Annäherungen an die Kritische Zone

Diese Woche beginnt die Architektur­biennale in Venedig. Unser Gast­autor erkundete das Gelände schon im Februar – und stiess in den verlassenen Pavillons auf Denk­bilder über unser Verhältnis zur Natur.

Von Michael Hagner, 16.05.2023

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Vorgelesen von Jonas Gygax
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In memoriam Bruno Latour

Von der amerikanischen Autorin Mary McCarthy stammt die Beobachtung, dass alles, was in Venedig geschieht, den Charakter des Unwahrscheinlichen an sich hat. Als Symbol für diese Unwahrscheinlichkeit benennt sie die Gondeln, die sich jeder Form der Motorisierung beharrlich widersetzen. Als Gegenstück zu dieser schönen Unwahrscheinlichkeit erscheinen uns heute vielleicht die Kreuzfahrt­schiffe, in deren Bauch die ganze Stadt Platz zu haben scheint. Sie bestätigen die Richtigkeit einer anderen Beobachtung McCarthys, dass nämlich alle Dinge dieser Welt ihre essenzielle Absurdität offenbaren, wenn sie in den venezianischen Kontext gestellt werden.

Mit solchen Gedanken nähere ich mich den Giardini, von denen ich jetzt weiss, dass man sie im Sommer und im Winter besuchen sollte: im Sommer, wenn die Nationen sich in ihren Pavillons präsentieren und weniger voreinander als vor Venedig zu bestehen versuchen; im Winter, wenn die Pavillons verrammelt sind und das Gelände zum wasteland mutiert, das für immer sich selbst überlassen zu sein scheint.

Genau so komme ich mir vor, als ich in diesem Februar, zur Karnevalszeit, den Garten des Schweizer Pavillons betrete, der von Laub, Zweigen und Vogeldreck bedeckt ist. Der erste Blick fällt auf die Reste einer Taube, die dort seit Wochen liegen muss. Das Auge, das gerade hier eine so grosse Lust auf Schönheit entwickelt, bleibt zunächst am Ekligen hängen, doch wie beim Wunderblock bewirkt das schockartige Auswischen der alten Eindrücke, dass Platz für die neuen entsteht.

Im Garten des Pavillons begebe ich mich in die Ecke, die das Epizentrum der diesjährigen Ausstellung darstellen wird: eine (Schweizer) Mauer zur einen Seite, zur anderen ein (Schweizer) Gitter, hinter dem wiederum eine (venezolanische) Mauer steht, mit der es eine besondere Bewandtnis hat. Denn zwischen ihrem einen Ende und der Wand des Schweizer Pavillons befindet sich eine Lücke, durch die man von einem Gelände ins andere schlüpfen kann. Die Lücke allerdings ist durch das Schweizer Gitter irgend­wann geschlossen worden. Diese Grenze zwischen der Schweiz und Venezuela ist eine der essenziellen Absurditäten, für die man nach Venedig reisen muss.

Eine Backsteinmauer trennt den Schweizer Pavillon (Vordergrund) von dem Venezuelas (Hintergrund). KS 2023

Im Traum wäre ich nicht darauf gekommen, Mauer und Gitter meine Aufmerksamkeit zu schenken, doch je näher ich an dieses Grenz­ensemble herantrete, desto mehr interessiert es mich. Was bislang für mich belanglos war, transformiert sich in etwas, das mich angeht. Übrigens ist diese Annäherung nichts, was einfach so geschieht. Der Anstoss erfolgt häufig (und so auch hier) durch die Kunst, und alles hängt davon ab, ob ich in der Lage bin, das zuzulassen. Dabei ist es keineswegs so, dass ausschliesslich Kunst die Augen öffnet. Das kann auch die Taube.

Einer der schönsten Sätze in Joseph Brodskys Venedig-Buch «Ufer der Verlorenen» lautet:

Vielleicht ist Kunst schlicht die Reaktion eines Organismus gegen die Grenzen seines Bewahrungs­vermögens.

So steht es in dem Kapitel, in dem Brodsky dem Winter­licht in dieser Stadt hinterherspürt.

Kunst setzt also da ein, wo das Gedächtnis die Sinnes­eindrücke nicht mehr verarbeiten kann. Sie hält fest, was wir nicht mehr sehen, um genau das Ungesehene sichtbar zu machen. Das kann sie tun, indem sie etwas wegnimmt, zum Beispiel eine Mauer. Eine Mauer abzuräumen, ist eine Wette auf die Unwahrscheinlichkeit, dass Mauern irgendwann überflüssig werden.

Nun erst fällt mir auf, dass das Schweizer Pavillon­gelände auf allen Seiten von einer Mauer umgeben ist. Damit kann keine andere Nation in den Giardini dienen. Ich beginne mich auf die Mauer­steine zu konzentrieren und auf die Verankerung, welche das Gitter mit der Mauer verbindet, die für die diesjährige Biennale abgetragen werden soll. Die schmalen Gräben, die nicht von Stein­platten bedeckt sind, stellen die Zonen dar, in denen das eine Grundstück in das andere übergeht. Wo verläuft die Grenze? Ganz genau lässt sich das nicht sagen, aber gewiss wird sie dadurch hervor­gehoben, dass sie abgebaut wird. Erst ihre Abwesenheit macht ihre Präsenz deutlich.

Ich muss an die Anekdote von den beiden Hunden denken, die durch einen Zaun voneinander getrennt sind und immer wild aufeinander losgehen, wenn sie sich sehen. Eines Tages rennen sie wieder kläffend aufeinander los, bis sie bemerken, dass der Zaun verschwunden ist. Für einen Moment sind sie erstarrt, dann schleichen sie betroffen davon.

Verschiebt man die Aufmerksamkeit von der horizontalen Achse in die vertikale, landet man im Untergrund und denkt an den Begriff der «Kritischen Zone», der seit seiner Popularisierung durch den kürzlich verstorbenen Bruno Latour auch ausserhalb der Klima­wissenschaften angekommen ist. In der Geochemie versteht man darunter jene «dünne Schicht zwischen Oberfläche des unverwitterten Gesteins und der Spitze der Vegetation. Sie umfasst Boden, Grund­wasser und Pflanzen.»

Das Besondere an dieser Schicht ist das Aufeinander­treffen von organischer und anorganischer Natur, von Steinen, Pflanzen und Tieren. Wie die critical zone im Detail funktioniert, ist noch nicht so genau verstanden, aber dass sie für das terrestrische Leben entscheidend ist, scheint unbestritten zu sein. Und dass diese Zone durch menschlichen Raubbau in Mitleidenschaft gezogen ist, wird keine Klima­wissenschaftlerin in Zweifel ziehen.

Blick vom venezolanischen zum Schweizer Pavillon. Martin Lauffer
Für die Eidechse ist Abtrennung ohne Belang. Tobias Becker

Für Latour bedeutet die critical zone noch etwas mehr. Sie meint nicht Natur da draussen, die man wie eine ferne Galaxie untersucht, sondern eine dünne Schicht, deren Teil wir sind und die uns betrifft: Sie ist nicht matter of fact, sondern matter of concern, und das heisst auch, dass hier verschiedene Akteurs­gruppen mit unter­schiedlichen Interessen ins Spiel kommen. Deswegen sind Kritische Zonen Konflikt­herde, deren wissenschaftliche Erforschung Dispute auslösen kann. Boden­beschaffenheit, Erdgetier, Pilze, Wurzel­systeme von Bäumen oder Wasser­zirkulation sind Gegenstände der Wissenschaften von der Kritischen Zone. Und zugleich, so schreibt Latour, kämpfen «diese Wissenschaften mit zahllosen anderen Beteiligten mit entgegen­gesetzten Interessen um Legitimität und Autorität».

Ich wende meinen Blick von der absurden Mauer ab und hin zu der unwahrscheinlichen Platane, die sich mitten im Schweizer Garten erhebt – leider nicht mehr lange. Die Äste des von einem Pilz befallenen, abgestorbenen Baumes zeigen sich in einer morbiden Schönheit, bevor alles in sich zusammen­bricht. So erlebe ich den Auftritt der drei Baumfäller, die mit Laster, aufmontierten mobilen Kränen und Ketten­sägen anrücken und den Baum behutsam in kleine Stücke zerlegen.

Platanen können 250 Jahre alt werden. Das Abzählen der Jahresringe legt nahe, dass dieser Baum etwas über 200 Jahre hinter sich hat. Ein napoleonischer Würdenträger also, der 1810 während der kurzen französischen Herrschaft mit all den anderen Platanen gepflanzt wurde, die die Giardini auch heute noch charakterisieren. Beim Spazieren durch das Gelände bemerke ich, dass hier und da Stümpfe mit enormem Umfang nur noch knapp aus der Erde herausragen: ideale Sitz­gelegenheiten oder Tische fürs Picknick. Mit Latour kann man sie als stumme Zeugen einer Moderne betrachten, welche die ganze Natur in Objekte eingeteilt hat, die nicht reagieren können, sondern nur funktionieren sollen.

Im Schweizer Garten wird die auf ungefähr fünf Meter gestutzte Platane als Holzskulptur Teil des entstehenden Ensembles. Natürlich stelle ich mir die Frage nach der Intaktheit der Kritischen Zone in diesem Bereich. Hat der Baum das Alter erreicht, in dem der Pilz leichtes Spiel hatte, oder sind auch anthropogene Faktoren mitverantwortlich? Wie sieht es unter der Erde aus? Reichen die Wurzeln der Platane bis nach Venezuela?

Den Wurzeln, den Mikroben und dem Erdgetier dürften die Mauern ziemlich egal sein. Über die subkutanen Verbindungen der Bäume, dieses rhizomatisch wuchernde Wurzelwerk als Medium der pflanzlichen Kommunikation, lassen sich schöne Geschichten erzählen. Bevor man aber daraus ein verbindliches Argument strickt, wartet man besser noch ein paar wissenschaftliche Unter­suchungen ab, ob und in welcher Weise eine solche Kommunikation existiert.

Eindeutige Antworten sind in den Wissenschaften selten zu haben. Latour hatte aber sicherlich recht, wenn er unermüdlich darauf hinwies, dass Natur und Kultur, Ökologie und Zivilisation, Boden und Architektur, Bäume und Steine, Politik und Wissenschaft nur noch unter Preisgabe unserer Lebens­grundlagen voneinander zu trennen sind. Der künstlerische Eingriff in den Schweizer Pavillon ist insofern eine subtile Annäherung an diese Assemblagen, als im Wegnehmen die Raster, Pflaster und Kataster einer übersättigten Zivilisation zum Vorschein kommen. Mit wenigen wie magisch erscheinenden Hand­griffen wird die Fassade des Pavillons zum Verschwinden gebracht; stattdessen kommt eine Kritische Zone zum Vorschein, in der sich die vertikale und die horizontale Achse, Natur und Kultur miteinander verschränken, während zugleich die Vorstellungen von Grenzen und Identitäten ins Rutschen geraten.

Als ich die Giardini verlasse, hat das den Abend ankündigende Winterlicht die Aufnahme­bereitschaft und das Bewahrungs­vermögen des Auges noch einmal verstärkt. Ich träume davon, dass man eines Tages als Reisender die Lagunen­stadt vom Festland aus nur noch mit Gondeln erreichen kann.

Zum Autor und zur Ausstellung

Michael Hagner ist Professor für Wissenschafts­forschung an der ETH Zürich. Bekannt wurde er durch seine Unter­suchungen zur Geschichte der Neuro­wissenschaften. Zuletzt erschien von ihm das Buch «Foucaults Pendel und wir». Die englische Fassung dieses Essays erscheint im Katalog zum Schweizer Pavillon der diesjährigen Architektur­biennale in Venedig («Neighbours», heraus­gegeben von Karin Sander und Philip Ursprung, Park Books, Zürich 2023).

Die Architekturbiennale dauert vom 20. Mai bis 26. November 2023.

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