Am Gericht

Die Macht der Maschinen

Ein Achtsekundenfilm, hochgeladen auf einem Instagram-Account. Der Inhalt: Kinder­pornografie. Dank internationaler Kooperationen kommt ein Verdächtigter in Solothurn vor Gericht. Sind die Beweise stichhaltig genug, um ihn schuldig zu sprechen?

Von William Stern, 22.03.2023

Vorgelesen von Jonas Gygax
0:00 / 15:32

Ihnen liegt etwas am Rechtsstaat? Uns auch. Deshalb berichten wir jeden Mittwoch über die kleinen Dramen und die grossen Fragen der Schweizer Justiz.

Lesen Sie 21 Tage zur Probe, und lernen Sie die Republik und das Justizbriefing kennen!

Auf Foren, mittels verschlüsselter Mailverteiler und in Chats wird täglich tausendfach kinder­porno­grafisches Material gesucht, geteilt, angeschaut, herauf- oder herunter­geladen. Mit dem Aufkommen der sozialen Netz­werke haben sich die Kanäle zur Verbreitung von Kinder­pornografie vervielfältigt. Auch das Grooming, die Annäherung von Erwachsenen an Minder­jährige zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, ist einfacher geworden. Und die Corona-Pandemie hat laut Expertinnen noch einmal zu einer deutlichen Zunahme des Konsums von kinder­porno­grafischem Material im Netz geführt.

Ohne die weit­reichenden digitalen Überwachungs­massnahmen von US-Techfirmen wie Instagram und Co. wäre der Fall, um den es hier geht, wohl nie vor ein Gericht gekommen. Sie sind es, die – über Umwege – den Strafverfolgungs­behörden in der Schweiz die Daten zur Verfügung stellen, die einen Anfangs­verdacht begründen können. Darüber, ob diese Daten auf rechtmässige Art und Weise erhoben wurden und vor Gericht verwertbar sind, lässt sich streiten.

Zwar ist in der Schweiz aktuell kein Gesetzes­vorstoss zur digitalen Massen­überwachung geplant. Aber das könnte sich bald ändern. Mit der sogenannten Chatkontrolle sollen Anbieter von E-Mail-, Messenger- und Chat­diensten in der EU verpflichtet werden, die Chats ihrer Nutzerinnen systematisch zu durchleuchten. Das Gesetz zur Bekämpfung des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im Netz befindet sich aktuell zur Debatte in der EU-Kommission. Würde es angenommen, könnte auch die Schweiz unter Druck kommen, ihre Gesetze anzupassen.

Serdar Günal Rütsche ist Cybercrime-Chef der Zürcher Kantons­polizei und als Leiter von Nedik (dem «Netzwerk digitale Ermittlungs­unterstützung Internet­kriminalität») gemäss Schweizer Fernsehen der «höchste Cyber­polizist der Schweiz». Auf die Frage, ob eine flächen­deckende, verdachtslose Überwachung des Internets verhältnis­mässig sei, sagt Rütsche in einem SRF-Dokumentarfilm: «Wenn die Technik das ermöglicht, muss man das auch laufen lassen.» Für Judith Bellaiche, GLP-Nationalrätin und IT-Expertin, ist das «absurd»: «Das wäre ähnlich, wie wenn man täglich eine Haus­durchsuchung bei allen Menschen machen würde, um zu schauen, ob sie zu Hause ein Kind vergewaltigen», so Bellaiche im gleichen Fernseh­beitrag.

Es gibt Jahr für Jahr millionen­fache Hinweise auf automatisch generierte Beweis­mittel – aber sind sie vor Gericht verwertbar?

Ort: Obergericht Solothurn
Zeit: 8. März 2023, 8.30 Uhr
Fall-Nr.: STBER.2022.64
Thema: Harte Pornografie

Acht Sekunden dauert das Video, das Nedim Kaya, der in Wirklichkeit anders heisst, an diesem Mittwoch­morgen ins Amtshaus 1 in Solothurn führt. Auf dem Film zu sehen ist gemäss Anklage­schrift: ein Mädchen, «eindeutig im Schutzalter» stehend, das mit herunter­gelassener Hose einen «ebenfalls eindeutig im Schutzalter stehenden Jungen» oral befriedigt. Während ein weiterer minder­jähriger Junge «seinen Intim­bereich von hinten gegen das Gesäss das Mädchen drückt und Stoss­bewegungen mit der Hüfte macht». Ob jener Geschlechts­verkehr echt oder bloss simuliert ist, ist unklar.

Das Video wurde am 26. Dezember 2019, «circa um 23 Uhr 27», mit einem Mobil­telefon auf den auf Nedim Kaya registrierten Instagram-Account hochgeladen. Damit hat sich Kaya der harten Pornografie nach Artikel 197 des Strafgesetzbuchs – dem Zugänglich­machen von Kinder­pornografie – strafbar gemacht, so die Einschätzung der Staats­anwaltschaft.

Von Virginia nach Solothurn

Kinderpornografie ist spätestens seit dem Aufkommen des Internets ein welt­umspannendes Problem. So gesehen ist es nur folgerichtig, dass auch die Bekämpfung von sexuellem Kinds­missbrauch nicht an Landes­grenzen Halt macht. Dass sich Nedim Kaya, der an diesem regnerischen Morgen im dritten Stock des Obergerichts Solothurn zusammen mit seinem Verteidiger vor dem Verhandlungs­saal wartet, vor Gericht verantworten muss, wäre ohne das Mitwirken und das Zusammen­spiel einer Vielzahl von Akteuren, privaten wie staatlichen, nicht denkbar.

Eine Organisation, das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) in Alexandria, Virginia, ist dabei federführend.

Ihr Auftrag: entführte Kinder aufzuspüren, das Bewusstsein für Kinds­entführungen in der Bevölkerung zu stärken und die Behörden bei den Ermittlungen zu unterstützen.

NCMEC ist eine gemeinnützige, private Organisation, wird aber vom US-Justiz­ministerium finanziell grosszügig alimentiert. Sie fungiert als eine Art Schaltstelle oder Clearinghouse: Unternehmen und Private können Hinweise auf Kinder­pornografie mittels eines sogenannten «Cyber-Tipline-Reports» ans NCMEC weiterleiten. Die Organisation prüft diese Hinweise – die meist auf Videos, Fotos oder Chat­verläufen basieren – und verteilt sie an die zuständigen Strafverfolgungs­behörden.

2021 gingen so 29,3 Millionen Hinweise ein, 7180 davon betrafen die Schweiz.

«Rein theoretischer Natur»

Auch das Video, das auf Kayas Instagram-Kanal hochgeladen wurde, durchlief die Clearing­stelle von NCMEC. Gemeldet wurde es von Instagram, das wie Facebook und andere Social-Media-Plattformen in den USA seinen Datenverkehr systematisch auf kinder­pornografisches Material durchforstet.

Diese Suche erfolgt aufgrund der riesigen Datenmenge automatisiert, mittels algorithmus­gesteuerter Software. In einem Archiv mit gespeicherten Videos und Bildern mit kinder­pornografischem Inhalt werden «Hashwerte» zugeordnet: eine fürs menschliche Auge nicht interpretierbare Zahlen­abfolge. Erkennt die Scan­software bei einem Video oder Foto im Netz eine Übereinstimmung von «Hashes», wird ein «Cyber-Tipline-Report» erstellt; darauf sind unter anderem IP-Adresse, E-Mail-Adresse, Username und Upload­zeitpunkt aufgeführt.

Dieser Report muss anschliessend von Gesetzes wegen ans private NCMEC weitergeleitet werden. Führt die IP-Adresse ins Ausland, überweist die Organisation den Report an die entsprechende Strafverfolgungs­behörde – im Fall der Schweiz ans Bundesamt für Polizei, das Fedpol. Von diesen 7180 Verdachts­meldungen werden nur gerade rund 1700 an die kantonalen Polizei­korps weitergeleitet. Der Rest ist in der Schweiz strafrechtlich nicht relevant: zum Beispiel Ferien­fotos von nackten Kindern, bei denen die Geschlechts­organe nicht im Vordergrund sind, oder einvernehmliche erotische Kommunikation, «Sexting» genannt, zwischen Minderjährigen.

Schuldig – auch ohne Video

Kaya, 29 Jahre alt, ist türkischer Staats­angehöriger. Er ist in der Schweiz zur Welt gekommen, hier aufgewachsen, hat im Kanton Solothurn seine Lehre absolviert. Vor Verhandlungs­beginn plaudert er entspannt mit seinem Verteidiger. Unter dem Arm trägt er eine schwarze Mappe, die Haare sind an den Schläfen kurz geschoren, der Bart modisch gestutzt. Falls er nervös sein sollte, lässt er sich dies nicht anmerken. Kaya arbeitet Teilzeit als Sach­bearbeiter in der Finanz­branche, 40 bis 50 Prozent, die restliche Zeit kümmert er sich um seine kranke Mutter.

Auf Kayas Mobiltelefon wurde das fragliche Video trotz forensischer Daten­sicherung des Fedpols nie gefunden. Kaya hatte seinen Geräte­code nicht bekannt gegeben, was sein gutes Recht ist. Durchforsten die Straf­verfolger ein Gerät ohne Zugang zum Code, finden sie nur etwa 20 bis 30 Prozent aller gespeicherten Daten, wie es in einem Fedpol-Bericht heisst.

Die Vorinstanz, das Amtsgericht Olten-Gösgen, hatte Kaya dennoch schuldig gesprochen und zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt. Es folgte der Begründung der Staats­anwaltschaft, die es als erwiesen ansah, dass Kaya das Video auf seinen Instagram-Account hochgeladen hatte. Nutzername, E-Mail-Adresse, Profilbild und Telefon­nummer stimmten mit Kayas Daten überein. Zudem wurde das Video gemäss Report in der Nähe des Wohnorts des Beschuldigten hochgeladen.

Für das Amtsgericht waren diese Beweise ausreichend. «Rein theoretischer Natur» sei die von der Verteidigung vorgebrachte Möglichkeit, dass eine Drittperson Kayas Instagram-Account verwendet und das Video hochgeladen hätte, heisst es in der Urteils­begründung des Amtsgerichts.

Der Witz vom Bankräuber

Nedim Kaya sagt zu all diesen Vorwürfen: nichts. Er verweigerte während des gesamten Verfahrens die Aussage. Das ändert sich auch bei der Befragung vor Ober­gericht nicht. Einzig zu seiner Person gibt Kaya Auskunft, wenn auch ohne grosse Begeisterung. «Das können wir machen», sagt der 29-Jährige auf die entsprechende Frage des Referenten, Oberrichter Christian Werner.

Das Reden überlässt der 29-Jährige seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Konrad Jeker.

Als er sich das erste Mal in diesen Fall vertieft habe, sagt Jeker, sei ihm gleich der Witz vom Bank­räuber in den Sinn gekommen, der beim Überfall am Bank­schalter verlangt, das Geld auf sein eigenes Bank­konto zu überweisen.

Für Jeker steht fest: Sein Mandant hätte niemals augenscheinlich verbotenes Material auf seinen Account hochgeladen.

Darüber hinaus, macht der Verteidiger geltend, seien die vorhandenen Beweise nicht verwertbar. «Alles, wirklich alles basiert in diesem Fall auf den Angaben des ‹Cyber-Tipline-Reports›.» Diese Angaben seien aber einer richterlichen Überprüfung nicht zugänglich, weil es ein automatisch erstellter Bericht einer ausländischen privaten Organisation sei. «Sie, die Richter, können das nicht beurteilen, ich kann das nicht beurteilen.» Nicht einmal NCMEC, die Clearingstelle, prüfe das Material. «Das ist rechts­prozessual unhaltbar.» Der Report, auf dem das ganze Verfahren beruhe, sei «beweis­rechtlich eine absolute Nullnummer».

Ein fetter Strich durchs Einbürgerungs­gesuch

Nur schon Ermittlungen wegen Verdachts auf Kinder­pornografie können bei Betroffenen schwerwiegende Folgen haben. Die Republik berichtete letzten Dezember über den Fall eines Mannes in San Francisco, der irrtümlicher­weise ins Visier der Strafverfolgungs­behörden geriet. Zwar wurde das Verfahren nach einem Jahr eingestellt, die privaten Daten, die den Behörden von Google zur Überprüfung überlassen worden waren, wurden jedoch unwiderruflich gelöscht, das E-Mail-Konto des Mannes bleibt gesperrt. Solche false positives, befürchten Kritikerinnen, dürften bei einer Einführung der Chat­kontrolle gehäuft auftreten.

Bei einer Verurteilung wegen Kinder­pornografie in der Schweiz sind die Folgen noch gravierender: Erstens wird automatisch ein lebens­langes berufliches Verbot einer Tätigkeit mit Kindern verhängt. Zweitens führt eine Verurteilung bei Ausländern zwingend zum Landes­verweis, da harte Pornografie eine im Straf­gesetzbuch aufgeführte Katalogtat ist.

Zwar kann das Gericht in besonders leichten Fällen vom Tätigkeits­verbot absehen und bei einem Härtefall auch auf die Landes­verweisung verzichten. In der Praxis zeigt sich aber, dass gerade bei der Anwendung des Tätigkeits­verbots richterlicher Wildwuchs herrscht.

Im Fall von Nedim Kaya hatte das Amtsgericht auf ein Tätigkeits­verbot verzichtet: weil es sich «in objektiver Hinsicht» um einen leichten Fall handle und bei Kaya keine Anhalts­punkte für eine pädophile Neigung erkennbar seien. Auch hatte es davon abgesehen, den 29-Jährigen des Landes zu verweisen – «seine engsten familiären Beziehungen hat er allesamt in der Schweiz», wie es im schriftlichen Urteil der Vorinstanz heisst. Allerdings hat das Verfahren Kaya einen «fetten Strich durch sein Einbürgerungs­gesuch gemacht», wie es Verteidiger Jeker vor dem Obergericht unmissverständlich formuliert.

Geringer Beweiswert

Das Obergericht verkündet sein Urteil noch gleichentags. Während es draussen hartnäckig nieselt, spricht Oberrichter Christian Werner um exakt 16.05 Uhr Nedim Kaya vom Vorwurf der harten Pornografie frei. Anders als Verteidiger Jeker geht das dreiköpfige Gericht davon aus, dass der «Cyber-Tipline-Report» zwar grundsätzlich verwertbar sei. Eine erhöhte Glaub­würdigkeit komme ihm aber nicht zu; der Beweiswert sei gering, nicht zuletzt, weil unklar ist, ob der Report überhaupt von einer natürlichen Person überprüft worden sei.

Vor allem aber hätten «die in der Schweiz durchgeführten Ermittlungs­handlungen keine relevanten Belastungen hervor­gebracht». Das inkriminierte Video wurde bei Kaya nie gefunden. «Der Verdacht, dass der Beschuldigte die Videodatei auf Instagram hochgeladen hat, kann nicht erhärtet werden.»

Die Verfahrenskosten von insgesamt 5553 Franken gehen zulasten des Staates, Gleiches gilt für die Kosten der Verteidigung, die 7735 Franken und 35 Rappen betragen. Auf eine Entschädigung hatte Kaya verzichtet.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es könnte vor Bundes­gericht gezogen werden.

Illustration: Till Lauer

Verpassen Sie keine Ausgabe von «Am Gericht»: Mit einem Abo haben Sie diese und weitere Geschichten immer griffbereit – am besten gleich Mitglied werden.