleben, was sie beunruhigt oder verstört. Seien es furcht­erregende urban legends, ein Trailer für eine Kriegs­dokumentation, Cyber­bullying im Gruppen­chat oder pornografische Bilder.

Dann hilft eine offene, vertrauens­volle Beziehung zu den Eltern oder anderen Bezugs­personen. «Die Gewissheit, sich immer an die Eltern wenden zu können, ist tausendmal mehr wert als jeder technische Filter und als jede Medienzeit­begrenzung», schreibt die Autorin Patricia Cammarata in ihrem Buch «Dreissig Minuten, dann ist aber Schluss!»

Demnach gibt es zwei Hebel, um das Thema «Kinder und digitale Medien» in den Griff zu bekommen: Bindung und Aufklärung.

Medienpsychologe Waller sieht das ähnlich. «Wenn die Beziehung zu den Eltern funktioniert, kommt das Kind auch in Krisen­situationen zu ihnen, wenn es zum Beispiel online gemobbt wird. Es hat keine Angst, sich zu offenbaren.»

Aber eben: Eine gute Beziehung ist Arbeit.

Die Diskussionen um den Medien­konsum der Kinder drehen sich aber selten darum, wie man Eltern bei dieser Arbeit unter­stützen kann. Wie man sie besser aufklärt. Wie man die App- und Geräte­hersteller in die Pflicht nimmt. Oft geht es nur darum, ob mobile Geräte schlimm sind. Ob sie süchtig machen, dumm, hochgewichtig oder depressiv.

Auf der einen Seite stehen Warner wie der Hirnforscher Manfred Spitzer, der von «digitaler Demenz» spricht, dem jedoch Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen wird. Auf der anderen Seite stehen jene, die ihren Kindern alle Chancen der Digitalisierung bieten möchten, wie der deutsche Sascha Lobo, der seinen Anderthalb­jährigen bereits mit einem Smartphone ausstattete.

«Wenn es um das digitale Leben von Kindern geht», schreibt Meredith Haaf, «gibt es kaum etwas zwischen der Spitzer-haften Verteufelung und der Lobo-haften Turbo­affirmation.»

Soziale Netzwerke können auf die Psyche schlagen, zum Beispiel Ess­störungen fördern. Aber gilt das gleich für alle digitalen Medien und Smartphones?

Um das umfassend zu erforschen, müsste man Kinder in zwei Gruppen einteilen – die einen gamen jeden Tag am Smartphone, die anderen nicht, und am Ende schaut man, wer depressiv geworden ist. Das geht natürlich nicht. Stattdessen suchen Forscherinnen oft nach Zusammen­hängen zwischen digitalen Medien und beispielsweise Depression.

So hatte eine Studie aus dem Jahr 2017 ergeben: Je mehr Zeit Jugendliche am Bildschirm verbringen, desto eher sind sie depressiv und sogar suizid­gefährdet. Der Studie lag eine Umfrage unter Hundert­tausenden Jugendlichen zugrunde. Darin stellten die Forscher Fragen zu allen möglichen Lebens­gewohnheiten und zur psychischen Gesundheit.

Allerdings hängen die Aussagen, die man aus so einem Datensatz ziehen kann, davon ab, welche Variablen und welche Test­verfahren man wählt. Dies zeigte eine erneute Auswertung des Daten­satzes aus dem Jahr 2019: Demnach hatte die Bildschirmzeit zwar einen negativen Effekt auf die jugendliche Psyche, dieser war aber sehr klein. Kleiner als das Tragen einer Brille etwa.

Selbst regelmässiges Kartoffel­essen stand in Zusammenhang mit einem negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit – ein Beispiel, das die Autoren bewusst wählten, um die methodischen Schwächen solcher Analysen aufzuzeigen.

Für eine aktuelle Studie begleiteten Forscherinnen der Universitäten Stanford und Minnesota 7- bis 11-jährige Kinder über einen Zeitraum von fünf Jahren. Sie baten sie regelmässig zum Test und untersuchten sie auf Symptome für eine Depression, notierten Schlafzeiten und schulische Leistungen.

Dann stellten sie sämtliche erhobenen Daten in Zusammenhang mit dem Alter, in dem die Kinder ein Smartphone erhalten hatten, durchschnittlich war dies mit 11 Jahren der Fall. Es zeigte sich: Das Alter hatte auf keine der Variablen einen Einfluss. Es gebe keine «goldene Regel» für den richtigen Zeitpunkt, sagte der Haupt­autor der Studie.

Reality Check

Zu Recherche­zwecken habe ich mir Pokémon Go auf mein Handy geladen, denn selbst gespielt hatte ich es zuvor noch nie.

Allerdings sah mein Sohn das bunte Logo der App bei einem zufälligen Blick auf mein Smartphone und war seitdem angefixt. Er wollte es unbedingt spielen.

Wir vereinbarten, dass wir es einmal ausprobieren und danach entscheiden, ob das etwas für ihn ist oder nicht.

Der Versuch beginnt damit, dass ich mit meinem überdrehten Nachwuchs im Nacken und unter höchstem Zeitdruck erstmal allerlei Daten und Zugriffs­rechte abdrücke, um den Account einzurichten. Auch die Datenschutz­bestimmungen klicke ich hastig weg.

Im Anschluss verbringen wir unendlich viel Zeit damit, das richtige «Outfit» für den virtuellen Pokémon-Trainer auszusuchen. Am Ende tragen wir grüne Haare und grüne Schuhe und heissen «Dhbcfuchd».

Nun kann es losgehen. Wir gehen raus, um Pokémons zu fangen. Normalerweise verlässt mein Sohn das Haus nicht ohne Fussball. Nun hält er sich ein Smartphone vors Gesicht und wischt wie besessen nach oben.

Ich muss gestehen – der Anblick bereitet mir Unbehagen. Natürlich möchte ich nicht zu den krückstock­wedelnden Kultur­pessimistinnen gehören. Aber mir ist die Beziehung zur Natur wichtig. Und dass mein Sohn jetzt einen zuckenden orangen Fisch mit totem Blick namens Karpador jagt und die junge Amsel nicht sieht, die sich an den Beeren des Strauch­efeus vor unserem Haus labt, macht mich fertig.

Aber zu dem Stich in der Brust gesellt sich noch ein anderer Schmerz. Eine Art Phantom­schmerz – nur woher? Kommt er nicht von der linken Hand, wo ich normalerweise mein Handy halte?

Ich merke: In dem Moment, wo mein Sohn beschäftigt ist, habe ich den Impuls, mein Smartphone zu zücken. Könnte ja mal E-Mails checken.

Als Eltern müssen wir bei der Medien­erziehung selbst­verständlich auch unser eigenes Verhalten reflektieren. Wie lange starre ich eigentlich ins Handy? Und wie viele Stunden darf ich?

Kinder machen nach, was die Erwachsenen vormachen. Die Psychologen nennen es «Lernen am Modell». Ob die Kinder zu viel Bildschirme nutzen oder nicht, hängt weniger von den Apps oder den Kindern ab, sondern vom Verhalten der Eltern. «Der Umgang der Eltern mit den mobilen Geräten hat laut Studien­lage den grössten Effekt auf die Geräte­nutzung der Kinder», schreibt der Autor Henry Rygiel. Je mehr die Eltern sich mit ihrem Smartphone beschäftigen, desto mehr tun dies die Kinder.

Während ich noch an meinen Phantom­schmerzen leide, hat mein Sohn bereits Level fünf erklommen. Er ist in irgendeiner Arena mit irgend­welchen anderen Leuten und kämpft ein «Battle» nach dem anderen. Mittlerweile hat er 38 Pokémons in irgendeinem Index, alle haben irgend­welche Nummern. Ich habe den Überblick verloren – aber einen glücklichen Sohn.

Ein eigenes Handy werden wir unserem Sohn deswegen nicht geben. Ganz verbannen werden wir es aber auch nicht. Nur schon wegen der Video­calls mit den Grosseltern.

Am nächsten Morgen ist Pokémon Go trotzdem prompt wieder Thema.

Aber nicht, weil mein Sohn noch mal spielen will. Während ich die Mokka-Maschine auf den Herd stelle, piepst mein Handy. Ich schaue auf den Screen. Eine Push-Meldung mahnt mich: «Es sind neue Pokémons in deiner Nähe!»

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