Die Macht der Maschinen
Ein Achtsekundenfilm, hochgeladen auf einem Instagram-Account. Der Inhalt: Kinderpornografie. Dank internationaler Kooperationen kommt ein Verdächtigter in Solothurn vor Gericht. Sind die Beweise stichhaltig genug, um ihn schuldig zu sprechen?
Von William Stern, 22.03.2023
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Auf Foren, mittels verschlüsselter Mailverteiler und in Chats wird täglich tausendfach kinderpornografisches Material gesucht, geteilt, angeschaut, herauf- oder heruntergeladen. Mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke haben sich die Kanäle zur Verbreitung von Kinderpornografie vervielfältigt. Auch das Grooming, die Annäherung von Erwachsenen an Minderjährige zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, ist einfacher geworden. Und die Corona-Pandemie hat laut Expertinnen noch einmal zu einer deutlichen Zunahme des Konsums von kinderpornografischem Material im Netz geführt.
Ohne die weitreichenden digitalen Überwachungsmassnahmen von US-Techfirmen wie Instagram und Co. wäre der Fall, um den es hier geht, wohl nie vor ein Gericht gekommen. Sie sind es, die – über Umwege – den Strafverfolgungsbehörden in der Schweiz die Daten zur Verfügung stellen, die einen Anfangsverdacht begründen können. Darüber, ob diese Daten auf rechtmässige Art und Weise erhoben wurden und vor Gericht verwertbar sind, lässt sich streiten.
Zwar ist in der Schweiz aktuell kein Gesetzesvorstoss zur digitalen Massenüberwachung geplant. Aber das könnte sich bald ändern. Mit der sogenannten Chatkontrolle sollen Anbieter von E-Mail-, Messenger- und Chatdiensten in der EU verpflichtet werden, die Chats ihrer Nutzerinnen systematisch zu durchleuchten. Das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Netz befindet sich aktuell zur Debatte in der EU-Kommission. Würde es angenommen, könnte auch die Schweiz unter Druck kommen, ihre Gesetze anzupassen.
Serdar Günal Rütsche ist Cybercrime-Chef der Zürcher Kantonspolizei und als Leiter von Nedik (dem «Netzwerk digitale Ermittlungsunterstützung Internetkriminalität») gemäss Schweizer Fernsehen der «höchste Cyberpolizist der Schweiz». Auf die Frage, ob eine flächendeckende, verdachtslose Überwachung des Internets verhältnismässig sei, sagt Rütsche in einem SRF-Dokumentarfilm: «Wenn die Technik das ermöglicht, muss man das auch laufen lassen.» Für Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und IT-Expertin, ist das «absurd»: «Das wäre ähnlich, wie wenn man täglich eine Hausdurchsuchung bei allen Menschen machen würde, um zu schauen, ob sie zu Hause ein Kind vergewaltigen», so Bellaiche im gleichen Fernsehbeitrag.
Es gibt Jahr für Jahr millionenfache Hinweise auf automatisch generierte Beweismittel – aber sind sie vor Gericht verwertbar?
Ort: Obergericht Solothurn
Zeit: 8. März 2023, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: STBER.2022.64
Thema: Harte Pornografie
Acht Sekunden dauert das Video, das Nedim Kaya, der in Wirklichkeit anders heisst, an diesem Mittwochmorgen ins Amtshaus 1 in Solothurn führt. Auf dem Film zu sehen ist gemäss Anklageschrift: ein Mädchen, «eindeutig im Schutzalter» stehend, das mit heruntergelassener Hose einen «ebenfalls eindeutig im Schutzalter stehenden Jungen» oral befriedigt. Während ein weiterer minderjähriger Junge «seinen Intimbereich von hinten gegen das Gesäss das Mädchen drückt und Stossbewegungen mit der Hüfte macht». Ob jener Geschlechtsverkehr echt oder bloss simuliert ist, ist unklar.
Das Video wurde am 26. Dezember 2019, «circa um 23 Uhr 27», mit einem Mobiltelefon auf den auf Nedim Kaya registrierten Instagram-Account hochgeladen. Damit hat sich Kaya der harten Pornografie nach Artikel 197 des Strafgesetzbuchs – dem Zugänglichmachen von Kinderpornografie – strafbar gemacht, so die Einschätzung der Staatsanwaltschaft.
Von Virginia nach Solothurn
Kinderpornografie ist spätestens seit dem Aufkommen des Internets ein weltumspannendes Problem. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass auch die Bekämpfung von sexuellem Kindsmissbrauch nicht an Landesgrenzen Halt macht. Dass sich Nedim Kaya, der an diesem regnerischen Morgen im dritten Stock des Obergerichts Solothurn zusammen mit seinem Verteidiger vor dem Verhandlungssaal wartet, vor Gericht verantworten muss, wäre ohne das Mitwirken und das Zusammenspiel einer Vielzahl von Akteuren, privaten wie staatlichen, nicht denkbar.
Eine Organisation, das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) in Alexandria, Virginia, ist dabei federführend.
Ihr Auftrag: entführte Kinder aufzuspüren, das Bewusstsein für Kindsentführungen in der Bevölkerung zu stärken und die Behörden bei den Ermittlungen zu unterstützen.
NCMEC ist eine gemeinnützige, private Organisation, wird aber vom US-Justizministerium finanziell grosszügig alimentiert. Sie fungiert als eine Art Schaltstelle oder Clearinghouse: Unternehmen und Private können Hinweise auf Kinderpornografie mittels eines sogenannten «Cyber-Tipline-Reports» ans NCMEC weiterleiten. Die Organisation prüft diese Hinweise – die meist auf Videos, Fotos oder Chatverläufen basieren – und verteilt sie an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden.
2021 gingen so 29,3 Millionen Hinweise ein, 7180 davon betrafen die Schweiz.
«Rein theoretischer Natur»
Auch das Video, das auf Kayas Instagram-Kanal hochgeladen wurde, durchlief die Clearingstelle von NCMEC. Gemeldet wurde es von Instagram, das wie Facebook und andere Social-Media-Plattformen in den USA seinen Datenverkehr systematisch auf kinderpornografisches Material durchforstet.
Diese Suche erfolgt aufgrund der riesigen Datenmenge automatisiert, mittels algorithmusgesteuerter Software. In einem Archiv mit gespeicherten Videos und Bildern mit kinderpornografischem Inhalt werden «Hashwerte» zugeordnet: eine fürs menschliche Auge nicht interpretierbare Zahlenabfolge. Erkennt die Scansoftware bei einem Video oder Foto im Netz eine Übereinstimmung von «Hashes», wird ein «Cyber-Tipline-Report» erstellt; darauf sind unter anderem IP-Adresse, E-Mail-Adresse, Username und Uploadzeitpunkt aufgeführt.
Dieser Report muss anschliessend von Gesetzes wegen ans private NCMEC weitergeleitet werden. Führt die IP-Adresse ins Ausland, überweist die Organisation den Report an die entsprechende Strafverfolgungsbehörde – im Fall der Schweiz ans Bundesamt für Polizei, das Fedpol. Von diesen 7180 Verdachtsmeldungen werden nur gerade rund 1700 an die kantonalen Polizeikorps weitergeleitet. Der Rest ist in der Schweiz strafrechtlich nicht relevant: zum Beispiel Ferienfotos von nackten Kindern, bei denen die Geschlechtsorgane nicht im Vordergrund sind, oder einvernehmliche erotische Kommunikation, «Sexting» genannt, zwischen Minderjährigen.
Schuldig – auch ohne Video
Kaya, 29 Jahre alt, ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist in der Schweiz zur Welt gekommen, hier aufgewachsen, hat im Kanton Solothurn seine Lehre absolviert. Vor Verhandlungsbeginn plaudert er entspannt mit seinem Verteidiger. Unter dem Arm trägt er eine schwarze Mappe, die Haare sind an den Schläfen kurz geschoren, der Bart modisch gestutzt. Falls er nervös sein sollte, lässt er sich dies nicht anmerken. Kaya arbeitet Teilzeit als Sachbearbeiter in der Finanzbranche, 40 bis 50 Prozent, die restliche Zeit kümmert er sich um seine kranke Mutter.
Auf Kayas Mobiltelefon wurde das fragliche Video trotz forensischer Datensicherung des Fedpols nie gefunden. Kaya hatte seinen Gerätecode nicht bekannt gegeben, was sein gutes Recht ist. Durchforsten die Strafverfolger ein Gerät ohne Zugang zum Code, finden sie nur etwa 20 bis 30 Prozent aller gespeicherten Daten, wie es in einem Fedpol-Bericht heisst.
Die Vorinstanz, das Amtsgericht Olten-Gösgen, hatte Kaya dennoch schuldig gesprochen und zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt. Es folgte der Begründung der Staatsanwaltschaft, die es als erwiesen ansah, dass Kaya das Video auf seinen Instagram-Account hochgeladen hatte. Nutzername, E-Mail-Adresse, Profilbild und Telefonnummer stimmten mit Kayas Daten überein. Zudem wurde das Video gemäss Report in der Nähe des Wohnorts des Beschuldigten hochgeladen.
Für das Amtsgericht waren diese Beweise ausreichend. «Rein theoretischer Natur» sei die von der Verteidigung vorgebrachte Möglichkeit, dass eine Drittperson Kayas Instagram-Account verwendet und das Video hochgeladen hätte, heisst es in der Urteilsbegründung des Amtsgerichts.
Der Witz vom Bankräuber
Nedim Kaya sagt zu all diesen Vorwürfen: nichts. Er verweigerte während des gesamten Verfahrens die Aussage. Das ändert sich auch bei der Befragung vor Obergericht nicht. Einzig zu seiner Person gibt Kaya Auskunft, wenn auch ohne grosse Begeisterung. «Das können wir machen», sagt der 29-Jährige auf die entsprechende Frage des Referenten, Oberrichter Christian Werner.
Das Reden überlässt der 29-Jährige seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Konrad Jeker.
Als er sich das erste Mal in diesen Fall vertieft habe, sagt Jeker, sei ihm gleich der Witz vom Bankräuber in den Sinn gekommen, der beim Überfall am Bankschalter verlangt, das Geld auf sein eigenes Bankkonto zu überweisen.
Für Jeker steht fest: Sein Mandant hätte niemals augenscheinlich verbotenes Material auf seinen Account hochgeladen.
Darüber hinaus, macht der Verteidiger geltend, seien die vorhandenen Beweise nicht verwertbar. «Alles, wirklich alles basiert in diesem Fall auf den Angaben des ‹Cyber-Tipline-Reports›.» Diese Angaben seien aber einer richterlichen Überprüfung nicht zugänglich, weil es ein automatisch erstellter Bericht einer ausländischen privaten Organisation sei. «Sie, die Richter, können das nicht beurteilen, ich kann das nicht beurteilen.» Nicht einmal NCMEC, die Clearingstelle, prüfe das Material. «Das ist rechtsprozessual unhaltbar.» Der Report, auf dem das ganze Verfahren beruhe, sei «beweisrechtlich eine absolute Nullnummer».
Ein fetter Strich durchs Einbürgerungsgesuch
Nur schon Ermittlungen wegen Verdachts auf Kinderpornografie können bei Betroffenen schwerwiegende Folgen haben. Die Republik berichtete letzten Dezember über den Fall eines Mannes in San Francisco, der irrtümlicherweise ins Visier der Strafverfolgungsbehörden geriet. Zwar wurde das Verfahren nach einem Jahr eingestellt, die privaten Daten, die den Behörden von Google zur Überprüfung überlassen worden waren, wurden jedoch unwiderruflich gelöscht, das E-Mail-Konto des Mannes bleibt gesperrt. Solche false positives, befürchten Kritikerinnen, dürften bei einer Einführung der Chatkontrolle gehäuft auftreten.
Bei einer Verurteilung wegen Kinderpornografie in der Schweiz sind die Folgen noch gravierender: Erstens wird automatisch ein lebenslanges berufliches Verbot einer Tätigkeit mit Kindern verhängt. Zweitens führt eine Verurteilung bei Ausländern zwingend zum Landesverweis, da harte Pornografie eine im Strafgesetzbuch aufgeführte Katalogtat ist.
Zwar kann das Gericht in besonders leichten Fällen vom Tätigkeitsverbot absehen und bei einem Härtefall auch auf die Landesverweisung verzichten. In der Praxis zeigt sich aber, dass gerade bei der Anwendung des Tätigkeitsverbots richterlicher Wildwuchs herrscht.
Im Fall von Nedim Kaya hatte das Amtsgericht auf ein Tätigkeitsverbot verzichtet: weil es sich «in objektiver Hinsicht» um einen leichten Fall handle und bei Kaya keine Anhaltspunkte für eine pädophile Neigung erkennbar seien. Auch hatte es davon abgesehen, den 29-Jährigen des Landes zu verweisen – «seine engsten familiären Beziehungen hat er allesamt in der Schweiz», wie es im schriftlichen Urteil der Vorinstanz heisst. Allerdings hat das Verfahren Kaya einen «fetten Strich durch sein Einbürgerungsgesuch gemacht», wie es Verteidiger Jeker vor dem Obergericht unmissverständlich formuliert.
Geringer Beweiswert
Das Obergericht verkündet sein Urteil noch gleichentags. Während es draussen hartnäckig nieselt, spricht Oberrichter Christian Werner um exakt 16.05 Uhr Nedim Kaya vom Vorwurf der harten Pornografie frei. Anders als Verteidiger Jeker geht das dreiköpfige Gericht davon aus, dass der «Cyber-Tipline-Report» zwar grundsätzlich verwertbar sei. Eine erhöhte Glaubwürdigkeit komme ihm aber nicht zu; der Beweiswert sei gering, nicht zuletzt, weil unklar ist, ob der Report überhaupt von einer natürlichen Person überprüft worden sei.
Vor allem aber hätten «die in der Schweiz durchgeführten Ermittlungshandlungen keine relevanten Belastungen hervorgebracht». Das inkriminierte Video wurde bei Kaya nie gefunden. «Der Verdacht, dass der Beschuldigte die Videodatei auf Instagram hochgeladen hat, kann nicht erhärtet werden.»
Die Verfahrenskosten von insgesamt 5553 Franken gehen zulasten des Staates, Gleiches gilt für die Kosten der Verteidigung, die 7735 Franken und 35 Rappen betragen. Auf eine Entschädigung hatte Kaya verzichtet.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es könnte vor Bundesgericht gezogen werden.
Illustration: Till Lauer