Von Berlin nach Rom: Choreografin Florentina Holzinger in ihrem aktuellen Arbeitszimmer.

Bei den Super­heldinnen

Die Wiener Choreografin Florentina Holzinger rettet zurzeit Ophelia – und das deutsche Sprechtheater. Beim Treffen trägt sie ein hart gekochtes Ei in der Hosentasche und erklärt, warum Männer nicht nur für eine Eintritts­karte Geld ausgeben sollten.

Von Antje Stahl (Text) und Bea De Giacomo (Bilder), 16.02.2023

Vorgelesen von Miriam Japp
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Sie habe ihr ganzes Zeug oben gelassen, sagt Florentina Holzinger, also nehmen wir den Aufzug ins zweite Ober­geschoss des Motels One am Berliner Alexanderplatz. Sie trägt einen schnee­weissen Plüschpulli mit Hoodie über einer Art Snowboard­hose in Knallorange, sieht darin aber weitaus lässiger aus als eine Eisbärin, die gerade von der Skipiste kommt.

Wir gehen am Frühstücks­buffet vorbei. Ihre Company-Leute sollen, so etwas erzählen ihre Fans bei Tageslicht, immer zu den Letzten gehören, die eine Party verlassen. In Holzingers Hosen­tasche steckt ein hart gekochtes Ei. Aber das packt sie erst später aus, wenn es um die Porno­seiten im Internet geht, auf denen Aufnahmen von ihr manchmal landen. Jetzt müssen wir erst mal über ihr Theater-Tanzstück «Ophelia’s Got Talent» sprechen.

Seit der Premiere an der Berliner Volksbühne im vergangenen September ist es ausverkauft. Tickets für zukünftige Vorstellung sind nur noch unter der Hand zu bekommen. Und kurz vor unserem Treffen wurde «Ophelia’s Got Talent» zum Berliner Theater­treffen eingeladen, also auch von Fach­leuten zu einem Saisonhit erklärt.

Andere Häuser träumen von so viel Liebe wohl nur. Nicht zuletzt das Zürcher Schauspiel­haus, dessen Intendanten Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg ja gerade verkünden mussten, dass sie im nächsten Jahr schon wieder von dannen ziehen: Das Gespräch, das sie mit ihrem grummeligen Publikum im Januar über Foyer-Mobiliar und Pausen­längen führten, konnte die Aufregung über den «woken Einheitsbrei» und die leeren Kassen offenbar nicht ausgleichen.

Ob Florentina Holzinger sie aus dem Schlamassel gezogen hätte, ist eine rhetorische Frage. Klar. Aber da sich die Leute im In- und Ausland Ähnliches über die Berliner Volksbühne erzählen – «Holzinger rettet gerade René Pollesch!» (den aktuellen Intendanten) –, sollte man sich ein paar Gedanken darüber machen dürfen, warum für «Flo» doch wieder alle ins Theater rennen – und es mit irre guter Laune wieder verlassen.

Talente gesucht

«Florentina Holzingers Super­heldinnen sind zurück», schwärmte Katrin Ullmann, Jurorin beim Berliner Theater­treffen: «jetzt noch mutiger, kämpferischer und Tiefsee-tauglicher als je zuvor.» Sie meint damit die dreizehn Darstellerinnen, die Holzinger neben sich selbst für ihre Talentshow auf die Bühne bittet.

Es gibt drei Jurymitglieder, die in etwa wie einst DJ Bobo in «Die grössten Schweizer Talente» in einem Jurystuhl sitzen und auf einen roten Jurybuzzer drücken, falls ihnen die Einlage der Kandidatinnen nicht gefällt. Als Erste lässt sich Sophie Duncan von einer Pole-Stange in schwindel­erregende Höhe ziehen und tut so, als wäre sie eine Tiefsee­taucherin, die in der Dunkelheit des Meeres zu sterben droht.

Ihr Füsse umklammern die Stange. Sie breitet ihre Arme aus. Kopfüber. Dann zappelt sie wie ein Fisch und rutscht abwärts, um sich wieder aufzuraffen und die Beine in der Luft zu spreizen. Und da eine Pole-Stange ja oft in Sexclubs auftaucht, sei der Vollständigkeit halber gesagt: Strippen muss Duncan nicht, weder sie noch die Jurymitglieder tragen Kleider. Als ich diesen Auftakt zum ersten Mal sah, war ich hin und weg.

Die Frauen der Jury waren nämlich keineswegs freundlich. Sie benahmen sich eher wie Heidi Klum, das ehemalige Super­model aus Germany, die ihre «Mädchen» aller feministischen Kritik zum Trotz seit über einem Jahrzehnt vor laufenden Kameras quält. Im Unterschied zu ihr benötigt in Holzingers Talent­show das Jury­mitglied Saioa Alvarez Ruiz eine Gehhilfe auf Rädern.

«Ich bin kleinwüchsig. (…) Augenhöhe ist keine Frage der Körper­grösse, sondern der Haltung. Ich trainiere sie tagtäglich. Und Sie?», fragte sie einmal in einem Artikel, in dem es um einen technischen Berater der deutschen Agentur für Arbeit geht. Er sollte ihr, die jenseits der Bühne als Theater­pädagogin für kulturelle Jugend­bildung in einem Verein arbeitet, einen passenden Tisch für ihr neues Büro besorgen. Stattdessen sagte er zu ihr am Telefon: «Wieso bestellen Sie einen so tiefen Tisch? Das sieht doch dann aus wie im Kindergarten!»

In der Berliner Volksbühne wird Saioa Alvarez Ruiz ihre Jury-Chef-Rolle niemals gänzlich aufgeben, sich im Laufe des Varieté-Theaters, in die sich die Talentshow bisweilen verwandelt, aber trotzdem einreihen, wenn jauchzend Cancan getanzt wird im Matrosen­hemd und untenrum frei. Und sie führt ihre eigenen Talente vor: im Blaumann schweissen, dass die Funken sprühen; ihn sich wieder vom Leib reissen mit einem Pümpel in der Hand, dieser Saugglocke am Holzstab, mit der sich verstopfte Toiletten entstopfen lassen. Gegen Ende lässt sich Saioa Alvarez Ruiz – plötzlich hochschwanger – hinten im Schwimm­becken dann auch noch den Bauch aufschneiden und aufreissen, dass das Blut das Wasser so richtig dunkelrot färbt.

Insgesamt sollen rund 34’000 Liter in die drei Becken auf der Bühne gekippt worden sein. Ganz vorne steht ein Tauchbecken, ganz hinten eine Art Aquarium, in das locker zwei Schweinswale oder ein Bullenhai passen könnten. Und in der Mitte in den Bühnen­boden eingelassen ist ebendieses Schwimm­becken, in dem der Kaiserschnitt­riss an Saioa Alvarez Ruiz vorgenommen wird.

Man mag das unlogisch finden, Wasser­geburten werden für gewöhnlich nur zugelassen, wenn das Baby durch den Geburtskanal gepresst wird. Tatsächlich wird der sogenannte Kaiserschnitt aber schon lange nicht mehr allein durch ein Skalpell gesetzt. Ärzte reissen die Bauchdecke lieber weiter mit ihren Händen auf – das weiss ich aus eigener Erfahrung: «Reissen verkraften der Uterus und die darüber­liegenden Hautschichten besser als schneiden, die Narbe heilt viel schneller», erklärte mir eine Schwester im OP-Saal, während mein gesamter gelähmter Unterleib auf dem Operationstisch hin und her geschüttelt wurde. Meine Narbe hebt sich trotzdem noch über dem Schambein ab – ich nenne sie meinen laaaaaaang gezogenen Maulwurfshügel.

Sirenen im Wasser

Im Foyer der Berliner Volksbühne sagte ein Bekannter nach der Vorstellung, er habe «überhaupt nicht verstanden, worum es geht. Aber ist ja schön, dass so unterschiedliche Frauen ihre Körper endlich mal so selbstbewusst zeigen.» Ein Freund aus Zürich gestand später: «Ich habe drei Stunden lang nur an Sex gedacht.» Nun ja. Irre gute Laune kann unterschiedliche Formen annehmen.

«Am Anfang unserer Recherche stand das Wasser», erzählt Holzinger. Wir haben auf gigantischen Sofas Platz genommen. Ihr und den anderen Performerinnen, mit denen sie zum Teil schon seit Jahren in der dritten, vierten Produktion zusammen­arbeitet, seien diese Wasser­wesen in der Mythologie begegnet, «also die Sirenen und diese ganzen Halb-Fisch-halb-Mensch-Wesen». Und da sie das Stück für ein deutsches Sprech­theater erarbeitete, habe sich auch das Ophelia-Thema aufgedrängt.

In der Volksbühne ahmt Holzinger die tragische Frauenfigur Ophelia aus Shakespeares «Hamlet» selber nach. Sie springt dafür in den Pool und fuchtelt gegen den Tod durch Ertrinken an. Bis ihr die Schauspielerin Inga Busch Regie­anweisungen zuruft: «Nicht so wild, nein», «Arme ausbreiten» und vor allem «lächeln» – so wie die Frau auf dem Gemälde von John Everett Millais.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Maler die sterbende Ophelia verewigt – in Öl auf Leinwand, wie sie mit ihren schönen Kleidern und Blumen in der Hand so selig im Bach daliegt, bevor sie in den «schlamm’gen Tod» heruntergezogen wird. «Ich habe das Bild nie im Original gesehen», sagt Holzinger, «mich aber gefragt, warum sie so lächelnd daliegt, obwohl sie tot ist. Hat sie nicht versucht zu schwimmen? Hat sie Suizid begangen? Oder wurde sie umgebracht?»

Holzinger beantwortet diese Fragen nicht. Sie rettet Ophelia aber gewisser­massen. Nach ihrer Wasser­schlacht steht sie auf und erzählt von ihrer Magersucht im Teenager­alter. Ihre langen blonden Haare kleben ihr im Gesicht. Klatschnass. Die Schminke ist schon lange verlaufen.

«Ich habe grosse Mengen an Wasser getrunken, um dem Arzt ein anderes Gewicht vorzutäuschen», sagt sie, ganz vorne am Rand der Bühne, eine Armlänge vom Publikum in der ersten Reihe entfernt. «Und an einem wunderschönen Morgen, es war ein Frühlings­tag im Jahr 1998, wurde ich endlich in Wien ins Krankenhaus eingeliefert. Wegen meines Gewichts, aber auch weil mein Blut so verdünnt war vom Wasser, dass Organe und Muskeln versagen – was Herzinfarkt, Koma und letztendlich den Tod herausfordern würde. Im Krankenhaus haben sie mir dann eine transnasale Sonde eingeführt. Das ist der medizinische Ausdruck für einen Schlauch, mit dem Leute am Leben erhalten werden, die nicht genug essen und trinken.»

Zu den Bildern

Die Session fand in Rom statt, wo Florentina Holzinger gerade eine Oper inszeniert. Fotografin Bea De Giacomo traf sie in ihrer Arbeits­wohnung. Die Idee, dass Holzinger nackt auf allen Bildern erscheint, kam ihnen beiden im Gespräch. De Giacomo lebt in Mailand.

Die Kaffee­maschine dröhnt. Es scheint plötzlich sehr früh am Morgen zu sein, um über Magersucht und Selbst­ermächtigung zu sprechen. In einem Podcast über Heldinnen der Gegenwart bezeichnete Holzinger die Inszenierung und Ausstellung des Körpers einmal als «politischste Performance» überhaupt, gegenüber der Worte echt alt aussehen. Sie nimmt bereitwillig das Aufnahme­gerät auf den Schoss.

Das Ophelia-Thema autobiografisch anzugehen, sei ein Schritt für sie gewesen. Magersucht gehöre zu ihrer späten Kindheit, und ihr Leben habe sich nach dem Aufenthalt im Spital komplett verändert. In der Auseinander­setzung mit diesen Frauen in der Kunst­geschichte, die immer in der Horizontale liegen, macht- und schwerelos, wie geschaffen für den männlichen Blick, hätten sie sich im Ensemble gefragt, was sie von diesen Körper­bildern lernen könnten, welche «speziellen Fähigkeiten» sie aus einem Trauma entwickeln können.

Springbrunnen, die leben

Holzinger ist ausgebildete Tänzerin und «am körperlichen Training interessiert». 2013 stürzte sie während der Aufführung ihres «Kein Applaus für Scheisse» in Norwegen, das sie zusammen mit ihrem damaligen Partner Vincent Riebeek realisierte, aus drei Metern Höhe ab und verletzte sich schwer. Als sie wieder auf dem Weg der Besserung war, nahm sie Box- und Kampfsport­unterricht und bot später Intensiv-Workshops für Frauen an. Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme war, dass die Frauen eine leise Ahnung davon haben mussten, gegen wen oder was sie kämpfen wollten. Wut lässt sich ja nicht immer auf ein Feindbild abrichten.

Vorne am Rand der Berliner Volksbühne beschreibt Holzinger als auferstandene Ophelia klatschnass en détail, wie der transnasale überlebens­notwendige Sonden­schlauch eingeführt wurde und im Magen landete, während die Darstellerin Xana Novais im Hintergrund anfängt, sich genau so einen Schlauch in ein Nasenloch zu schieben und aus dem Mund wieder heraus­zufischen. Er ist lang, sehr lang. Klar, muss sie dabei würgen.

Sie möchte «nicht zu dramatisch werden», sagt Holzinger dann noch, sie wuchs schliesslich in den 90er-Jahren, in Grunge-Zeiten, auf. Sie habe sich einfach am lebendigsten gefühlt, als das Leben dabei war, aus ihrem Körper zu ziehen, und sie an die Decke des Krankenhaus­zimmers starren konnte. Sosehr wir alle das Leben liebten, so sehr sehnten wir uns doch nach dem Tod und flirteten mit der Selbst­zerstörung, erklärt sie weiter. Xana Novais steigt derweil zurück in den Swimming­pool, das lange Schlauch­ende landet unter Wasser, sodass das Wasser, durch Unterdruck in Bewegung gesetzt, tatsächlich durch ihren Schädel fliesst und in einem perfekten Strahl aus ihrem Gesicht herausspritzt.

Später musste ich an italienische Spring­brunnen denken, in denen versteinerte Nymphen hocken mit Löchern in den Brüsten. Im Gespräch erklärt Holzinger, wie dieses Kunststück zu ihrer Talentshow passt: «So ein Plastikteil kann man sich reinstecken und dann damit den besten Spring­brunnen kreieren.» Sie suchte ganz gezielt nach Figuren mit «Ophelia-Komplex», die sich nicht runterziehen lassen, die ihre Traumata, wie es in der Theorie immer so schön heisst, transformieren.

Xana Novais, so erzählt sie in «Ophelia’s Got Talent», wurde von einem Mann vergewaltigt, der ihr drei Stunden zuvor ihr erstes Tattoo gestochen hatte. Und eingeschlossen am Tatort habe sie gelernt, aus ihrem eigenen Körper auszusteigen und Distanz einzunehmen. Die Bahre, auf der sie liegt, steht mitten im Swimming­pool, und zwischen ihren gespreizten Beinen sitzt Renée Copraij, eine andere Darstellerin mit einem Schwanen­kopf auf dem Schopf, und lässt sich alle möglichen Instrumente aus der Gynäkologie reichen. Zangen und so.

Nun sind die Frauenbilder, die Holzinger aufruft, natürlich auch schon früher kommentiert und verändert worden – die Wasserleiche Ophelia, die in ihren Kleidern schön im Wasser schwebt, oder die Frau, die nackt neben zwei Herren in vornehmen Anzügen ein «Frühstück im Grünen» einnimmt, während eine andere im zarten Unter­kleid ins Teichwasser grapscht (Édouard Manet, 1863). Kunst­historikerinnen sind diese «ways of seeing» spätestens seit der Publikation von John Bergers gleichnamigem Buch aus dem Jahr 1972 bekannt, für das er unzählige Frauen­darstellungen vom späten Mittelalter über die Renaissance bis in seine Gegenwart hinein analysierte und auf die unvergessliche Formel brachte: «Männer handeln und Frauen erscheinen. Männer sehen Frauen an. Frauen sehen sich, wie sie angesehen werden.»

Holzinger erfindet zwar einen schönen neuen Typus für sie: «nymph with a broken back» – «Nymphe mit einem gebrochenen Rücken». Aber ihre Darstellerinnen sind nicht die Ersten, die sie wieder tanzen, turnen, tauchen lassen. Eben auf die breiten Beine stellen.

Im bewegten Hippie-Jahr 1968 hatte die österreichische Künstlerin Valie Export noch für «Genitalpanik» gesorgt, als sie sich in einem Lederoutfit mit offenem Schritt vor ein Kinopublikum setzte, die Beine spreizte und ihre Vulva zur Schau stellte. Und 1972, zeitgleich mit «Ways of Seeing», veröffentlichte sie das Manifest «Women’s Art», in dem es um nichts anderes als um den Widerstand gegen den sogenannten male gaze geht. «Lassen Sie Frauen sprechen, so dass sie sich finden können. Ich fordere das, damit wir ein selbstbestimmtes Bild von uns – und so eine andere Sicht auf die soziale Funktion von Frauen erlangen.»

Fünfzig Jahre später fragt man sich unweigerlich, warum diese Emanzipations­bewegung – also Stimme erheben wie Holzinger und Novais und daraus neue bewegte Selbstbilder schaffen – immer noch so reinhaut.

Liegt es daran, dass Valie Export (Jahrgang 1940) und viele andere Künstlerinnen ihrer Generation gegenüber Holzinger und ihrem Team (zu dem übrigens auch acht Kinder gehören, Mädchen im Alter zwischen 6 und 12 Jahren) eher wie Einzel­kämpferinnen wirken?

Holzinger kommt aus der freien Tanzszene, wo es «kollaborativ» und «ohne Hierarchien» zugeht. Und sobald sie über mehr finanzielle Mittel verfügte, Soloshows hinter sich lassen und mit grösseren Ensembles arbeiten konnte, holte sie Vorbilder und Spezialisten an Bord, um sich etwas beibringen zu lassen.

Die Ballerina Trixie Cordua trat fast 80-jährig in ihrem Stück «Tanz» auf, «sie hat so viel Erfahrung und ein hundert­jähriges Verständnis von Körper­bildern, da habe ich sehr viel Respekt vor, und ich erwarte, dass sie mir sagt, wie man eine Show macht, und nicht ich». Für «Ophelia’s Got Talent» erarbeiten Holzinger und ihr Team nicht nur die besagten «Ophelia-Komplexe» gemeinsam, in einer grossen Halle vor den Toren Berlins nahmen sie Schwimm- und Tauch­unterricht. Holzinger bewegt sich unter ihren Darstellerinnen also wie eine Genossin auf Augenhöhe, sie spielt (abgesehen von diesem einen Monolog vorne auf der Bühne) nie die Hauptrolle und trägt trotzdem die Verantwortung.

Für die Talentshow lässt sich Netti Nüganen in Ketten legen, will sich unter Wasser mit einer Haarnadel entfesseln – und scheitert. Panik. Holzinger springt in letzter Minute in den Wassertank – zu ihrer Rettung. Aufatmen.

Ein ernst zu nehmender Theater­kritiker erklärte mir kürzlich, dass solche genossenschaftlichen Auftritte von Frauen nichts Neues seien. Holzinger sei zum Beispiel schon sehr She She Pop verpflichtet, einem Kollektiv, das in den 90er-Jahren «Voyeurismus und künstlerische Prostitution» thematisierte und «Strategien weiblicher Selbst­inszenierung» aufzeigte: «Lies mal nur Wikipedia».

Am Ende können solche vorbildlichen Referenzen die sogenannte Realität hinter den Kulissen nur leider auch nicht aus der Welt schaffen.

Macho-Bastion Theater

Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne von 1992 bis 2017, badete jedenfalls für gewöhnlich nur im Applaus auf der Bühne. Klaus Dörr, der das Geschäft 2018 interimistisch übernahm, legte sein Amt nach #MeToo-Vorwürfen aus der weiblichen Belegschaft nieder, was zu einer flächen­deckenden Generalkritik an der «Macho-Bastion Theater» führte mit «extrem hierarchischen Strukturen», «Klima von Angst, Stress und Ausbeutung» und «beispielloser Machtfülle» aufseiten der Intendanten-Männer. Während ich dieses Kapitel des #MeToo-Protests im Internet nachlas, erreichte mich übrigens der Artikel, in dem die Journalistin Anuschka Roshani darüber berichtet, welchem Macht­missbrauch sie beim «Magazin» über Jahre ausgesetzt war und wie sie vergeblich auf Hilfe aus dem Medienhaus Tamedia wartete.

Holzinger fühlt sich trotz allem wohl im Theater – auch wenn sie für eine Inszenierung wie «Ophelia’s Got Talent» mit einem kafkaesken Regelwerk arbeiten muss, in dem ein ganzer Stab von Mitarbeitern jeweils eigene Vorstellungen von Sicherheits­protokollen, Bühnen­technik und so weiter hat.

Am Ende schafft sie es nicht nur, rund 34’000 Liter Wasser in ein Theater pumpen zu lassen. Die Volksbühne kaufte auch einen Helikopter, «der nach einer Havarie-Landung in Österreich ausgeschlachtet wurde», wie die Presse­abteilung informiert, damit Florentina Holzinger, Sophie Duncan, Xana Novais und Netti Nüganen ihn zu Technobeats besteigen können, bis sie zum feuchten Orgasmus kommen – mit Saioa Alvarez Ruiz im Cockpit.

«Im Theater», sagt Holzinger, «ist ein ganz besonderes Spiel am Werk, Realität lässt sich abstrakt beschreiben und Illusionen lassen sich erschaffen. Ich mag sogar die Blackbox, die Scheinwerfer, je banaler die Technik, desto grösser wird der Kontrast zu den Medien, den Screens, mit denen wir uns sonst so umgeben.» Und damit erreichen wir langsam die Pornoseiten, auf denen Aufnahmen von Holzinger manchmal landen. Auf den Screens, sagt Holzinger, gehe es zwar viel «krasser, blutiger, sexueller» zu als in ihren Stücken, umso «akuter» und «konfrontativer» würden aber die «echten Körper» auf der Bühne und die Frage, «wie die Leute mit ihnen umgehen».

Als ich ihr von dem Freund aus Zürich erzähle, der bei dem Stück «nur an Sex» denken konnte, sagt sie:

«Ich habe das nicht nur von Männern, sondern durchaus auch schon von Frauen gehört. Uns schien das an der Volksbühne aber eher nicht so das Problem zu sein. Bei anderen Tanzshows, etwa in Belgien, hat sich schon sehr früh etabliert, dass so Fünfzig-plus-Typen sofort in die ersten Reihen gesprintet sind, um sich einen guten Platz zu ergattern und uns in der Dunkelheit zwei Stunden lang zwischen die Beine zu schauen.»

«Ach so. Und wie geht ihr damit um?»

Holzinger überlegt kurz.

«Ich sage meinen Performerinnen, besonders denen, mit denen ich noch nie gearbeitet habe: Ihr müsst wissen, es gibt Leute, die nur kommen, weil ihr nackt seid und um sich daran aufzugeilen, und ihr werdet höchst­wahrscheinlich auf Porno­seiten enden. Es wäre einfach naiv, zu glauben, dass das nur als Kunst und nicht als Porno aufgefasst wird. Mich belustigt das auch, zu beobachten, auf welche unterschiedliche Art und Weise das gelesen wird.»

Nicht nur Szenen pflanzen

Nach unserem Treffen suche ich im Internet diese Pornoseiten – und finde sie. Ausserdem erfahre ich von einer ehemaligen Mitarbeiterin der Spielstätte Kampnagel in Hamburg, dass sie tatsächlich Männer kontrollieren mussten, «die sich in der ersten Reihe eingebucht haben, um dann unter der Lederjacke auf ihrem Schoss zu masturbieren». Holzinger sagt, sie habe die besten Plätze auch schon für Bekannte reserviert, um diese «wall of energy, ich kann das nur so new age ausdrücken», durch eine «fire wall» zu ersetzen. Ausserdem habe sie begonnen, Szenen zu pflanzen, die es der Crew ermöglichen, diese Personen zu konfrontieren.

Der Voyeur ist eine Art Türspion: Er glotzt, weil er unsichtbar ist. Erst wenn er angesprochen wird, findet er zurück ins soziale Gefüge, in dem die Moral seinen Trieben und Gelüsten Grenzen auferlegt. Im traditionellen Theater waren solche Durchbrüche durch die berühmte vierte Wand natürlich nicht vorgesehen, was «den grossen Protosoziologen der Pariser Gesellschaft», Émile Zola, wahrscheinlich auch dazu inspirierte, einen Theaterdirektor sein Haus ohne Umschweife als «Bordell» bezeichnen zu lassen. So wie gleich zu Beginn seines Romans «Nana» (1880), in dem die gleichnamige Schauspielerin nur aufzutreten braucht, «und der ganze Saal lässt die Zunge lang aus dem Halse heraushängen».

Im Jahr 2023 scheinen Theater­besucher nun offenbar zu weitaus schamloseren Reaktionen zu neigen. Holzinger und ihre Darstellerinnen richten also ab und zu den Scheinwerfer auf die Schaulustigen, um sie in Gespräche zu verwickeln. «Trotzdem», und das sagt Holzinger tatsächlich, während sie das hart gekochte Ei aus einer Hosen­tasche hervorholt, «möchte ich die Leute auch nicht quälen – oder kontrollieren auf diese Art und Weise, dass es dann nicht okay wäre, wenn da jemand mit einem Ständer sitzt oder so. Jeder, der für ein Ticket zahlt, kann da sein und hat es verdient, dort zu sein.»

Und das Beste an Holzinger ist, dass sie dieser heutzutage sogenannten sex positivity trotzdem nicht wie eine Gönnerin begegnet. Sie möchte wenigstens von ihrem schaulustigen Publikum mehr abverlangen als die zwanzig Euro für die Eintrittskarte.

Sexarbeiterinnen würden für ihre Dienst­leistung bezahlt werden. Im Ballett gebe es auch eine Art Tauschgeschäft – im «Foyer de la Danse», einem Studio der Opéra Garnier, an das nicht zuletzt der Maler Edgar Degas in seinem gleichnamigen Gemälde aus dem Jahr 1872 erinnert, konnten Männer jedenfalls Ballerinas bei den Proben begaffen, wenn sie dafür genügend Geld hinlegten. Und so überlegte sich Holzinger, anlässlich ihres Stücks «Tanz» stattdessen lieber eine Spendenbox einzurichten. Ihr Publikum darf Geld überweisen für einen «Enchanted Forest». Jawohl. Auf einem alten Hof «im Herzen von Österreichs südlichem Alpenfusse» sollen Apfel­bäume aus der Region gepflanzt werden, die «uns dabei helfen, die Biodiversität wieder­herzustellen».

«Ihr stellt euren Körper in den Dienst der Natur?», frage ich. Florentina Holzinger lacht, irre gut gelaunt. Und sagt: «Damals haben Mäzene für die Ausbildung von Ballerinas bezahlt. Was ist unser Narrativ? Wir investieren in die Zukunft.» Wenn in der Volksbühne Hunderte von Plastik­flaschen vom Theater­himmel ins Schwimm­becken stürzen und die älteren Mädchen mit Delfin­flosse auf dem Rücken durch den Müll springen, fühlt man sich wohl auch deshalb im hoffnungs­vollen Einklang mit unserem kaum noch zu rettenden Planeten.

Holzinger klopft das Ei nun auf den Glastisch. Es knackt. Wir verabschieden uns, Kollegen warten an einem anderen Tisch, und am späten Nachmittag fliegt sie nach Rom. Eine Oper steht auf dem Programm, «so männer­dominiert, das ist echt next level» – Holzinger möchte die Nonne Sancta Susanna zu neuem Leben erwecken. Länger als 25 Minuten will sie dafür nicht in Anspruch nehmen: «Operngesang packe ich so nonstop auch nicht.» Das wird auf jeden Fall ein Heidenspass.

PS: Welches ihrer Stücke in der Schweiz zu sehen sein wird, steht leider noch in den Sternen. Die Gessnerallee, die «Ophelia’s Got Talent» koproduzierte, klärt zurzeit, ob sie die Termine im November dieses Jahres halten kann. «Mit dem Wachsen der Arbeiten von Florentina Holzinger kommen die freien Produktions­häuser an ihre Grenzen – an der Gessnerallee zeichnet sich ab, dass wir die Arbeit nicht ohne Hilfe von anderen Häusern werden stemmen können: Es gibt in Zürich schlicht nicht so viele Hallen, die sich für diese Arbeit eignen.» Das Zürcher Schauspielhaus ist nach allem, was wir wissen, auch zu klein für Florentina Holzinger. Trotzdem hören die Intendanten, solange sie noch da sind, vielleicht den Aufruf zur Suche einer Location.

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