«Es macht mir Angst, dass Grundrechte inzwischen so systematisch ausser Kraft gesetzt werden»

Wird Basel zum Labor der Repression? Ein Gespräch mit dem Strafverteidiger Andreas Noll, der die Basler Justiz regelmässig vor Bundesgericht zieht und dabei häufig gewinnt.

Von Daniel Ryser, 22.05.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
0:00 / 27:20

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

«Wie häufig haben Sie eigentlich die Basler Justiz schon vor das Bundes­gericht gezerrt?», fragte ich Andreas Noll während unseres Treffens.

Irgendwie passend zum Thema hatte es exakt zu Beginn unseres Gesprächs zu stürmen begonnen, Donner und Blitz und Regen, der laut gegen die Scheiben prasselte.

Der 50-jährige Strafverteidiger, der eine Dissertation zum Thema Menschen­rechte verfasst hat, war hinter Stapeln von Ordnern und Papieren kaum zu sehen. Er trug ein T-Shirt des Rappers Eminem, ein inszeniertes mugshot des Detroit Police Department. An der Wand hinter Noll hing Kunst des Basler Graffiti-Meisters «Smash 137», eines prominenten Klienten.

«Sooft ich konnte», antwortete Noll mit angriffigem Grinsen.

Andreas Noll sei in Basel und über die Kantons­grenzen hinaus bekannt wie ein bunter Hund, sagte meine Kollegin Brigitte Hürlimann, die erfahrene Gerichts­reporterin. «Er hat den Ruf eines versierten, hartnäckigen, kämpferischen Straf­verteidigers, der sich nicht vor unkonventionellen Ideen und kreativen Zugängen scheut, stets das Grundsätzliche – die Kritik am System und am Staat – im Auge behält und auch benennt. Aussichts­lose Fälle gibt es für ihn nicht.»

«Und wie häufig haben Sie gewonnen?», fragte ich.

«Ich bin der Basler Anwalt mit der besten Erfolgs­quote. Ein Drittel aller Fälle habe ich vor Bundes­gericht gewonnen, sechzehn insgesamt.»

Noll vertrat zahlreiche Personen, die wegen ihrer Teilnahme an der Demonstration «Basel nazifrei» im November 2018 angeklagt waren. Im Zusammen­hang mit der Kund­gebung zeigte er unter anderem die Basler Staats­anwaltschaft an, weil sie Video­material manipuliert hatte: Die Staats­anwaltschaft hatte Videos des Polizei­einsatzes vorgelegt, einen Zusammen­schnitt der relevanten Szenen aus über zwölf Stunden Filmmaterial – jedoch ohne Ton. Es stellte sich dann heraus, dass der Ton wesentlich war: zwei Polizei­beamte, die sich ob des eigenen Einsatzes von Gummi­geschossen empörten. Davor sei ja gar nichts passiert gewesen, und jetzt eskaliere die Lage.

Nun traf ich Andreas Noll im Nachgang der stunden­langen Einkesselung der bewilligten 1.-Mai-Demonstration in Basel – ein Polizei­einsatz, der 600’000 Franken kostete und ein juristisches Nachspiel hat: Mindestens 54 Betroffene hätten sich bisher für rechtliche Schritte gegen die Basler Kantons­polizei entschieden, teilte das 1.-Mai-Komitee vergangene Woche mit.

Im bürgerlichen Basel wird der Einsatz gegen die bewilligte Demonstration medial bejubelt: «Stephanie Eymann zeigt Profil – und die Linke versagt», titelte die «Basler Zeitung» einen Leitartikel von Chef­redaktor Marcel Rohr. Sicherheits­direktorin Eymann sei «auf dem Weg zum Star». Der 1. Mai sei politfreie Folklore, schrieb der BaZ-Chefredaktor, die Polizei habe nichts anderes getan, «als jegliche Form von Krawall im Keim» zu ersticken. Die stunden­lange Festsetzung der bewilligten Demonstration und die Angriffe der Polizei mit Gummi­schrot und Reizgas gegen die Teilnehmer beurteilte er so: «Mag sein, dass eine Teilnehmerin nicht viel mit dem Schwarzen Block am Hut hatte und trotzdem eine Ladung Reizstoff abbekam. Doch das sind Randnotizen. Wer sich zutraut, mit vermummten Chaoten vornweg zu marschieren, darf sich über Repression nicht beklagen.»

Andreas Noll, darf man sich in einem Rechts­staat wirklich nicht beklagen, wenn man an einer bewilligten, friedlichen Demonstration stundenlang von der Polizei eingekesselt, mit Reizgas besprüht und mit Gummi­schrot beschossen wird?
Was am 1. Mai in Basel passiert ist, war ein geplanter Angriff auf Demokratie und Rechts­staatlichkeit. Die Polizei hat sogar die SRF-«Rundschau» eingeladen, sie zu begleiten. Der Angriff ist Teil der Null-Toleranz-Strategie, die Polizei­kommandant Martin Roth vorgegeben hat und die von der «Basler Zeitung» komplett unkritisch mitgetragen wird. Sämtliche unbewilligten Demonstrationen der letzten Jahre, auch wenn sie friedlich verliefen, wurden von der Polizei eingepfeffert und eingeschrotet, Letzteres unter krasser Miss­achtung der vorgegebenen Mindest­abstände für Gummischrot. Am 1. Mai griff die Polizei nun eine friedliche und zudem bewilligte Demonstration an. In einem Fall griff ein Polizist zum Messer und verletzte eine Person am Bein. Die Polizei sagt, man habe ein Transparent zerschneiden wollen. Mindestens fahrlässige Körper­verletzung ist da gegeben, wenn nicht sogar vorsätzliche Körper­verletzung.

Wie erklären Sie sich das massive Vorgehen der Polizei?
Zuerst einmal: Demonstrations­freiheit heisst, dass man sich ohne behördliche Eingriffe versammeln und seine Meinung kundtun darf. Das ist ein rechts­staatlicher Grundsatz, an den man sich in Basel dringend erinnern müsste. Amnesty International sagt es eindeutig: Solange Demonstrationen friedlich sind, sind sie ein Grundrecht, ein Menschen­recht. Auch wenn sie nicht bewilligt sind.

Gibt es Ausnahmen?
Ein Urteil des Regional­gerichts Bern-Mittelland vom Oktober 2020, das sich mit der Recht­sprechung des Europäischen Gerichtshofs auseinander­setzt, sagt es unmissverständlich: Es müssen eindeutige gewalt­tätige Absichten und Aufrufe erkennbar sein, um friedlichen Demonstranten den Schutz der Grund­rechte zu entziehen. «Eine hypothetische Gefahr für Krawalle genügt nicht»: So steht es wörtlich im Urteil. Wenn Sie mich also angesichts dieser Fakten fragen, wie ich mir den Polizei­einsatz gegen die friedliche 1.-Mai-Demonstration erkläre, dann sage ich Ihnen Folgendes: Die Polizei hat wohl gehofft, dass es zur Eskalation kommt, um die Linke noch mehr zu diskreditieren. Es ist schliesslich Wahljahr. Die Polizei agierte dermassen provokativ und unverhältnis­mässig – es fällt mir keine andere Erklärung ein. Die Strategie ging deshalb nicht auf, weil die Demonstrierenden friedlich blieben. Das kennt man langsam.

Wie meinen Sie das: Das kennt man langsam?
Nehmen wir die nicht bewilligte, aber friedliche Klimademo vom Februar 2023, wo die Polizei aus nächster Nähe fast ununterbrochen mit Gummischrot auf die Demonstrierenden schiesst. Da fliegt von den Demonstrierenden nichts zurück. Die Leute bleiben friedlich. Die gehen einfach voran. Die wollen von ihrem Grundrecht Gebrauch machen, ihre Meinung kundzutun. Aber sie werden eingeschrotet und eingepfeffert.

Die Polizei teilte mit, sie sei von den Demonstrierenden angegriffen worden und habe mit Gummischrot reagiert.
Das behauptet die Polizei immer. Bei der «Basel nazifrei»-Demonstration von 2018 behauptete sie das auch so lange, bis aufgrund von Video­aufnahmen nicht mehr zu leugnen war, dass die Demo friedlich war, bis die Polizei unvermittelt Gummi­geschosse in die Menge feuerte. Teilweise auf Menschen, die vor der Polizei flüchteten.

zVg
«Die Leute bei der Klimademo bleiben friedlich. Aber sie werden eingeschrotet und eingepfeffert.»
Andreas Noll

Wie war das bei der Klima­demonstration vom vergangenen Februar?
Schauen Sie die Videos an: Die Demonstrierenden laufen mit einem Transparent durch die Strassen – und die Polizei schiesst ständig aus nächster Nähe Gummischrot in die Demo. Auf einem Platz steckten Aktivisten Kartons in Brand, aufeinander­gestapelte Klötze, die mit den Namen von Gross­konzernen dieser Welt beschriftet waren, jenen Konzernen, die den Klima­wandel vorantreiben. Zwei Meter daneben stand ein Aktivist mit einem Feuer­löscher. Es war eine Inszenierung, eine klare politische Botschaft. Man hat eben genau nicht die Hauptsitze von Glencore, Credit Suisse, Syngenta in Brand gesetzt, sondern ein symbolisches Feuer entfacht. Und dann auch nicht gesagt, es interessiert uns nicht, wenn das Feuer übergreift, sondern jemanden mit einem Feuer­löscher hingestellt.

Am 8. März, dem Weltfrauentag, griff die Basler Polizei eine friedliche Frauendemo an und schoss aus kurzer Distanz Gummi­geschosse in die Menschen. Einen Tag später zogen Anhänger des Fussball­vereins Slovan Bratislava durch Basel, zündeten Pyros und Böller, legten den Verkehr lahm. Der Umzug blieb friedlich, die Polizei hielt sich zurück. Man könnte sagen: ein verhältnis­mässiger Polizei­einsatz. Warum hält sich die Basler Polizei bei Fussball­fans, die unbewilligt durch die Stadt marschieren, an das Gebot der Verhältnis­mässigkeit, greift aber eine Frauendemo brutal an?
Das ist ein interessanter Punkt. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Im Frühling 2021 demonstrierten über tausend Fans des FC Basel gegen den damaligen Präsidenten Bernhard Burgener, gegen die Misswirtschaft im Verein und gegen seine Club­politik. Die Fans marschierten vom Barfüsser­platz bis an den Messeplatz, auf der ganzen Strassenbreite, Trams wurden blockiert. Auf den Videos sieht man nicht einen einzigen Polizisten. Und ich finde das auch richtig. Der Umzug hat bloss zu Verzögerungen im Tram­verkehr geführt. Das gibt es in einer Stadt halt manchmal. Ansonsten gab es keine Probleme.

Aber?
Ein halbes Jahr vorher kam es zu einer ähnlichen Situation. Mit dem Unterschied, dass Linke sich versammelten, um vor der Staats­anwaltschaft gegen die repressive Anklage im Nachgang zur «Basel nazifrei»-Demonstration zu protestieren. Die Protestierenden betraten für zwei, drei Minuten die Strasse, danach hielten sie sich auf dem Trottoir auf. Der Tramverkehr wurde nicht blockiert, und auf Videos kann man sehen, wie auch die Autos am Umzug vorbei­fahren können. Trotzdem kam die Polizei und kesselte 131 Personen ein wegen Verletzung der Verkehrs­regeln, des Betretens der Strasse abseits des Fussgänger­streifens. Den Leuten gab man während der Einkesselung nichts zu trinken, und als Aussen­stehende den Eingekesselten PET-Flaschen zurollten – das harmlose Zurollen ist mit Videos dokumentiert –, wurde dies von der Staats­anwaltschaft und der Polizei so dargestellt, die Polizei sei mit PET-Flaschen beworfen worden.

Fussballfans okay, politischer Protest nicht: Wie erklären Sie sich das?
Die bürgerliche Politik – die wirklich herrschende Politik in diesem Land – ist auf Demonstrationen nicht angewiesen. Sie hat die nötigen finanziellen Ressourcen und muss nicht auf der Strasse demonstrieren. Sie kann sich viel effektiver Gehör verschaffen, indem sie Prospekte bedruckt und in alle Haushalte im Land verschickt. Finanz­schwache politische Positionen haben diese Möglichkeiten nicht. Deshalb gibt es ja auch das Demonstrations­recht, die Versammlungs­freiheit, damit weniger mächtige, finanzschwache Bevölkerungs­schichten ihre Meinung nach aussen tragen können. Wenn dieses Recht immer mehr eingedämmt wird, führt das zu einem zusätzlichen Über­gewicht der finanz­stärkeren Positionen. Offensichtlich scheint man damit in Basel gut leben zu können.

Was antworten Sie den Leuten, die sagen, man müsse halt nicht in einem Umzug mitgehen, wo einzelne Personen auch vermummt seien?
Die Polizei marschiert auf und sagt, man wolle einen Teil einer Demonstration abspalten, weil dieser womöglich gewalt­tätig sein könnte. Die Polizei sagt damit auch, dass gewisse Leute kein Recht haben, zu demonstrieren. Eine Demonstration aber muss allen offenstehen. Und wenn jemand Gewalt ausübt, holt die Polizei diese Person raus. Aber sie kesselt nicht ganze Demonstrationen ein. Staatliches Handeln muss verhältnis­mässig sein. Das ist der Preis unserer Freiheit, den man in Basel offensichtlich nicht mehr zu zahlen bereit ist. Wenn man ein Graffiti, das an einer Demonstration gesprüht wird, aufzuwiegen beginnt gegen das Grundrecht der Versammlungs­freiheit, gegen das Recht, seine Meinung frei zu äussern, gibt es in diesem Land bald keine Demonstrationen mehr.

Wenn man keinen Ärger mit dem Staat will, nutzt man den öffentlichen Raum in Basel also besser einfach nur zum Shoppen, oder im ärgsten Fall für einen Fanmarsch, aber besser nicht zum Demonstrieren.
Was, wenn das der Zweck der Sache ist? Dass die Leute nicht mehr auf die Strasse gehen und aufhören, Missstände anzuprangern? Die Polizei fährt eine harte Linie, verfolgt die Leute mit exzessiven Strafen. Ich vertrete gerade einen Klienten, bei dem eine Strafe von einem Jahr gefordert wird. Der Mann war nicht gewalttätig, er nahm an Demonstrationen teil. Dafür wird er kriminalisiert. Wer also zum Beispiel wegen seines Jobs nicht in ein Straf­verfahren verwickelt werden will, demonstriert in Basel besser nicht mehr. Das Vorgehen der Basler Justiz hat einen gravierenden Chilling-Effekt. Friedliche Klima­aktivistinnen werden wie Verbrecher behandelt.

Wie meinen Sie das?
2019 entnahm die Basler Justiz flächendeckend die DNA von rund achtzig Personen, die friedlich gegen die Klimapolitik der UBS demonstrierten. Wir sind mit dem Fall bis vor Bundesgericht.

Was war passiert?
Die Aktivisten blockierten das Bankgelände, wobei die UBS dort gar keine Kunden mehr empfing. Es ist ein reiner Arbeitsort. Man warf den Aktivistinnen zahlreiche Delikte vor: Landfriedens­bruch, Nötigung, Sach­beschädigung. Wir einigten uns mit der UBS. Die Bank zog die Strafanträge zurück und unterzeichnete eine sogenannte Desinteresse­erklärung. Man habe kein Interesse an einer Straf­verfolgung. Die Antrags­delikte fielen dadurch weg, und somit waren auch die anderen Delikte vom Tisch. Denn Polizisten sagten aus, es habe eine friedliche Stimmung geherrscht. Ein Mitarbeiter der Bank, der als Zeuge auftrat, sagte, die Aktivisten seien sehr nett gewesen. Wirklich aber gar nichts von wegen Landfriedens­bruch.

Trotzdem hat man all diesen Leuten DNA entnommen?
DNA, Fingerabdrücke, Lichtbilder erstellt. Das Bundes­gericht hat dann klar gesagt: Nein, das geht nicht, was die Basler Justiz da macht – einfach flächen­deckend DNA nehmen, weil die scheinbare Gefahr einer zukünftigen Delinquenz bestehe. Und auch eine Vorstrafe genügt laut Bundes­gericht nicht mehr, wenn man nicht eigenhändig ein gewalt­tätiges Delikt verübt hat. Auch das habe ich erstritten. Einer meiner Klienten war wegen Landfriedens­bruch vorbestraft gewesen, aber nur wegen der Teilnahme an einer unbewilligten Demo, nicht wegen eigenhändiger Gewalt. Das Bundes­gericht befand, eine Vorstrafe wegen Teilnahme an einer Demo genüge nicht, um DNA zu entnehmen. Daraufhin musste die Basler Polizei alle DNA-Daten löschen.

Und daran hält man sich?
Offensichtlich ist die Polizei in Basel seit dieser Recht­sprechung davon weggekommen. Aber natürlich folgt auf das eine das Nächste. Diesen März wurde ein Klient von mir von der Staats­anwaltschaft erkennungs­dienstlich erfasst. Ich fragte ihn, ob man ihm DNA entnommen habe. Er verneinte. Ich fragte nach, ob sonst etwas womöglich Spezielles passiert sei, vielleicht bei der Fotografie. Ich hatte da nämlich so einen Verdacht. Und tatsächlich sagte er: Ja, die Polizisten hätten ganz stolz erzählt, sie hätten da eine neue Apparatur, eine Kamera, die geht rund um den Kopf und die beleuchtet einen von allen Seiten.

Wie bitte?
Mit der Apparatur werden 3-D-Gesichts­profile erstellt. Gesichts­erkennung ist in der Schweiz noch nicht zugelassen, es gibt keine gesetzliche Grundlage, aber in Basel zieht man offensichtlich bereits jetzt schon die Daten. Man legt die Gesichts­profile ab, und sollte einmal eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, hat man die Profile schon und kann darauf zugreifen.

Das EU-Parlament fordert ein Verbot der Gesichts­erkennung. In einer liberalen Demokratie habe diese Technologie nichts verloren.
Aber in Basel laufen die Vorbereitungen. Auch ohne rechtliche Grundlage. Im Fall meines Klienten habe ich inzwischen eine Beschwerde beim Appellations­gericht eingereicht. Gesichts­erkennung bedeutet Verfolgung in Echtzeit. Wenn sie zulässig wird, drückt man am besagten Tag, an dem die Technik in Kraft tritt, auf einen Knopf, dann gehen alle 3-D-Gesichts­profile online. Und die sind dann verbunden mit all den Kameras, die im öffentlichen Raum montiert sind. Somit ist jede Person verfolgbar, so weit diese Kamera­abdeckung reicht.

Staatsanwaltschaft bestätigt Nutzung von Gesichts­erkennungs-Technologie

Andreas Noll sagt, von einem seiner Klienten sei im März 2023 mit einer offenbar «neuen Apparatur» ein 3-D-Gesichtsprofil erstellt worden, und zwar bei der Staats­anwaltschaft – in Basel ist die Kriminal­polizei in die Staatswaltschaft eingegliedert. Noll gelangte daraufhin mit einer Beschwerde ans Basler Appellations­gericht. Es sei die Staats­anwaltschaft anzuweisen, heisst es darin, «die abgenommenen Rohdaten zwecks Erstellung eines Gesichtsprofils» auszusondern und zu vernichten. Ausserdem sei der Staats­anwaltschaft «die Erstellung eines Gesichts­profils zu untersagen».

Bei der Apparatur handelt es sich laut Nolls Schreiben um eine «Rundum-Kamera», «wo der Beschwerde­führer sich in die Mitte zu stellen hatte, die Kamera sich in einem 360-Grad-Bogen um den Kopf spann und diesen so in systematischer Art und Weise lückenlos scannte». Die Staats­anwaltschaft sammle Vorrats­daten, die gebraucht würden, sobald die Gesichts­erkennung gesetzlich zulässig sei. In gewissen Kantonen werde sie schon jetzt eingesetzt, obwohl die rechtliche Grundlage fehle. «Folglich besteht auch im Kanton Basel-Stadt nunmehr die reelle Gefahr, dass Gesichts­erkennung ohne gesetzliche Grundlage eingesetzt wird.»

Am 3. Mai ging die Stellungnahme der Staats­anwaltschaft Basel-Stadt ein. Sie liegt der Republik vor. Darin bestätigt die Staats­anwaltschaft, die Gesichts­erkennung eingeführt zu haben. «Zur konkreten Kamera lässt sich Folgendes ausführen: Das System erlaubt grundsätzlich, mit den aufgenommenen Bildern ein 3-D-Kopfmodell zu erstellen», heisst es. Das habe aber nichts mit «automatisierter Gesichts­erkennung» zu tun. «Die Staats­anwaltschaft verbittet sich den Vorwurf, flächen­deckend und vorratsdaten­mässig Rohdaten für die Gesichts­erkennung zu sammeln.» In diesem Fall habe man die 3-D-Kamera eingesetzt wegen einer möglichen «Fotowahl­konfrontation» mit einem Belastungs­zeugen.

Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt habe weder die rechtlichen noch die technischen Möglichkeiten einer Über­wachung, wie sie dem Rechtsvertreter des Beschwerde­führers nach seiner dystopischen Beschreibung vorzuschweben scheine. «Es ist äusserst unwahrscheinlich, dass so etwas in der Schweiz je zulässig sein würde. Es bestehen, wie es sich für einen Rechts­staat gehört, klare rechtliche Hürden und gesellschaftliche Widerstände.»

Der Entscheid des Appellations­gerichts Basel-Stadt bezüglich Löschung der Daten steht aus.

«Obwohl biometrische Daten laut Datenschutz­gesetz zu den besonders schützens­werten Personen­daten gehören, gibt es kein explizites Verbot zu deren Verwendung», heisst es in einer Mitteilung von Amnesty International Schweiz vom November 2021, die noch immer aktuell ist. «Das bedeutet zwar, dass es auch keine umfassende Erlaubnis gibt – eine gesetzliche Grundlage wäre für den Einsatz nötig. Trotzdem wird die Technologie bereits heute verschiedentlich eingesetzt», heisst es im Schreiben. «In anderen Ländern Europas wird die automatische Gesichts­erkennung bereits zur Durchführung einer Massen­überwachung im öffentlichen Raum eingesetzt. Diese Entwicklungen lassen befürchten, dass auch bei uns bald ein solch grossflächiger Einsatz gesetzlich erlaubt wird.»

Basel geniesst einen weltoffenen Ruf. Bei genauer Betrachtung beschleicht einen das Gefühl, dass Basel ein dystopisches Labor für Repression ist, wo mit Blick auf unsichere Zeiten Grundrechte sorglos beiseite­geschoben werden.
Der sorglose Umgang mit der Einschränkung von Grund­rechten betrifft nicht nur Basel. Der sogenannte Schwarze Block hat ein dermassen schlechtes Image in der Öffentlichkeit – die randalieren ja nur, haben gar keine wirklichen politischen Anliegen –, dass man sagt: Die haben ihre Grundrechte verwirkt. Da wird ein Feindbild gepflegt, und die übrige Bevölkerung merkt deshalb gar nicht, dass da an unser aller Grund­rechten und Grund­freiheiten geritzt wird. Man muss sich Grund­rechte als Staumauer vorstellen, und an dieser Mauer wird seit Jahrzehnten geritzt, sie wird immer brüchiger, immer dünner. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Staudamm bricht. Das ist der Mechanismus. So funktioniert Macht.

Sie haben wiederholt den Rücktritt der Basler Sicherheits­direktorin Stephanie Eymann gefordert: Warum?
Lassen Sie mich ausholen.

Bitte.
Die Polizei ist keine Erfindung eines demokratischen Rechts­staates, weiss Gott. Die Polizei kann kippen. Totalitäre Staaten haben auch eine Polizei. Und der springende Punkt dabei ist: Die Polizei hält sich an Befehle, und diese Befehle kommen aus der Politik. Die Art und Weise, wie die Polizei agiert, ist immer ein Spiegel der Politik und des Demokratie- und Rechtsstaats­verständnisses der Politik. Und in diesem konkreten Einzelfall von der Basler Sicherheits­direktorin Stephanie Eymann. Sie trägt die oberste Verantwortung für das, was in Basel passiert. Und entweder ist sie zu schwach, um sich gegen die Polizei durchzusetzen, oder es ist politisches Kalkül, um mit einer harten Linie ihre Wiederwahl im Herbst zu sichern. Was in einem demokratischen Rechts­staat ein absolutes No-go wäre.

Was ist mit dem Basler Polizei­kommandanten Martin Roth?
Er ist ein Hardliner und der Überzeugung, dass man Auswüchse unserer liberalen Gesellschaft korrigieren müsse. Er sollte am besten noch heute abtreten. Ich weiss aus Polizei­kreisen, dass es dort auch Stimmen gibt, die der Meinung sind, dass viel Eskalations­potenzial verschwinden würde, würde man den polizeilichen Einsatz­zug auflösen. Das ist in Basel der Schläger­trupp der Polizei. Gegen einen Schläger­trupp ist insofern nichts einzuwenden, wenn der vernünftig und bedacht nach dem Verhältnis­mässigkeits­prinzip eingesetzt wird. Aber das ist in Basel klar nicht der Fall. Da gibt es offenbar zahlreiche Leute im Zug, die drauf stehen, wenn es knallt.

Inzwischen gibt es mit Blick auf den 1. Mai mindestens 54 Personen, die rechtlich gegen den Polizei­einsatz vorgehen werden. Was heisst das konkret?
Zuerst einmal zeigt der Polizei­einsatz ein grund­sätzliches Problem auf, mit dem ich schon konfrontiert war: Ich vertrete einen Jugendlichen, dem aus heiterem Himmel ein Polizist Reizgas in die Augen sprühte, während er einen Polizei­einsatz filmte. Ich erstattete Straf­anzeige, aber die Staats­anwältin teilte mir nach zwei Jahren mit, man müsse das Verfahren einstellen, der Polizist könne nicht eruiert werden. In Basel sind die Erkennungs­marken für Polizei­beamte winzig, praktisch unleserlich. Man muss ein wahnsinnig gutes Standbild haben, um sie lesen zu können.

Was taten Sie dann?
Ich schaute systematisch alle Videos vom Einsatz durch, und da sah ich, dass derjenige Polizist, der meinem Klienten Reizgas in die Augen sprühte, eine PET-Flasche mit einem roten Verschluss­deckel eingesteckt hatte und ein Jura-Wappen auf dem Magazin­boden seiner Dienstwaffe trug. Er war zudem nicht mit einer Einheit beschriftet. All das traf nur auf einen Beamten zu. Und in einem Video erkannte man seine Ordnungs­nummer. Ich ging zur Staats­anwältin und sagte: Hier, eruiert, jetzt führen Sie bitte ein Verfahren.

Was antwortete sie?
Dass sie trotzdem einstelle.

Wie bitte?
Ich legte Beschwerde ein, und das Appellations­gericht entschied, die Staats­anwaltschaft müsse den Polizisten eruieren. Das Verfahren läuft jetzt.

Was ist nun das grundsätzliche Problem, das der Polizei­einsatz am 1. Mai aufzeigte?
Natürlich stellt sich einerseits die Frage, wer den Einsatz angeordnet hat: Sicherheits­direktorin Eymann oder Kommandant Roth oder beide? Wer es auch immer war, hat sich in meinen Augen strafbar gemacht. Und dann sind natürlich Strafanzeigen gegen die Polizei­beamten möglich, zum Beispiel gegen jenen Polizisten, der mit einem Messer einen Demonstrierenden verletzte. Und gegen all jene Beamten, die Reizgas und Gummi­schrot gegen die Demonstrierenden einsetzten. Wenn man nun aber gegen die einzelnen Polizisten Strafanzeigen machen will, muss man sie identifizieren. Und da sind wir wieder bei den Ordnungs­nummern, die man fast nicht lesen kann. Die Polizei, die sich in den letzten Jahren immer mehr militarisiert hat, bildet von aussen betrachtet einen schwarzen Mob. Die Polizei ist in Basel der eigentliche Schwarze Block. Mit ihren Visieren und Helmen, mit ihren Kampf- und Schutz­kleidern kann man keinen vom anderen unterscheiden.

Was, neben der genannten Körper­verletzung mit dem Messer, würden Sie denn zur Anzeige bringen wollen?
Aus juristischer Sicht stellt sich die Frage, ob neben der Körper­verletzung die Straftat­bestände des Landfriedens­bruchs und des Angriffs zutreffen. Insbesondere beim Angriff verhält es sich so: Wer dabei war, ist mitschuldig. Beim Landfriedens­bruch ist das Charakteristische, dass jemand aus der Anonymität heraus Straftaten begeht. Und genau das ist es, was am 1. Mai von­seiten der Polizei passiert ist. Es herrschte eine aggressive Grund­stimmung, man hat versucht, zu eskalieren, hat Gewalt ausgeübt, und zwar nicht nur vereinzelt, sondern mit vereinten Kräften, wie es im Gesetz zum Landfriedens­bruch so schön heisst.

Würde es denn helfen, wenn die Polizei­beamten einfacher zu identifizieren wären?
Ja, das ist offensichtlich. Es hätte aber noch eine andere Wirkung: Wenn jeder Polizist eine grosse Nummer auf Brust und Rücken tragen müsste und somit aus zehn Metern Entfernung identifizierbar wäre, welcher Polizist was gemacht hat, würde mit Sicherheit viel weniger Gummi­schrot verschossen, würde viel weniger Reizgas eingesetzt, und der mit dem Messer hätte am 1. Mai niemals einen Menschen verletzt. Die Polizei­beamten handelten derart aggressiv, weil sie aus der Sicherheit der Anonymität heraus auf die Leute einwirken konnten.

Von den Basler Behörden war bisher kein Wort des Bedauerns zu hören. Auch wenn deren Polizei­einsätze inzwischen auch schon Amnesty International beschäftigen.
Es macht mir Angst, dass Grundrechte inzwischen so systematisch ausser Kraft gesetzt werden. Unsere Zukunft wird offensichtlich nicht einfacher, mit Blick auf den Klima­wandel beispiels­weise. Wo landen wir, wenn sich staatliches Handeln über das Gebot der Verhältnis­mässigkeit hinwegsetzt? Wie wird unsere Polizei erst dreinfahren, wenn die gesellschaftlichen Spannungen zunehmen? Wenn wir diesen dunklen Vorboten jetzt keinen Riegel schieben, diesem Einreissen von Polizei­gewalt und Angriffen auf unsere Grund­rechte, breitet sich das immer mehr aus.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: