Klima-Abstimmung zum Zweiten …

Vor zwei Jahren versetzte die SVP der Schweizer Klima­politik praktisch im Alleingang einen Dämpfer. Nun entscheidet die Schweiz übers Klimaschutz­gesetz. Gelingt der SVP abermals ein Coup?

Von Priscilla Imboden, 29.05.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Die Aufgabe ist fast schon schizophren. SVP-Bundesrat Albert Rösti muss vor der Bevölkerung das Ja zum Klimaschutz­gesetz vertreten, welches Nationalrat Albert Rösti noch vor wenigen Monaten im Referendums­komitee bekämpfte.

An diesem Abend soll er das an einem besonderen Ort tun: in Holziken im Kanton Aargau. Fast nirgends ist seine Partei so stark wie in diesem Dorf zwischen Aarau und Zofingen. Zwei Drittel der Wähler legen hier die SVP-Liste ein. Erwartungs­voll sitzen die Frauen und Männer an langen Tischen in der Mehrzweck­halle, die bis zum hintersten Platz besetzt ist.

Rösti steigt draussen aus der schwarzen Bundesrats­limousine. Blauer Anzug, blaue Krawatte. Auf die Frage, ob ihm seine Rolle schwer­falle, antwortet er mit seinem spitzbübischen Rösti-Lächeln: «Nein, sie fällt mir nicht schwer.»

Bald wird klar, weshalb.

Nach der National­hymne und einem Ständchen des lokalen Jodel­chors steigt Bundesrat Rösti auf die Bühne. Er redet frei und ausführlich darüber, welche Schwer­punkte er in seinem Departement setzen will. Erstens: sichere Strom­versorgung (wobei es um mehr Produktion im Inland geht). Zweitens: Ausgleich Stadt/Land (wobei es vor allem ums Land geht). Drittens: Infrastruktur (wobei es um Strassen und Schienen und die SRG geht).

Über den Klimaschutz – kein Wort.

Irgendwann erklärt er: «Ich sage nicht Energie­wende und Dekarbonisierung. Denn: Produktion ist das erste Ziel.» Und: «Ich bin nicht gegen den Ausstieg aus der fossilen Energie, die geht sowieso zur Neige, aber es braucht eine Alternative.» Diese bestehe in erneuerbarer Energie, sagt Rösti, um als Nächstes den Atom­ausstieg zu bedauern.

Später erwähnt er das Klimaschutz­gesetz in einem knappen Satz mit der Bemerkung: «dessen Annahme der Bundesrat empfiehlt».

Es ist fast so, als gäbe es im Juni keine Abstimmung.

Ganz so einfach kommt der Bundes­rat dann aber doch nicht weg. Der Chefredaktor der «Aargauer Zeitung» stellt ihm auf der Bühne ein paar Fragen. Als dieser ankündigt, mit dem Klimaschutz­gesetz zu beginnen, erwidert Rösti: «Ja, das habe ich befürchtet.» Auf die Frage, ob es denn stimme, dass Benzin­autos bei einem Ja zum Gesetz verboten würden, wie es auf dem Plakat vor dem Saal steht, drückt sich Rösti um eine klare Aussage und verliert sich in einem aufwendigen Beschrieb der politischen Abläufe. Auf die Nachfrage «Also keine Verbote?» geht der Bundes­rat gar nicht ein, sondern erklärt: «Können wir den nötigen Strom erzeugen? Das ist die grosse Frage.»

Rösti bestätigt ohne Vorbehalt das Narrativ der Gegner des Klima­gesetzes, die die Vorlage als «Stromfresser­gesetz» abtun.

Umso erstaunlicher ist, wie viel Wohlwollen die Befürworter­seite Albert Rösti in Bundesbern entgegen­bringt. Er vertrete die Bundesrats­meinung auf glaubwürdige Art, heisst es. «Albert Rösti hilft uns, diese Abstimmung zu gewinnen», sagt der grüne Nationalrat Bastien Girod.

Der SVP-Bundesrat sei in den Abstimmungs­kämpfen ein «Trumpf für die Klima-Allianz», glaubt auch Polit­geograf Michael Hermann. Er wisse, wie man mit den Leuten reden müsse, die vor zwei Jahren das CO2-Gesetz abgelehnt haben.

Das Problem ist nur: Um diese Wirkung zu haben, müsste er mit den Leuten auch tatsächlich über das Klimaschutz­gesetz sprechen.

Der Rösti-Faktor und die Mobilisierung

Vielleicht spielt das aber gar keine so grosse Rolle. Entscheidend ist nämlich nicht, ob Albert Rösti im Saal in Holziken jemanden überzeugen kann, Ja zu stimmen. Das wäre ein eher hoffnungsloses Unter­fangen. Entscheidend ist, ob die Anwesenden und ihre Freunde, Bekannten und Nachbarn abstimmen gehen. Bundesrat Rösti setzt sich nicht wirklich für ein Ja ein, er wirkt aber auch nicht besonders mobilisierend auf jene, die gegen das Gesetz sind.

Anders war das vor zwei Jahren, als die SVP lauthals gegen SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga wettern konnte. Damals strömte die Land­bevölkerung in Massen an die Urnen, aufgeschreckt durch die Pestizid- und die Trinkwasser­initiative, die gleichzeitig zur Abstimmung kamen. Sie sagte Nein, und Nein, und wieder Nein – auch zum CO2-Gesetz. Es erwies sich als fataler Fehler von Bundes­rätin Simonetta Sommaruga, diese Vorlagen am gleichen Tag auf die Agenda zu setzen.

Eine massenhafte Mobilisierung ist diesmal nicht zu erwarten. Die Abstimmung über die OECD-Mindest­steuer wird sich kaum als Gassen­feger erweisen, weder für linke noch für rechte Wählerinnen und Wähler.

Was jedoch ähnlich ist wie damals: Wieder steht das Covid-19-Gesetz auf dem Stimm­zettel. Gegner der Massnahmen zur Pandemie­bekämpfung tendieren dazu, alles abzulehnen, was «aus Bern kommt». Seither sind allerdings sämtliche Vorschriften aufgehoben worden. Die Pandemie verblasst in der Erinnerung, und es ist fraglich, wie viele Massnahmen­kritiker sich überhaupt noch an die Urne bemühen.

Das Kosten­argument war 2021 entscheidend

Ausschlaggebend für das Nein zum CO2-Gesetz vor zwei Jahren war die Tatsache, dass die meisten Bürgerinnen von den vorgeschlagenen Regulierungen betroffen gewesen wären. Das Gesetz sah ein Sammel­surium von Massnahmen vor. Ziel war es, dass mehr Kosten übernehmen muss, wer durch seinen Energie­verbrauch zur Klima­erwärmung beiträgt. Das Gesetz sah deshalb einen Aufschlag auf den Benzin­preis und auf Flug­tickets vor sowie eine Verdoppelung der CO2-Abgabe auf Brenn­stoffe wie Heizöl. Ein Teil dieses Geldes war für einen Fonds vorgesehen, der zum Beispiel Nachtzüge oder grünes Kerosin finanzieren sollte. Ein weiterer Teil des Geldes wäre an die Bevölkerung zurück­verteilt worden.

All dies machte es für die Gegner relativ einfach, das Gesetz zu bekämpfen. Sie setzten auf das Kosten­argument und operierten mit abenteuerlichen Maximal­zahlen, die auf praktisch niemanden zugetroffen hätten. Die SVP argumentierte, der Mittel­stand und die Land­bevölkerung würden ausbluten, das Benzin an der Zapf­säule würde teurer werden, das Heizöl auch. Das wirkte: Eine Analyse nach der Abstimmung zeigte, dass die tatsächlichen oder vermuteten Kosten das Haupt­motiv waren, das Gesetz abzulehnen.

Was die Gegnerinnen dabei ausblendeten: Viele Haushalte, gerade mit kleinerem Einkommen, hätten wegen der Rückverteilung unter dem Strich profitiert, weil sie in der Regel weniger Energie verbrauchen als wohlhabende Haushalte. Der Ja-Seite sei es jedoch nicht gelungen, dies glaubwürdig zu erklären, stellt FDP-National­rätin Susanne Vincenz-Stauffacher im Gespräch rückblickend fest: «Wir konnten das nicht vermitteln.»

Simonetta Sommaruga sagte später zur Niederlage: «Die Bevölkerung will den Klimaschutz, sie will aber nicht das Gefühl haben, man werde bestraft oder es werde jetzt alles verboten. Darum setzt jetzt der Bundesrat auf Massnahmen, verzichtet aber auf Verbote und Abgaben.»

Subventionen statt Abgaben

So hat sich die Schweiz vom Verursacher­prinzip verabschiedet und in der Klimapolitik eine Kehrt­wende vollzogen: Die Energie­wende soll nun über den Bundes­haushalt finanziert werden.

Das Klimaschutz­gesetz ist der indirekte Gegen­vorschlag zur Gletscher­initiative. Diese verlangt ein Verbot von Öl und Gas ab 2050 und geniesst breite Unter­stützung bis weit in bürgerliche Kreise hinein. Das Klimaschutz­gesetz legt ebenfalls ein Ziel fest, nämlich dass die Schweiz bis 2050 klima­neutral werden muss. Und es legt Etappen­ziele fest. Weil das allein etwas dünn wäre, sieht es Subventionen vor: 2 Milliarden Franken über 10 Jahre für den Ersatz von fossilen Heizungen. 1,3 Milliarden Franken für Betriebe, die ihre Produktion auf umwelt­schonendere Prozesse umstellen.

Die Initianten zogen im Herbst die Gletscher­initiative zurück, unter der Bedingung, dass das Klimaschutz­gesetz an der Urne angenommen wird. Auch wenn klar ist, dass die Massnahmen im Gesetz nicht ausreichen, um die Klima­neutralität zu erreichen, gibt sich Marcel Hänggi, Co-Initiant der Gletscher­initiative, damit so weit zufrieden: «Das Klimaschutz­gesetz ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.»

Das Konkrete wird nämlich anderswo geregelt: im neuen CO2-Gesetz, das ebenfalls auf Abgaben und Verbote verzichtet und im Parlament noch nicht beraten wurde. Und mit dem Ausbau der Strom­produktion durch den Energie-Mantelerlass, der aktuell vom Ständerat beraten wird.

Die aktuelle Abstimmung sei zwar kein Spaziergang, aber einfacher zu gewinnen als das CO2-Gesetz vor zwei Jahren, findet SP-National­rätin Nadine Masshardt, die sich erneut in der Ja-Kampagne engagiert: «Viele angebliche Gegen­argumente von damals stechen heute definitiv nicht mehr: Es gibt keine neuen Abgaben und keine höheren Kosten. Im Gegenteil: Es gibt sogar Geld für den Heizungs­ersatz.»

SVP: Kosten­argument reloaded

Die Gegner des Klimaschutz­gesetzes sagen trotzdem, es sei zu extrem und zu teuer. Das Argument mit dem Porte­monnaie funktioniert diesmal aber nicht direkt. Es ist ein doppelter Umweg nötig. Zuerst: Die Energie­wende erhöht den Strom­bedarf, weil von Heizungen auf Wärme­pumpen und von Benzin- auf Elektroautos umgestellt wird. SVP-Kampagnen­leiter und Nationalrat Michael Graber sagt: «Der Titel Stromfresser­gesetz drückt die Problematik in einem Wort aus.» Hier folgt die zweite Überlegung: Der Energie­umbau kostet.

Pro Haushalt würden sich die Energie­kosten auf über 9000 Franken ver­dreifachen, sagt die Volkspartei und beruft sich dabei auf eine Studie der Energieforschungs­zentrale der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungs­anstalt (Empa) und der ETH Lausanne (EPFL). Diese rechnet das Szenario einer Versorgung der Schweiz mit synthetischen Treibstoffen aus Öko­energie durch – unter der Voraus­setzung, dass das Land von ausländischen Energie­märkten vollkommen abgeschnitten wäre. Dies sei ein total unrealistisches Szenario, stellt Peter Richner, der stellvertretende Direktor der Empa, klar. Die Studie zeige lediglich auf, dass die Energie­autarkie nur zu exorbitant hohen Kosten möglich wäre, und bestätige insofern die aktuelle Strategie der Schweiz.

Michael Graber bestreitet den Vorwurf, die SVP argumentiere mit falschen Zahlen: «Wir zitieren die Studie korrekt.»

Eine Studie der Empa und des Verbandes Schweizerischer Elektrizitäts­unternehmen (VSE) kommt zum Schluss, dass die Energie­versorgung nach der Energie­wende sogar günstiger wäre als heute. Denn heute bezieht die Schweiz rund drei Viertel ihrer Energie aus dem Ausland und zahlt jährlich im Schnitt 8 Milliarden Franken für den Kauf von Gas und Öl, oft von autoritären Regimes wie Katar, Russland oder Saudiarabien.

Darauf angesprochen erklärt Michael Graber: «Das ist eine Rohstoff­debatte. Wenn Sie diese führen, müssten sie jegliche Importe verbieten. Übrigens sind auch Solarpanels sowie die Mehrzahl der Elektro­autos aus China. Wir sind für den Freihandel.»

Und was sagt der SVP-Kampagnen­führer zur Ausgangslage in diesem Abstimmungs­kampf? Die sei gut, sagt Graber, räumt allerdings ein, dass die Pestizid- und die Trinkwasser­initiative, über die am selben Sonntag abgestimmt wurde, halfen, das CO2-Gesetz zu bodigen. Es gebe dafür diesmal auch neue Vorteile für die Gegner des Klimaschutz­gesetzes, nämlich: «die Inflation und die Klimakleber».

Antwort auf den Zahlensalat

Während vor zwei Jahren die FDP für die Ja-Kampagne verantwortlich war und nicht einmal die eigene Klientel überzeugte, obliegt diese Rolle diesmal dem Verein Klimaschutz Schweiz. Das ist der Träger­verein der Gletscher­initiative, der stark von der Basis her organisiert ist und einige Kampagnen­erfahrung mitbringt.

Der Umgang mit dem Kosten­argument der Gegner ist auch diesmal knifflig. Das letzte Mal versuchte die Pro-Seite, dieses Argument auszublenden, und verzichtete darauf, eigene, detaillierte Schätzungen zu publizieren. Sophie Fürst, Geschäfts­führerin des Vereins Klimaschutz Schweiz, sagt: «Es ist immer eine Grat­wanderung. Man riskiert, die Argumentations­linie der SVP wieder­zugeben, wenn man auf sie eingeht.»

Also ziehen die Befürworterinnen des Klimaschutz­gesetzes es vor, von den Kosten des Klima­wandels zu reden. Zum Beispiel, so Fürst: «Von den Kosten extremer Wetter­ereignisse, von den 250 Millionen pro Jahr, die der Kanton Wallis für Anpassungen an den Klima­wandel ausgibt. Und von den 8 Milliarden Franken, die wir für fossile Energie ans Ausland schicken, statt im Inland zu investieren.»

Die politische Gross­wetterlage

Und noch etwas: Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat allen klar­gemacht, dass es keine gute Idee ist, von fossiler Energie aus autoritären Staaten abhängig zu sein. Kaum jemand will erpressbar sein und den Krieg mitfinanzieren.

Bürgerliche Politiker beobachten, dass es in ihren Stamm­landen in letzter Zeit zu einem Umdenken gekommen ist. Die Gesellschaft habe erkannt, dass der Fussabdruck zu gross sei, sagt der Aargauer FDP-Nationalrat Matthias Jauslin: «Mir sagen am Stammtisch Leute, die früher gegen Elektro­autos wetterten, sie hätten auch eines gekauft. Und eine Solar­anlage dazu.» Die FDP Aargau, die zum CO2-Gesetz noch die Nein-Parole beschlossen hatte, habe mit einer Zweidrittel­mehrheit Ja gesagt zum Klimaschutz­gesetz. Das habe sogar ihn erstaunt.

Ähnlich beschreibt der Bündner Mitte-Ständerat Stefan Engler die Lage in seinem Kanton: «Die Leute haben in den letzten zwei Jahren Erfahrungen gesammelt mit der Trockenheit, haben einen milden Winter erlebt. Sie sind stärker sensibilisiert als damals.»

Wunschdenken? Vielleicht. Schliesslich ist Stefan Engler Mitinitiant der Gletscher­initiative.

Grundsätzlich sieht die Lage für die Klimaschutz­abstimmung jedoch besser aus als vor zwei Jahren. Die aktuellsten Umfragen bestätigen die Tendenz zu einem Ja: Laut der neusten Umfrage des «Tages-Anzeigers» befürworten 55 Prozent der Befragten das Gesetz, was 3 Prozent­punkte weniger sind als einen Monat zuvor. Laut der SRG-Umfrage sind über 70 Prozent der Befragten für oder eher für ein Ja. Doch es gibt ein grosses Aber: Nur 40 Prozent der Befragten planen auch tatsächlich abzustimmen.

In Holziken steigt an jenem Abend im Mai Bundesrat Albert Rösti von der Bühne, und als nächster Programm­punkt beginnt ein Streit­gespräch zum Klimaschutz­gesetz. SVP-Nationalrat Benjamin Giezendanner gegen SP-Grossrätin Colette Basler. Wenn sie redet, schweigen die Zuschauer höflich, manche schütteln den Kopf. Spricht Giezen­danner, tobt der Saal.

Die Meinungen in Holziken sind gemacht. Und die Zuschauerinnen werden sie auch an der Urne kundtun.

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