Stimmt so

Ein französisches Unternehmen verdient Millionen mit Trinkgeld für das Schweizer Service-Personal. Ist das berechtigt?

Von Philipp Albrecht (Text) und Adam Higton (Illustration), 28.02.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
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«Mascarpone und Schinken?» – «Gemischte Pilze und Artischocken?» – «Mortadella mit Aceto Balsamico und Pistazien?»: Alle paar Minuten erscheint die Kellnerin mit neuen Pizzen an den Tischen.

Es ist Donnerstag, kurz nach 13 Uhr, im Restaurant SO Pizza an der Zürcher Langstrasse. Das Lokal ist fast voll, an vielen Tischen wird lebhaft diskutiert, erste Gäste steuern zur Kasse am Ausgang. Sie begleichen die Rechnung fast ausnahmslos mit ihrer Karte, nicht wenige von ihnen runden den Rechnungs­betrag auf.

Mit der Karte Trinkgeld zahlen – das haben vor der Corona­pandemie noch deutlich weniger Gäste gemacht als heute. Bargeldlose Zahlungen haben in der Schweiz zwischen 2019 und 2022 um 40 Prozent zugenommen.

Wenn Menschen wegen technischer Innovationen ihr Verhalten ändern, tauchen neue Fragen auf. Beim Trinkgeld heissen sie: Wer erhält es? Wer verdient mit? Und wer bekommt wie viel?

Kein Bargeld mit sich herumzutragen, hat viele Vorteile. Und es hat seinen Preis. Für jede Transaktion – sei es im Restaurant, im Laden oder im Onlineshop – verrechnen Worldline, Visa, Mastercard und zahlreiche Schweizer Banken eine Gebühr. Damit finanzieren sie eine Infrastruktur, die nötig ist, damit das Geld von A nach B fliessen kann.

Diese Gebühren fallen auch an, wenn per Karte oder Mobil­telefon Trinkgeld gegeben wird. Wir haben berechnet, um welche Beträge es dabei geht. Unsere Recherche zeigt, dass jedes Jahr rund 12 Millionen Franken Trinkgeld aus der Schweiz in die Kassen global tätiger Unternehmen fliessen. Der grösste Profiteur ist der börsenkotierte französische Zahlungs­abwickler Worldline, der davon rund 8 Millionen einnimmt. Der Rest geht an Banken, Kreditkarten­firmen, Smartphone-Hersteller und andere Zahlungs­abwickler.

Am Ende bezahlen die Gäste

Bei einer Transaktion in der Gastronomie fällt eine Gebühr von durchschnittlich 1,5 Prozent des bezahlten Betrags an. 1,15 Prozent zweigen die Zahlungs­abwickler, die sogenannten Acquirer, für sich ab. Dabei hat Worldline einen geschätzten Schweizer Markt­anteil von 90 Prozent. Die restlichen 0,35 Prozent gehen an drei Arten von Unternehmen: an Karten­firmen wie Visa und Mastercard, an Schweizer Banken, die Karten herausgeben, sowie an Handy­betreiber wie Apple, Samsung und Google, die mobiles Zahlen ohne Karte ermöglichen.

Es handelt sich um Durchschnitts­werte, die wir ermittelt haben, nachdem wir Studien gelesen und mit Expertinnen aus der Gastronomie und Ökonomie gesprochen haben.

Ich will es genauer wissen: Wie wurde gerechnet?

Jeden Tag verpflegen sich in der Schweiz rund 2,9 Millionen Menschen ausser Haus. Die Gastronomie­branche geht für das Jahr 2019 von etwa 1,4 Milliarden Konsumationen in einem Jahr aus. Laut einer Befragung des GFS Bern geben 95 Prozent der Befragten in der Gastronomie Trinkgeld. Der Einfachheit halber rechnen wir mit einem Trinkgeld bei jeder Konsumation in der bedienten Gastronomie. Das ist die Grundlage unserer Rechnung:

  • 17,7 Milliarden Franken nehmen bediente Restaurants, Cafés und Bars innerhalb eines Jahres in der Schweiz gemeinsam ein. Das sind die Betriebe in der Gastronomie, wo in der Regel Trinkgeld gezahlt wird. (Quelle)

  • 75 Prozent dieses Umsatzes wird mit Karte bezahlt. Das sind rund 13,2 Milliarden. (Quelle)

  • 6 Prozent des Rechnungsbetrags macht im Schnitt das Trinkgeld aus. Die Zahl stammt aus einer repräsentativen Umfrage. Daraus ergibt sich ein Betrag von rund 800 Millionen Franken. So viel Trinkgeld wird in der Schweiz in der Gastronomie mit Karte bezahlt. (Quelle)

  • 1,5 Prozent davon wird durchschnittlich in Form von Gebühren abgezogen. Der Anteil ist bei Kreditkarten höher und bei Debitkarten tiefer. (Quelle)

  • Auf diese rund 12 Millionen Franken muss das Service-Personal verzichten.

  • Davon geht ein kleinerer Teil, knapp 3 Millionen (0,35 Prozent), an Banken, Kartenunternehmen und Handyhersteller.

  • Der grössere Teil, nämlich gut 9 Millionen (1,15 Prozent), geht an die Acquirer Worldline, Nets und Sumup. Mit einem geschätzten Marktanteil von 90 Prozent erhält Worldline rund 8 Millionen Franken davon.

Worldline Schweiz äussert sich nicht zu dieser Rechnung. Über eine Kommunikations­agentur lässt das Unternehmen ausrichten, dass es nicht wisse, wie hoch der Trinkgeld­anteil an den Transaktionen sei.

1,5 Prozent pro Transaktion: Dieser Abzug ist bei einer Dienstleistung gerechtfertigt, um das System des bargeldlosen Zahlungs­verkehrs sicher betreiben zu können. Aber ist es gerecht, die gleiche Gebühr auch auf Trinkgeld zu erheben? Auf etwas, das gar keinen zusätzlichen Aufwand erfordert?

«Das ist ein Umstand, über den kaum gesprochen wird», sagt Darius Notz, der mit seinem Bruder Yven Vogel SO Pizza betreibt. «Dabei ist es skandalös.»

Bei SO überweisen die Gäste pro Rechnung im Schnitt 2.10 Franken Trinkgeld. Das ist relativ wenig und dem Umstand geschuldet, dass die Gäste bei SO an einer Empfangs­theke beim Eingang bezahlen müssen. Notz jedenfalls findet, dass Worldline von diesem Trink­geld keine Gebühren abziehen dürfe – weil das Unternehmen dafür keine Zusatz­leistung erbringt. Er sagt: «Dieses Geld gehört dem Personal.»

Wer im Restaurant Trink­geld gibt, will in erster Linie den Service und die Küchen­leistung honorieren. Angestellte in der Gastronomie arbeiten hart, werden aber unterdurchschnittlich entlöhnt. Darum sind sie oftmals auf den Zuschuss der Gäste angewiesen. Viele Betriebe verteilen das Trink­geld nach einem Schlüssel unter den Angestellten. So machen es auch Darius Notz und sein Bruder.

In der Gastronomie ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Wirte das mit der Karte bezahlte Trinkgeld dem Personal überweisen. Sie übernehmen die Gebühren, oder besser gesagt: Sie überwälzen sie später wieder an die Kundschaft. Die 8 Millionen Franken, die Worldline an Trinkgeld­gebühren einsteckt, bezahlen am Ende also die Gäste.

Doch die wissen davon mehrheitlich nichts. In einer repräsentativen Umfrage der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) vom September 2022 war es 60 Prozent der Befragten nicht bewusst, dass Gebühren auch auf bargeldlos bezahltes Trinkgeld anfallen.

Funfact: Die Umfrage war im Auftrag von Worldline durchgeführt worden. Studien­autor Marcel Stadelmann schreibt der Republik auf Anfrage, dass sämtliche Fragen aus seiner Feder stammten und Worldline keinen Einfluss auf die Befragung ausgeübt habe.

Teure Kartengeräte

Es wäre nicht überraschend, wenn die meisten Befragten auch noch nie von Worldline gehört hätten. Das Unternehmen sorgt für reibungslose Geldströme. Sein Geschäfts­modell ist simpel, verträgt aber kaum Wett­bewerb, weil die Masse über allem steht. Worldline funktioniert ähnlich wie ein klassisches Internet­unternehmen mit Plattform: Steht die Infrastruktur einmal, lassen sich Umsatz und Gewinn mit verhältnismässig tiefen Investitionen in die Höhe treiben.

Worldline ist der grösste Zahlungs­abwickler in Europa und der viertgrösste der Welt. Das Unternehmen mit Hauptsitz in Paris beschäftigt 20’000 Mitarbeiter in 50 Ländern und setzte letztes Jahr 4,4 Milliarden Euro um. Seit die Franzosen vor fünf Jahren der Schweizer Firma SIX das Zahlungs­abwicklungs­geschäft SIX Payment Services abgekauft haben, dominieren sie den Schweizer Markt. Die restlichen 10 Prozent teilen sich die dänische Nets Group (geschätzte 9 Prozent) und die britische Sumup untereinander auf.

Nicht nur mit den Gebühren, auch mit den Karten­geräten verdienen die Zahlungs­abwickler Geld. Wer in seinem Geschäft oder Restaurant Karten­zahlungen ermöglicht, muss die Geräte bei den Acquirern mieten oder kaufen. Ein Gerät kann bis zu 4000 Franken kosten, wie Tobias Burkhalter, Präsident von Gastro Bern, sagt. «Es kommt vor, dass der Acquirer dann plötzlich neue Versionen herausgibt, für die man wieder den vollen Preis zahlen muss.» In der Regel wälzen die Betriebe diese Investitionen auf die Kundschaft ab.

Burkhalters Kollege von Gastro Zürich, Urs Pfäffli, spricht gar von einem «Kartell»: «Man ist den Zahlungs­abwicklern ausgeliefert.» Zwar seien die Gebühren in den letzten Jahren gesunken, aber die Unternehmen würden trotzdem mehr verdienen, weil die Karten­zahlungen stark angestiegen seien und die Gastro­betriebe darum zusätzliche Geräte kaufen oder mieten müssten.

Verloren im Gebühren­dschungel

Auf die Trinkgeld­gebühren angewiesen sind die Acquirer nicht. Aber auf den Extra-Umsatz zu verzichten, kommt für sie natürlich nicht infrage. Das sei auch gar nicht möglich, sagt Worldline. Wegen der komplexen Gebühren­struktur sei der Aufwand schlicht zu hoch, das Trinkgeld zu separieren.

Schuld ist die sogenannte Interchange Fee, eine Gebühr, die zwischen Acquirern, Banken und Karten­firmen verhandelt und von den Zahlungs­abwicklern bezahlt wird. Es handelt sich um die oben genannten 0,35 Prozent. Auch das ist nur ein Durchschnitts­wert, denn die Interchange Fee ist so etwas wie ein Chamäleon im Dschungel der Transaktions­gebühren: Je nach Karte, Branche und Herkunft des Karten­inhabers passt sie sich ihrer Umgebung an. Um die Gebühr fürs Trinkgeld zu bestimmen, müsste darum jede Transaktion einzeln betrachtet werden, schreibt Worldline.

Die Gebühr hält die Wettbewerbs­behörden mehrerer Länder seit vielen Jahren auf Trab: «Die Interchange Fees sind in der Schweiz und im Ausland Gegenstand von zahlreichen kartell­rechtlichen Verfahren», sagt Simon Bangerter von der Wettbewerbs­kommission (Weko). Regelmässig müssen die Behörden in das intransparente Geschäfts­dreieck zwischen Banken, Kreditkarten­firmen und Acquirern eingreifen. Aktuell erarbeitet die Weko eine Regelung für die neu eingeführten Debit­karten von Visa und Mastercard. Bei diesen Karten können Interchange Fees geltend gemacht werden; bei der zuvor gängigen Maestro-Karte war das nicht möglich.

Mit anderen Worten: Das unübersichtliche digitale Zahlungs­system ermöglicht der Finanz­branche kreative Lösungen für neue Einnahme­quellen. Und eine gute Ausrede für die Trinkgeld­frage.

Technisch wäre ein Verzicht durchaus möglich. Die Lösung liegt geradezu auf der Hand: Bei Worldline kann man bereits heute das Trinkgeld beim Karten­gerät separat eingeben. Nur wird das nicht überall genutzt, weil die Gäste lieber aufrunden, als selber einen Trinkgeld­betrag einzutippen. Aber auch, weil es vielen Kellnern unangenehm ist, den Gästen das Gerät fürs Trinkgeld nochmals hinzuhalten. Den Betrag einfach aufzurunden, hat sich als bequemste Variante für beide Seiten durchgesetzt. Aber selbst in jenen Gastro­betrieben, in denen der Trinkgeld­betrag getrennt eingegeben wird, erhebt Worldline die Gebühr fürs Trink­geld.

Worldline-Konkurrent Nets nutzt eine eigene Variante, um das Trinkgeld separat einzugeben. Hier kann man aus drei vorgegebenen Prozent­sätzen fürs Trinkgeld auswählen, zum Beispiel aus 5, 10 oder 15 Prozent. Eine Funktion, die etwa in den USA stark verbreitet ist. Aber auch bei Nets gilt: kein Gebühren­verzicht beim Trinkgeld.

Vor zwei Jahren schrieb Darius Notz von SO Pizza dem Kundendienst von Worldline. Eigentlich sei es eine «Frechheit», dass der Zahlungs­abwickler Gebühren vom Trinkgeld abziehe, egal ob die Gäste dies im Gerät separat eingeben oder nicht. «Nebst den monatlichen Gebühren und all den anderen Kosten sollte wenigstens das Trinkgeld gebührenfrei sein», schrieb er.

Fast einen Monat musste er auf eine Antwort warten. Dann schrieb ein Worldline-Mitarbeiter: «Das Trinkgeld mit einer Kreditkarte wird von uns als eine normale Transaktion betrachtet, also ziehen wir die Kommissionen von solchen Transaktionen ab.»

Wer verdient mit? Und wie viel? Eine Vorstellung davon liefert unsere Berechnung. Doch das Resultat führt zu einer neuen Frage: Was tun?

Auf politischer Ebene gibt es Vorstösse, die auf die Interchange Fee abzielen. Das digitale Trink­geld ist hingegen noch kein Thema. Es gibt keine Regulierung dazu.

Bleibt die Möglichkeit, das Trinkgeld in bar hinzulegen. Doch das ist selbst für Gastro­unternehmer Darius Notz keine Option: «Das können wir von den Gästen nicht verlangen. Ich bin ja selber froh, dass ich kein Bargeld mehr mit mir herumtragen muss.»

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