Die Leiden Christi als Liveact: Von oben verfolgen ein paar Jugendliche die Inszenierung in La Mucuchache.

Panamericana

Die Passion Christi im Páramo

Die fünfte Folge unserer Bildkolumne «Panamericana» führt nach Venezuela. Inmitten von Mond­landschaften finden hier Passions­spiele statt – mit echten Peitschen­hieben.

Von Andrea Hernández Briceño (Text und Bilder) und Nora Ströbel (Übersetzung und Bildredaktion), 26.01.2023

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Ein Mann verkauft wuschelige Mucuchíes-Welpen am Strassenrand der Pan­americana. Seine Wangen sind gerötet, wie die der meisten Anden­bewohner, und er feilscht mit seinen Kunden um den besten Preis. Er heisst William und erzählt mir, dass in den letzten fünf Jahren nur wenige Besucher gekommen sind, die wirtschaftliche Krise hat in dieser Zeit erbarmungslos alle Regionen Venezuelas getroffen.

Jetzt sind seine Kunden aus den umliegenden Regionen angereist, um die Karwoche in Mérida zu feiern. Die Stadt ist für ihre Inszenierung der Passion Christi berühmt. Der gleichnamige Bundes­staat ist eine der katholischsten Regionen des Landes. Egal wie klein die Städte hier sind, in ihrer Mitte steht immer eine Kirche. Und das soziale und wirtschaftliche Leben spielt sich rund um diese Kirchen ab.

Die Abzweigung der Pan­americana, Carretera Trasandina genannt, verbindet Venezuelas Hauptstadt mit Kolumbien. Sie durchquert das Land und führt hoch in die Anden, die 7500 Kilometer lange Gebirgs­kette, die sich von Norden nach Süden über sieben Länder Südamerikas erstreckt.

Zur Bildkolumne «Panamericana»

Der Pan-American Highway ist wie eine Arterie, welche die Länder in Nord- und Südamerika miteinander vernetzt. Die Strasse verband schon die ältesten Zivilisationen und befördert mehr als nur den Verkehr – sie ist auch Zeugin der Menschheits­geschichte. Das Fotografinnen­kollektiv Ayün Fotógrafas hat für die Republik die Panamericana als Leitmotiv genommen, um zwischen Texas und Chile das Leben der Menschen in acht Ländern zu dokumentieren.

Die Autobahn und das Rückgrat des Kontinents kreuzen sich in Venezuela. Darum herum ist die Region übersät mit kleinen ländlichen Städten, die stolz auf ihre religiösen Feiern sind und sich im Wettstreit befinden, wer am frommsten und gleichzeitig am extra­vagantesten ist. Der Wettbewerb beginnt im April jeden Jahres, wenn die mutigsten der Städte die zwölf Stationen der Passion Christi inszenieren. Einige der Darsteller spielen ihre Rollen seit Jahren, und sie tragen stolz die Narben der Peitschen­hiebe. Für sie ist es eine Ehre, Jesus zu spielen und dafür Blut zu vergiessen. Gerade auch jetzt nach der Pandemie, wenn wieder mehr Zuschauerinnen erwartet werden. Und es neue Kostüme gibt.

Tatsächlich kommen mehr Leute. Ich sehe alte Frauen, Betrunkene, Babys auf den Schultern ihrer Eltern und eine Frau im Rollstuhl auf den höchsten Punkt der Hügel steigen, um über den Nebel­feldern und im Niesel­regen die lebende Passion zu sehen. Das Bellen der Mucuchíes vermischt sich mit den Schreien der Frommen.

Ich steige mit ihnen hoch und überblicke den kosmischen Páramo, die typische Grasflur. Es ist seltsam, die Passion Christi in dieser nebligen Mond­landschaft zu sehen, so weit weg vom Original­schauplatz vor 2000 Jahren.

Endlich kommen die Besucherinnen wieder: Gläubige strömen in eine Kirche in Mérida.
Gekleidet in die liturgische Farbe der Fastenzeit: Priester beim Kirchenportal in Mérida.
Die Karwoche ist wichtig fürs Geschäft: Eine Frau verkauft Nazarener Gewänder.
Lebendiges Geschehen: Das Publikum verfolgt die Kreuzigung auf einem Hügel bei La Mucuchache.
Christus zu spielen, ist eine Ehre: Darsteller mit Kreuz.
Die Peiniger an den Fersen: Jesus auf dem Kreuzweg.
Weit weg vom Original­schauplatz: Ein Kreuzberg im Páramo, in der andentypischen Vegetation.
«Man sagt, dass sich die Mucubají-Lagune versteckt, wenn sie wütend ist. Wenn jemand Steine ins Wasser wirft oder viel Lärm macht, bedeckt sie sich mit Nebel, damit man sie nicht sieht. Ich glaube, dass sie, genau wie ich, es vorzieht, unsichtbar zu sein. Wir könnten Freunde sein.»
Zaungäste: Geier am Strassenrand während der Feierlichkeiten in Lagunillas.
Madonna mit Regenschutz: Eine Frau trägt eine Statuette der Jungfrau Maria mit.
Bald startet die Prozession: Ein Schrein mit Christus-Statue wird auf ein Auto geladen.
«Alle öffneten ihre Regenschirme und folgten dem Lastwagen mit Jesus zum Grab in Mucuchíes. Ein junges Paar hielt heimlich Händchen. Ein Regenbogen erschien als Vorbote eines Wunders. Dieses Mal habe ich es geglaubt.»
Die Frisur muss sitzen: Leonardo Pirela, 13, kämmt sich die Haare.
An der Kreuzung von Panamericana und Andenrücken: Blick auf den Fluss Chama.
Warten auf Kundschaft an der Carretera Trasandina: William hält Mucuchíes-Welpen feil.
Das Wetter stimmt melancholisch: Ein Jugendlicher wirft Steine in die Mucubají-Lagune.

Texas

Karibisches Meer

Mexiko

Guatemala

Caracas

Venezuela

Mérida

Ecuador

Kolumbien

Peru

Chile

Südpazifik

Argentinien

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Zur Fotografin

Andrea Hernández Briceño ist eine venezolanische Dokumentar­fotografin aus Caracas. Sie beschäftigt sich in ihrer Arbeit vor allem mit sozialen Themen, arbeitet regelmässig mit der «Washington Post» sowie «El País» zusammen und hat zahlreiche Preise gewonnen. Sie ist Mitglied von Ayün Fotógrafas.

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