Binswanger

Sieg oder Containment?

Welche Hilfe­leistungen an die Ukraine sollen die europäischen Länder leisten? Es gibt klare moralische Verpflichtungen. Aber keine einfachen Antworten.

Von Daniel Binswanger, 25.02.2023

Vorgelesen von Magdalena Neuhaus
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Der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine dauert nun schon ein Jahr – und überzieht das Land mit Tod, Zerstörung und unermesslichem Leid. Die ukrainische Armee widersteht den Invasoren weiterhin heroisch. Doch nach den spektakulären Erfolgen im letzten Herbst hat sich nun eine Pattsituation eingestellt, ein entsetzlicher Abnutzungs­krieg mit hohen Verlusten auf beiden Seiten.

Die Nato-Staaten haben ihre Waffen­lieferungen erweitert und versorgen Kiew nun auch mit Kampf­panzern. Aber noch immer werden heftigste Debatten geführt über das richtige Mass der Unterstützung.

In der Schweiz gibt es ein grosses Tauziehen um die Änderung des Kriegsmaterial­gesetzes. Effektiv in Kraft treten würde eine modifizierte Gesetzes­version, die es ermöglichen soll, dass Dritt­staaten aus der Schweiz importierte Rüstungs­güter an die Ukraine weiter­geben dürfen, allerdings frühestens nächstes Jahr.

Die Grundsatz­fragen jedoch, die mit dem Entscheid verbunden sind, könnten dringlicher nicht sein: In welcher Form soll die Eidgenossenschaft ihre Neutralität hochhalten, wenn europäische Staaten zum Opfer von völkerrechts­widrigen Angriffs­kriegen werden? Und wie ist angesichts der neuen Bedrohung das richtige Gleich­gewicht zu finden zwischen Wehr­bereitschaft und pazifistischem Grund­bekenntnis?

Die Widersprüche sind nicht einfach zu vermitteln. So hat sich eine sehr ungewöhnliche Allianz heraus­gebildet zwischen den Grünen und der SVP, die beide eine strikte Auffassung der Schweizer Neutralität aufrecht­erhalten und Waffen­exporte an Kriegs­parteien weiterhin verbieten wollen. Bei den Grünen wird diese Positionierung dadurch verkompliziert, dass die Basis Waffen­lieferungen an die Ukraine sehr deutlich bejaht – während die Partei­führung eine ablehnende Haltung einnimmt. Auf die Dilemmata, in die der Pazifismus in Kriegs­zeiten gerät, gibt es keine selbst­evidenten Antworten.

Noch viel offensichtlicher wird das in Deutschland, wo nicht um Neutralität, sondern um die Waffen­lieferungen gestritten wird – und die Debatte immer giftiger wird. Am heutigen Samstag findet am Brandenburger Tor in Berlin eine schon im Vorfeld umstrittene Demonstration statt, mit der die Forderungen des von Alice Schwarzer und Sahra Wagen­knecht lancierten «Manifests für Frieden» auf die Strasse getragen werden.

Das Manifest tritt ein für sofortige Verhandlungen mit Putin und gegen Waffenhilfe – jedenfalls, wie mit wohl gezielter Unschärfe gesagt wird, gegen «die Eskalation der Waffen­lieferungen». An der Demo werden Teile der Linken aus dem Umfeld von Wagenknecht, aber auch viele Rechts­extreme und AfD-Vertreter erwartet. Es scheint sich eine neue Querfront auszubilden. Diesmal nicht mit der Corona-Leugnung als gemeinsamem Nenner, sondern im Namen einer bestimmten deutschen «Ostpolitik».

Es ist nicht erstaunlich, dass die Gehässigkeit der Debatte sich immer mehr verschärft. Die Gräuel des Krieges sind unerträglich, provozieren heftigste moralische Entrüstung und berechtigten Zorn. Und, um das in der Tat Offensichtliche noch einmal auszusprechen: Die Forderung des Manifests, Waffen­lieferungen einzustellen oder zurück­zubinden und stattdessen sofort auf Friedens­verhandlungen zu drängen, ist schlicht und einfach absurd.

Die Ukraine hat einen unbestreitbaren Anspruch darauf, sich gegen die Invasions­armee und ihre schweren Verbrechen zur Wehr zu setzen. Der Westen steht in der moralischen, völker­rechtlichen und strategischen Pflicht zur Hilfe­leistung. Dennoch ist nun eine Debatte entstanden, die mit grosser Aggressivität geführt wird. Die Polarisierung der Öffentlichkeit hat in der Corona-Zeit eine neue Qualität angenommen. Das Kriegs­geschehen, zu dem der Westen sich verhalten muss, scheint diese Entwicklung weiter zu verstärken.

Besonders augenfällig ist das geworden anhand der Polemik um die jüngste Stellung­nahme zum Krieg, die Jürgen Habermas in dem Artikel «Ein Plädoyer für Verhandlungen» in der «Süddeutschen Zeitung» vorgenommen hat. Es ist ein Text, der in vielerlei Hinsicht kritisierbar ist, der aber auch ein paar der heute entscheidenden Dilemmata pointiert auf den Begriff bringt. Es ist ein Beitrag, über den man intensive Debatten führen sollte, durchaus kontrovers, aber auf sachlichen Austausch bedacht. Doch selbst unter Deutschlands führenden Intellektuellen scheinen solche Debatten kaum mehr möglich zu sein.

Habermas bejaht die Notwendigkeit der deutschen Waffenhilfe völlig unzweideutig, auch die Lieferung von Panzern. Er verteidigt allerdings den Willen von Olaf Scholz, nur im Gleich­schritt mit den USA ein Upgrade der Lieferungen zu vollziehen. Und er ist der Überzeugung, dass der Westen Verhandlungen aufgleisen sollte.

Habermas’ Analyse stellt vor allen Dingen eine, ja vielleicht die fundamentale Grundfrage, der die westlichen Staaten sich zu stellen haben: «Ist es das Ziel unserer Waffen­lieferungen, dass die Ukraine den Krieg ‹nicht verlieren› darf, oder zielen diese nicht vielmehr auf einen ‹Sieg› über Russland?» Es gibt einen fundamentalen Unter­schied zwischen Nicht-verlieren-Dürfen und Siegen-Müssen.

Dass die Ukraine nicht verlieren darf, ist der Grund, weshalb Habermas sich für die Waffen­lieferungen einsetzt. Putin darf mit seinem Angriffs­krieg keinen Erfolg haben. Das wäre eine unsagbare Katastrophe für die Ukraine, für Osteuropa, für die künftige Entwicklung Russlands, für die freie Welt. Putin darf nicht gewinnen.

Eine andere Frage ist es jedoch, ob er besiegt werden kann. Und ob es die richtige Strategie ist, wenn der Westen an Russland das Signal aussendet, dass er es besiegen will.

Dieser Krieg wird nicht enden wie der Zweite Weltkrieg, was hiesse: mit der bedingungs­losen Kapitulation des Aggressors. Es werden keine ukrainischen Panzer­verbände in Moskau einrollen, nur schon deshalb, weil Russland eine Atommacht ist. Man mag einwenden, dass dieses Szenario ohnehin völlig abwegig ist und niemand im Ernst darauf abzielt. Das trifft zu, aber die Forderung, Putin müsse sich vor einem internationalen Gerichtshof verantworten, ist durchaus ein wichtiges Element des westlichen Diskurses. Und wie soll das gehen, wenn Russland nicht besiegt wird?

Man mag natürlich darauf hoffen, dass Putin durch russische Gegenkräfte entmachtet und für seine Verbrechen zur Verantwortung gezogen wird. Die beste Lösung würde zweifels­ohne in einem regime change liegen. Allerdings ist in keiner Weise gesichert, dass es dazu kommen wird. Wenn die Ukraine auch mithilfe der Waffen­lieferungen Putin nicht besiegen kann, wie erzielt sie dann das beste Putin-Containment? Das ist die zentrale strategische Frage, auf die heute eine Antwort gegeben werden muss. Es ist die Frage, die Habermas ins Zentrum zu stellen versucht.

Sollte es keine bessere Lösung geben als das Containment, werden nur Verhandlungen den Krieg beenden. Wie diese Verhandlungen aussehen werden und ab wann sie auf sinnvolle Weise geführt werden können, wird weitest­gehend vom militärischen Kräfte­verhältnis bestimmt werden. Auch deshalb muss der Westen die Ukraine weiter aufrüsten. Aber gleichzeitig ist klar, dass er nicht alle «roten Linien» einfach missachten kann. Dass der Krieg nicht zu einer Direkt­konfrontation zwischen Russland und der Nato werden darf. Dass es besser ist, eine akzeptierbare Lösung früher als später zu finden, weil dadurch noch mehr Zerstörung, Leid und Tote verhindert werden können. Immer klarer scheint sich abzuzeichnen, dass die militärische Pattsituation noch lange weiter­bestehen könnte.

Es stellen sich sehr viele verzweifelte Fragen: Könnte ein Waffen­stillstand entlang der Linien vom 23. Februar 2022, dem Tag vor der russischen Invasion, akzeptiert werden? Oder müsste der ganze Donbass mit militärischen Mitteln befreit werden? Am schwierigsten ist wohl die Frage der Krim. Natürlich ist die Annexion durch Russland absolut wider­rechtlich. Natürlich haben die Schein­referenden keinerlei Legitimität und könnte nichts wünschens­werter sein als die sofortige Befreiung. Aber soll die Nato die Ukraine so weit hochrüsten, dass eine Rück­eroberung der Krim versucht werden kann? Wie viele Tote wäre dieses Vorhaben wert? 100’000, 200’000? Wären es deutlich weniger – oder noch viel mehr?

Die Nato – auch hier hat Habermas recht – darf diese Fragen nicht über den Kopf der Ukrainer hinweg entscheiden, aber sie kann sich auch nicht aus der Verantwortung stehlen. Sie hat über die Ausgestaltung ihrer Militär­hilfe einen entscheidenden Einfluss auf den Kriegs­verlauf. Sie muss ein Konzept ihrer Zielsetzungen, der akzeptablen Kosten und Risiken haben. Das sind keine einfachen Abwägungen. Die Nato muss geschlossen hinter der Ukraine stehen – aber sie darf den Krieg auf keinen Fall anheizen.

Dieser Krieg ist ein unerträgliches Unrecht, und wir sind zu voller Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung verpflichtet. Unsere Solidarität muss auch den russischen Zwangs­rekrutierten gelten, die zu Tausenden auf den Schlacht­feldern verheizt werden. Es muss mit allen Mitteln darauf hingearbeitet werden, dass die Barbarei ein Ende nimmt. Aber leider könnte es durchaus sein, dass dieses Ende weder moralisch befriedigend noch völker­rechtlich gerechtfertigt sein wird – und dennoch die beste realisierbare Lösung darstellt.

Doch selbst im westlichen Europa wird diese schwierige Debatte inzwischen von erbitterten Freund-Feind-Reflexen beherrscht. So darf sie nicht geführt werden.

Illustration: Alex Solman

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