
Rechtswidrige Überwachung in Bern
Die Stadt Bern beaufsichtigt ihre Velostationen seit mindestens acht Jahren illegal per Video. Vor spätestens vier Jahren hat sie das gemerkt. Doch die Kameras filmen weiter.
Von Basil Schöni, 31.01.2023
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Die Stadt Bern mag keine Videoüberwachung. Das zeigte sich, als die Stadtregierung dem Parlament vor zwölf Jahren einen Entwurf für ein Videoreglement vorlegte. Wäre es nach der Regierung gegangen, hätte sie selbstständig entscheiden können, ob sie öffentliche Gebäude mit Kameras überwacht. Einzig die Kantonspolizei und die Datenschutzaufsicht hätten noch zustimmen müssen.
Doch das Parlament war nicht einverstanden. Mit einer Stimme Vorsprung bei einer Enthaltung änderte es den Artikel über die Zuständigkeit und erteilte diese Kompetenz sich selbst. Seit März 2015 muss daher jede städtische Überwachungsanlage nicht nur von der Polizei und der Datenschutzaufsicht, sondern auch vom Parlament abgesegnet werden.
Passiert ist das noch nie. Wer in einem öffentlichen Gebäude der Stadt Bern unterwegs ist, kann also davon ausgehen, dass sie nicht von einer Kamera beobachtet wird.
Richtig?
Falsch. Die Stadt Bern überwacht alle ihre Velostationen, seit sie gebaut wurden, mit Videokameras. Bei der ersten solchen Station ist das seit dem Jahr 2000 so. Doch ein Bewilligungsverfahren, wie es das Videoreglement vorschreibt, gab es nie. Damit handelt die Stadt rechtswidrig. Das zeigen Recherchen der Republik.
Wie lange die Überwachung schon rechtswidrig ist, ist nicht ganz klar. Im Jahr 2015 trat das städtische Videoreglement in Kraft, mindestens seit acht Jahren ist die Videoüberwachung also nicht legal.
Doch bereits seit 2009 muss Videoüberwachung im öffentlichen Raum gemäss kantonalem Recht bewilligt werden. Und auch heute gilt noch: Will eine Gemeinde ein öffentliches Gebäude mit Kameras überwachen, braucht sie eine Bewilligung der Polizei. Um diese zu erhalten, muss sie begründen, weshalb ein besonderer Schutz nötig und eine Videoüberwachung erforderlich ist. Sie ist zudem verpflichtet, ein «Informationssicherheits- und Datenschutzkonzept» einzureichen. Ist die Polizei einverstanden, prüft die zuständige Fach- und Aufsichtsstelle Datenschutz das Konzept. In Bern muss seit 2015 schliesslich auch noch das Stadtparlament der Überwachung zustimmen.
Danach ordnet die Gemeinde die Überwachung mit einer Verfügung an. Diese kann von betroffenen Personen angefochten werden.
Das heisst: Möglicherweise ist die Überwachung der Velostationen in der Stadt Bern damit nicht erst seit 2015, sondern bereits seit 2009 rechtswidrig.
Die Stadt Bern weiss spätestens seit Frühling 2019, dass die Videoüberwachung nicht legal ist. Damals – so die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün – wandte sich die städtische Verkehrsplanung an die Datenschutzaufsicht mit der Frage, wie die rechtliche Situation bezüglich der Kameras in den Velostationen aussehe.
Die Datenschutzaufsicht selber nennt gegenüber der Republik allerdings den Januar 2017 als ersten Kontakt. Schon damals habe man eine Anfrage aus der Verwaltung bekommen und über die vorgeschriebenen Bewilligungsschritte informiert.
Wie diese unterschiedlichen Angaben zustande kommen, konnte die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün bis Redaktionsschluss nicht erklären. Womöglich habe eine andere Stelle in der Stadtverwaltung bereits 2017 Abklärungen ausgelöst.
Fast vier oder genau sechs Jahre sind also vergangen, seit man in der Stadtverwaltung von dem Problem weiss. Weder die Öffentlichkeit noch die zuständigen Kommissionen des Parlaments wurden darüber informiert. Und wer eine städtische Velostation betritt, wird immer noch gefilmt. Von einer illegalen Überwachungsanlage.
Der Kanton steht besser da als die Stadt
Insgesamt gibt es in der Stadt Bern fünf Velostationen in Einstellhallen. Bei einer davon – der Station beim Hochschulzentrum Von Roll – ist nicht die Stadt, sondern der Kanton (in Gestalt der Universität Bern) für die Bewilligung der Überwachungsanlagen zuständig. Das teilt die Kantonspolizei auf Anfrage mit.
Der Kanton hat seine Pflicht denn auch erfüllt. Aus einer Karte der bewilligten Videoüberwachungsgeräte im Kanton Bern geht hervor, dass auf dem Gelände des Hochschulzentrums eine bewilligte Anlage betrieben wird. Wie die Kantonspolizei bestätigt, wird auch die dortige Veloeinstellhalle von dieser bewilligten Anlage überwacht. Die übrigen vier Velostationen, für die die Stadt verantwortlich ist, sind auf der Karte nicht eingezeichnet. Dort ist keine einzige Kamera legal.
Dass ausgerechnet der Kanton seine Überwachungsanlage legal betreibt und die Stadt nicht, mutet seltsam an. Aktuell gibt nämlich eine Teilrevision des kantonalen Polizeigesetzes zu reden, die dem Kanton erlauben würde, die Gemeinden zur Videoüberwachung zu zwingen. In der gar nicht überwachungsfreudigen Stadt Bern ist der Widerstand gegen dieses Vorhaben gross. Die Stadtregierung sprach sich gegen die Gesetzesänderung aus. Sie sieht damit die Gemeindeautonomie gefährdet.
Die Stadtregierung will also verhindern, dass der Kanton Videokameras installieren kann, denen in der Stadt Bern niemand zugestimmt hat. Währenddessen lässt sie selber Kameras laufen, denen in der Stadt Bern niemand zugestimmt hat.
Die obligatorischen Listen existieren nicht
Diese Situation ist mehr als die Folge einer Formalität. Denn sowohl das kantonale Recht als auch das städtische Videoreglement schreiben vor, dass über die Videoüberwachung umfassend informiert werden muss und dass die Massnahmen regelmässig überprüft werden müssen.
So wäre die Stadt Bern verpflichtet, eine Liste der Überwachungsanlagen zu führen und diese allgemein zugänglich zu machen. In dieser Liste müssen Standort, Betriebszeiten und Aufnahmefeld enthalten sein. Zudem muss ersichtlich sein, ob es sich um eine Echtzeitüberwachung handelt. Als die Republik nach dieser Liste fragt, teilt die Direktion Sicherheit, Umwelt und Energie der Stadt Bern mit, dass sie nicht existiere, da das Parlament ja noch gar nie eine Videoüberwachung bewilligt habe.
Auf kantonaler Ebene regelt die Polizeiverordnung, dass für jede Überwachungsanlage Protokolle geführt werden müssen, die zeigen, ob gespeicherte Aufzeichnungen vernichtet wurden und wann die Technik überprüft wurde. Auch diese Protokolle müssen allgemein zugänglich gemacht werden.
Das Stadtberner Videoreglement macht zudem klare Vorgaben, wann eine einmal bewilligte Anlage wieder entfernt werden muss. Die Stadtregierung ist verpflichtet, ein erstes Mal nach drei und danach alle fünf Jahre einen Evaluationsbericht bei einer externen, unabhängigen Stelle in Auftrag zu geben. Diese muss prüfen, ob die Videoüberwachung wirksam ist. Der Bericht muss zudem Informationen darüber enthalten, wie oft die Aufzeichnungen ausgewertet und in Strafverfahren als Beweismittel verwendet wurden. Kann nicht nachgewiesen werden, dass eine Überwachungsanlage wirksam ist, muss die Anlage entfernt werden. Auch die Evaluationsberichte müssen öffentlich gemacht werden.
Auf Anfrage teilt die Stadt mit, dass die vorgeschriebenen Protokolle nicht existieren. Und dass noch nie eine Evaluation der Videoüberwachung in den Velostationen durchgeführt wurde.
Das sagt die oberste Datenschützerin der Stadt Bern
«Eine Behörde muss transparent sein und zeigen, was sie macht», sagt Mirjam Graf, die Ombudsfrau und Datenschutzbeauftragte der Stadt Bern. «Erst dann kann ich als Bürgerin überprüfen, was da genau passiert. Werden meine Bilddaten missbraucht? Oder ist alles in Ordnung? Die Bürger müssen wissen, wie sie sich informieren und gegen allenfalls missbräuchliche Datenverarbeitung wehren können. Das ist hier nicht gegeben.»
Als Leiterin der Fach- und Aufsichtsstelle Datenschutz muss Graf die Verwaltung kontrollieren und beraten. Sie untersteht direkt dem Parlament, ist also von der Regierung unabhängig. 2017 hat sie zum ersten Mal von der fehlenden Bewilligung der Videoüberwachung in den Velostationen gehört. «Die Fach- und Aufsichtsstelle Datenschutz hat damals eine Anfrage aus der Stadtverwaltung bekommen bezüglich dieser Kameras. Wir haben die Vorgehensweise erklärt und gesagt, dass umgehend das Rückspracheverfahren mit der Kantonspolizei eingeleitet werden muss. Diese Aufforderung haben wir seither mehrmals wiederholt und eine förmliche Empfehlung in Aussicht gestellt, wenn die nachträgliche Legalisierung nicht vorgenommen wird.»
Warum ist trotzdem jahrelang nichts passiert? Wieso hat die Fach- und Aufsichtsstelle Datenschutz in der Zwischenzeit nicht schärfer reagiert? Etwa indem sie empfahl, die Videoüberwachung einzustellen?
«Als Datenschutzaufsicht haben wir relativ knappe Ressourcen», sagt Graf. «Wir sind oft nur reaktiv unterwegs und können nicht flächendeckend beobachten, was die Verwaltung so macht. Und es macht einen Unterschied, ob die Überwachung den öffentlichen Raum betrifft oder ob sie sich auf die Räumlichkeiten einer Velostation beschränkt. Deshalb haben wir uns mit dem Versprechen einer nachträglichen Legalisierung zufriedengegeben und da auch nicht immer wieder nachgefragt.»
Eines sei aber klar: «Die Stadt darf diese Überwachungsanlagen so nicht betreiben, sie wurden nie im vorgesehenen Prozess legalisiert. Entweder man macht das subito, oder man hängt sie ab.»
Und wie geht es jetzt weiter?
Das ist nach all den Jahren nun auch bei der Stadt angekommen.
Man sei sich der unerfreulichen Situation bewusst, teilt die Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün auf Anfrage der Republik mit. «Konkret soll die Stadtregierung noch vor den Sportferien einen Entscheid über das weitere Vorgehen fällen. Auf der einen Seite spielt dabei die Tatsache mit, dass die Videoüberwachung bisher nicht bewilligt worden ist. Auf der anderen Seite erwarten die Bürgerinnen und Bürger, dass ihr Velo in den Velostationen sicher ist.»
Den zuständigen Stellen sei lange Zeit nicht bewusst gewesen, dass die Velostationen unter das Videoreglement fallen. Erst als eine weitere Velostation bei der «Welle 7» am Bahnhof Bern geplant wurde, hätten sich Fragen zur Zuständigkeit und zum anzuwendenden Verfahren gestellt. «Die daraufhin an die Hand genommenen Abklärungen waren komplexer als gedacht und haben sich auch aufgrund von personellen Engpässen zusätzlich in die Länge gezogen.» Das sei bedauerlich. «Hätten wir von Beginn an gewusst, dass sich die Abklärungen derart in die Länge ziehen, hätten wir wohl schneller reagiert.»
Als Nächstes werde die Stadtregierung entscheiden, ob die Velostationen weiter überwacht werden sollen. Falls ja, werde ein Sicherheitskonzept erstellt und das notwendige Bewilligungsverfahren ausgelöst.
Damit könnte das Thema bald einmal im Parlament landen. Wie dieses entscheiden wird, darf man in Bern gespannt erwarten. Die Stadt mag zwar keine Videoüberwachung – doch sie mag Velos. Gut möglich also, dass Bern in wenigen Jahren seine erste offizielle Videoüberwachungsanlage in Betrieb nehmen wird. Vom Parlament bewilligt, von der Datenschutzaufsicht geprüft, mit regelmässigen Evaluationen und öffentlichem Register.
So, wie es das Gesetz eben vorschreibt.