Die Sonne scheint, frische Milch fliesst und an der Grenze liegt ein Toter
Jedes Jahr im Januar treffen sich die Mitglieder der SVP Zürich im Schützenhaus Albisgüetli, um Lose zu kaufen und Christoph Blocher zu lauschen. Wovon träumen diese Leute?, fragt sich unsere Reporterin.
Von Anna Dreussi (Text) und Joan Minder (Bilder), 28.01.2023
Journalismus kostet. Dass Sie diesen Beitrag trotzdem lesen können, verdanken Sie den rund 27’000 Leserinnen, die die Republik schon finanzieren. Wenn auch Sie unabhängigen Journalismus möglich machen wollen: Kommen Sie an Bord!
Ich wusste, dass er bis zur Station Albisgüetli fährt. Ich wusste es schon, als er am Bahnhofquai einstieg. Vielleicht war es die Überheblichkeit, eine rote Winterjacke zu tragen. Oder dass er so aussah, als würde er Traktorenöl frühstücken, seine Ehefrau hassen und ein bisschen verliebt sein in einen der reichsten Männer der Schweiz.
Der ist heute ein Programmpunkt, so wie jedes Jahr. Christoph Blocher hält seine Ansprache im Albisgüetli an der jährlichen Tagung der SVP Zürich. Auch ich bin dorthin unterwegs. Die Strasse von der Tramhaltestelle bis zum Restaurant Albisgüetli ist eisig. Ich bin zu dünn angezogen.
Zu Hause hatte ich mir viele Gedanken darüber gemacht, was ich anziehen soll. Ein bisschen wie vor einem Date. Irgendwas, das so alt und hässlich ist wie der Schweizer Populismus. Und dann entschied ich mich trotzdem gegen das Ed-Hardy-Oberteil. Denn nichts ist lustig an einem Date mit dem überwältigenden Gefühl, dass alles den Bach runtergeht.
2 Liter «Züri-Hell» und «Cozy Moments»
Am Eingang drängeln sie schon, die Mitglieder der SVP Zürich. Gleich sind sie unter sich. Der Medienverantwortliche führt mich und einen anderen Journalisten durch die Küche in den Festsaal. Dort liegt auf jedem Platz ein Bürli. Er erklärt uns, dass Tisch 3 der VIP-Tisch sei, und falls wir mit Personen von dem Tisch sprechen oder ein Foto von ihnen machen wollten, müssten wir zuerst ihn fragen.
Am hinteren Ende des Saals hängt ein grosses Banner mit der Aufschrift: «Für eine sichere Zukunft in Freiheit». An allen Wänden thronen die Kantonswappen über uns. Auf den Tischen, die für die Presse reserviert sind, türmen sich Sandwiches mit traurigem Weissbrot. Die Gäste sollen laut Speisekarte später Zürcher Geschnetzeltes mit Butterrösti und Mischgemüse bekommen. Ein Banner hinter der Bühne bezeichnet das Albisgüetli als «grösste politische Veranstaltung der Schweiz».
Ich gehe aus dem Festsaal durch das Festzelt raus in die Kälte und betrete das Restaurant Albisgüetli, wo die 1000 Tombola-Sofortpreise die Wand säumen. Ein nett aussehender älterer Herr verteilt sie an die Gewinnerinnen. Grosse Ovomaltine- und Caotinadosen, Geschenkkörbe mit Kägi fret und Pasta, Reiselottos, 2-Liter-Bierflaschen «Züri-Hell», Kosmetika-Sets «Cozy Moments».
Ein Mann telefoniert mit derselben Vorsicht, mit der ich mich durch den Tombolasaal schleiche, um nicht vom SVP-Fotografen abgelichtet zu werden: «Ich bin heute eben bei einem Anlass eingeladen. Jetzt bin ich gerade beim Apéro.»
Im beheizten Zelt vor dem Saal schenken alte Männer spanischen Weisswein aus. Ich trinke zu grosse Schlucke. Der Wein schmeckt beissend sauer in meiner Kehle. Neben mir tauschen die Gäste Floskeln aus.
«Oh, was machst du denn hier?»
«So jung, wie mir jetzt sind, chömed mer nüme zäme.»
Ein Mann neben mir wedelt mit Tombolalosen und fragt, ob ich auch welche gekauft habe. Ich schüttle den Kopf.
«Hast du schon einen der Sofortpreise gewonnen?», frage ich.
«Ich brauche keinen Früchtekorb», sagt er. «Ich brauche eine Freundin.»
Ich hole ein zweites Glas Weisswein. Als ich von einer Seite des Raums beobachte, stellt sich der Tombolatyp wieder neben mich.
«Mein Grossvater war SVP-Nationalrat, und dann wurden wir alle Sozialisten», sagt er.
«Und was machst du jetzt hier?», frage ich.
«Ich bin ein bisschen abgestürzt in der linken Szene. Und ich brauche die Balance. Ich bin Waage.»
Ich sage: «Blocher auch», und dann erklärt er mir, warum Alt-Nationalrat Ulrich Schlüer ein böser Mann sei.
«Ich habe ein Mäuschen», sagt er. Er zieht etwas aus der Tasche, das aussieht wie ein kleines, längliches Gemüse. Eine Rande. «Wir sind halt Bauern. Blocher und ich.»
Gott und die Rechten
Auf der Bühne trägt die OK-Präsidentin ein Blumenkleid und schreit trotz Mikrofon: «Bitte nehmen Sie Platz.» Als sich nichts tut im Saal, wird sie energischer.
«Bitte nehmen Sie Platz und hören Sie auf, zu reden.»
Und dann: «Wir eröffnen pünktlich auf die Sekunde mit dem SVP-Marsch.»
Nachdem alle brav der Grenadiermusik zugehört haben, versammelt sich das OK auf der Bühne. Die Gäste im Saal erheben sich, stimmen die erste Strophe des Schweizer Psalms an und meinen alles sehr ernst.
Und weil es um Gott geht und alle singen und während der ersten Klänge ihre Haltung korrigieren, damit sie die Schweiz nicht herabsetzen mit ihrem gebückten Rücken, werde ich auch ganz andächtig. Worauf sind sie stolz, wenn sie ihre Rücken so durchstrecken und den Psalm tief aus ihren Lungen in die Welt hinauspfeffern? Darauf, dass sie über den Reichtum des Milliardärs hinwegsehen, solange er ein paar Bauernweisheiten in seinen Reden unterbringt?
Als erster Redner des Abends betritt Domenik Ledergerber, Kantonsrat und Präsident der SVP Kanton Zürich, die Bühne. Bäuche, die sich über den Hosenbund wölben, und Nasen, die rot aus ihren Gesichtern ragen. Die Topografie des Abends. Die Gäste lachen über Witze über Berset und klatschen, wenn Zuwanderung als «massives Problem» bezeichnet wird.
Wovon träumen diese Leute? Von der Sonne, die auf Gipfel scheint, frischer Milch und Toten an den EU-Aussengrenzen.
Am Ende überreicht die OK-Präsidentin Ledergerber einen Strauss. Die drei Küsschen schmatzen über das Mikrofon durch den ganzen Saal.
Eine Grenzerfahrung
Christoph Blocher erklimmt die Treppe zur Bühne mit der Entschlossenheit eines Kleinkindes. Über ihm projiziert ein Beamer eine zweite Version seiner selbst an die Decke, damit auch die hintersten Reihen sein Rumgehampel mitbekommen. Christoph Blochers Zwilling flimmert über der Menge und erleuchtet die Glatzen und Gelfrisuren, die Altersflecken und die blonden, geglätteten Haare, die hängenden Augenlider und aufgerissenen Augen. Auf einem grossen Teller neben mir siffen gestapelte Sandwiches vor sich hin und untermalen die Rede mit einem Salamigeruch. Hier sitze ich also erleuchtet von der Blocher-Übertragung und verstehe die Schweiz.
Er streut immer wieder ein «Es stimmt» oder ein «Wir können es nicht anders sagen. Es ist so» ein, damit wir wissen, dass alles wahr ist.
«Illegal Eingewanderte. Diebstahltouristen. Krawallbrüder. Asylsuchende. 10-Millionen-Schweiz. Rot- und Grünschnäbel.» Ich stelle mir vor, wie bei jedem Schlagwort ein Äderchen in seinem Gesicht platzt vor Genugtuung. Dann macht er Witze über seine Frau und das Gut-im-Haushalt-Sein.
Ein Mitarbeiter des OK sitzt neben mir und schreibt auf Whatsapp als Antwort auf ein Bild von Christoph Blocher auf der Bühne: «Er isch scho en geile siech.»
Die OK-Präsidentin steht auf der Treppe zur Bühne, bereit, den Altbundesrat von der Bühne zu zerren. Doch er will noch nicht aufhören. Er spricht eine halbe Stunde weiter.
Als das Abendessen serviert wird, ist es schon lange nach acht. Eine Fotografin lehnt sich zu mir: «Es ist eine Grenzerfahrung.» Wir beobachten die Essenden von einer Seite des Saals. FDP-Regierungsrätin Carmen Walker Späh irrt vor der Bühne rum und sieht dabei fast so verloren aus, wie ich mich fühle.
Eine Frau stellt sich neben mich und lächelt mir zu. Ich frage sie, ob ihr die Rede gefiel. Sie sagt, dass Blocher heute ganz gut beieinander war. «Besser als au scho.»
Neu-Bundesrat Albert Rösti kommt auf die Bühne und glänzt und glänzt und glänzt. Rot und stolz und dankbar.
Der nächste Programmpunkt, die Alleinunterhalterin, wird als SVP-erprobt angekündigt. Die ersten Takte von «Mamma Mia» erklingen. Doch davon lässt sich niemand mitreissen. Es wird weder gewippt noch gesungen. Vor der Bühne erklärt eine Frau ihrem Freund, aus welchem Winkel er das Bild von ihr und Christoph Blocher schiessen soll.
Die ganze Welt ist das Zürcher Oberland
Ich wandere weiter durch die Menge von Händeschütteln, Posieren und Auf-die-Schulter-Klopfen. Am Eingang zum Festsaal liegen Postkarten des Restaurants Albisgüetli aus. Auf einem wird das Wort «Gastfreundschaft» definiert.
Die 22 Hauptpreise der Tombola werden gezogen. Ein Jung-SVPler greift in eine riesige Metallbox. Die OK-Präsidentin verkündet die Gewinnerinnen. Die Willys und Monikas und Fredys aus Volketswil und Wila gewinnen Waschmaschine, E-Mountainbike, XXL-Früchtekorb, Wellnesstag. Die ganze Welt ist das Zürcher Oberland: Wir kotzen dem Nachbarn ein Sixpack Feldschlösschen ins Gebüsch. Und verdienen Geld, damit wir weiter Tombolalösli kaufen können und damit einer der reichsten Menschen der Schweiz weiter erzählen kann, was für Albträume er letzte Nacht hatte. Die ganze Welt ist das Zürcher Oberland, und wir lachen, lachen, lachen. Von den Wahlplakaten, über unsere Ehefrauen, über den Genderstern oder weil wir an importierte Gewalt glauben.
Kurz spielt die Musikerin ein Lied, bei dem man Mitjohlen kann, und ich habe die Hoffnung, dass einer dieser Jung-SVPler tausend Kilogramm Schnupftabak auspackt, die Gäste sich in die Arme taumeln, alle mit ihren übervollen Gläsern anstossen und das Albisgüetli in einem Meer aus Bier versinkt.
Aber bevor irgendetwas passieren kann, schafft es Christoph Blocher um 23.38 Uhr endlich aus dem Festsaal.
Drinnen tragen Gäste weiter eingeschweisste Cervelats, überdimensionierte Ovomaltinedosen, eingeschweisste Fleischkäse und Körbe durch den Saal. Einige verspeisen den auf dem Programm angekündigten Mitternachtssnack: Schweinswürstli mit Bürli. Auf einer Seite des Saals hat die junge SVP eine Bar aufgebaut.
Und dann fange ich an zu überlegen, ob ich noch bleiben soll. Ich habe Angst, etwas zu verpassen. Vielleicht tanzt gleich jemand. Vielleicht steigt sogar noch jemand auf den Tisch. Oder vielleicht schlägt gleich jemand den beiden, die bei der Ziehung der 22 Hauptgewinne zweimal aufgerufen wurden, die Köpfe ein mit der überdimensionierten Caotinadose. Verdient hätten sie es für ihr streberhaftes Losekaufen.
Doch die Alleinunterhalterin spielt Abspannmusik. Ich gehe langsam. Und bleibe immer wieder stehen, um sicherzugehen, dass wirklich nichts passiert. Alle lächeln sediert, wie von Wahlplakaten.
Im Zelt vor dem Festsaal stehen Christoph und Silvia Blocher. Sie konnten noch nicht losfahren, weil Christoph Blocher für Fotos posieren soll. Sowieso konnte er heute wahrscheinlich keine fünf Meter am Stück zurücklegen, ohne in irgendein Bild oder zwischen zwei Anbeter gezogen zu werden. Draussen steht schon sein Chauffeur mit dem Audi. Ein Security öffnet vorauseilend schon mal die beiden Türen zur Rückbank.
Der Chauffeur winkt ab: «So geht die ganze Wärme raus.»
Blocher will nicht gehen.
Ich schon.
Anna Dreussi studiert Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus und gehört der Autorenagentur Hermes Baby an. Sie arbeitete für das Onlinemagazin «Vice» und schreibt unter anderem für den «Spiegel» und für «Zeit Online».