Sind Sie noch dieselbe Person, die Sie einmal waren?

Was wir lernen können, wenn wir uns fragen, ob wir schon immer so waren, wie wir sind.

Von Joshua Rothman (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Juan Bernabeu, «The New Yorker»/Condé Nast (Illustration), 24.12.2022

Synthetische Stimme
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Ich habe nur wenige Erinnerungen an die Zeit, als ich vier Jahre alt war – und nun, da ich Vater eines Vier­jährigen bin, beunruhigt mich das.

Mein Sohn und ich haben viel Spass zusammen. In letzter Zeit bauen wir Lego-Versionen von vertrauten Orten (Café, Bade­zimmer); und wir perfektionieren den «Flipperoo», eine Übung, bei der ich seine Hände halte, während er einen Salto rückwärts von meinen Schultern auf den Boden vollführt. Doch an wie viel von unserem fröhlichen Leben wird er sich erinnern?

Alles, was mir von meinem vierten Lebens­jahr in Erinnerung geblieben ist, sind die rot lackierten Nägel einer fiesen Baby­sitterin, das matte Silber der Stereo­anlage in der Wohnung meiner Eltern, ein Flur mit orange­farbenem Teppich, einige Zimmer­pflanzen in der Sonne und ein Gesichts­ausdruck meines Vaters, der sich vielleicht von einem Foto ins Gedächtnis geschmuggelt hat.

Diese unzusammen­hängenden Eindrücke fügen sich nicht zum Bild eines Lebens zusammen. Sie erhellen auch keine innere Wirklich­keit. Ich erinnere mich weder an meine Gefühle noch an meine Gedanken zu dieser Zeit. Angeblich war ich ein fröhliches, redseliges Kind, das bei Tisch lange Reden hielt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, so gewesen zu sein.

Es macht solchen Spass, Zeit mit meinem lustigen, redegewandten Sohn zu verbringen, dass es mir manchmal leid tut für ihn, dass er sich später nicht mehr daran erinnern wird.

Wenn wir unser kindliches Selbst deutlicher wahrnehmen könnten, hätten wir vielleicht ein besseres Gefühl für den Verlauf und den Charakter unseres Lebens. Sind wir mit vier Jahren dieselben Menschen, die wir mit vierund­zwanzig, vierund­vierzig oder vierund­siebzig Jahren sein werden? Oder verändern wir uns im Laufe der Zeit grund­legend? Ist das Schicksal bereits festgelegt oder nimmt unsere Geschichte noch überraschende Wendungen?

Viele Menschen haben das Gefühl, sich im Laufe der Jahre tiefgreifend verändert zu haben, und die Vergangenheit erscheint ihnen wie ein fremdes Land, das geprägt ist von eigenartigen Bräuchen, Werten und Geschmäckern. (Diese Freundinnen! Diese Musik! Diese Kleider!)

Andere hingegen fühlen sich ihrem jüngeren Ich stark verbunden. Für sie ist die Vergangenheit noch immer ein Zuhause. Meine Schwieger­mutter, die nicht weit von ihrem Elternhaus entfernt in derselben Stadt lebt, in der sie aufgewachsen ist, betont, dass sie immer noch dieselbe sei, und erinnert sich mit lebhafter Empörung an ihren sechsten Geburtstag, an dem ihr ein Pony versprochen wurde, das sie aber nicht bekam. Ihr Bruder vertritt die entgegen­gesetzte Ansicht: Er schaut auf verschiedene Abschnitte in seinem Leben zurück, die jeweils ihre eigenen Haltungen, Lebens­umstände und Freunde mit sich brachten. «Ich bin durch viele Türen gegangen», sagte er mir.

Mir geht es genauso, obwohl die meisten Menschen, die mich gut kennen, finden, ich sei eigentlich der Gleiche geblieben.

Versuchen Sie, sich an Ihr Leben vor vielen Jahren zu erinnern, an einem typischen Tag im Herbst. Damals waren Ihnen bestimmte Dinge sehr wichtig (eine Freundin? Depeche Mode?), andere hingegen waren Ihnen noch nicht bewusst (Ihr politisches Engagement? Ihre Kinder?). Gewisse prägende Ereignisse – das Studium? Der Krieg? Die Ehe? Die Anonymen Alkoholiker? – hatten noch nicht stattgefunden. Fühlt sich das Ich, an das Sie sich erinnern, wie Sie selbst an oder wie eine Fremde? Ist es, als würden Sie sich an gestern erinnern oder einen Roman über eine fiktive Figur lesen?

Wenn Sie Ersteres empfinden, lieben Sie wahrscheinlich die Beständigkeit, nennen wir Sie deshalb eine «Kontinuistin»; wenn Sie Letzteres empfinden, lieben Sie wahrscheinlich die Veränderung, Sie sind also eine «Separatorin». Vielleicht wären Sie lieber das eine als das andere, doch fällt es Ihnen schwer, die Perspektive zu wechseln. In seinem Gedicht «The Rainbow» schrieb William Wordsworth, «das Kind ist der Vater des Mannes», und dieses Motto wird gerne als Wahrheit zitiert. Aber er formulierte die Idee als Wunsch – «Den Tagen sei, die mir noch sind, / ein einend Band die schlichte Pietät»: Als ob er sagen wollte, es wäre zwar schön, wenn unsere Kindheit und unser Erwachsen­sein wie die Enden eines Regen­bogens miteinander verbunden wären, diese Verbindung jedoch wahrscheinlich eine Illusion ist, die davon abhängt, wo wir gerade stehen.

Ein Grund, Klassen­treffen zu besuchen, besteht darin, sich wie ein früheres Ich zu fühlen – alte Freundschaften werden wiederbelebt, alte Witze kursieren, alte Liebschaften flammen noch einmal auf. Doch diese Zeitreise endet, sobald man den Versammlungs­ort verlässt. Man stellt fest, dass man sich eben doch verändert hat.

Andere hingegen möchten die Verbindung zu ihrem früheren Selbst auflösen. Belastet von dem, wer wir einmal waren, oder gefangen in dem, was wir sind, wünschen wir uns ein vielteiliges Leben. In seinen autobiografischen Romanen «Sterben», «Lieben», «Spielen» etc. stellt Karl Ove Knausgård – ein Mann mittleren Alters, der hofft, dass er heute besser ist als in seiner Jugend – die Frage, ob es überhaupt sinnvoll sei, ein Leben lang denselben Namen zu benutzen. Beim Betrachten eines seiner Baby­fotos fragt er sich, was dieser kleine Mensch mit «ausgestreckten Armen und Beinen und dem zum Schrei verzerrten Gesicht» wirklich mit dem vierzig­jährigen Vater und Schrift­steller zu tun hat, der er heute ist; oder mit «dem ergrauten, buckligen Greis, der in vierzig Jahren möglicher­weise sabbernd und zitternd in einem Alters­heim hockt».

Es wäre vielleicht besser, so sein Vorschlag, eine Reihe von Namen anzunehmen: «Der Fötus könnte zum Beispiel Jens Ove heissen, der Säugling Nils Ove … der zehn- bis zwölfjährige Geir Ove, der zwölf- bis siebzehnjährige Kurt Ove … der dreiundzwanzig- bis zweiunddreissig­jährige Tor Ove, der zweiunddreissig- bis sechsund­vierzig­jährige Karl Ove und so weiter.» In einem solchen System würde «der erste Name die Besonderheit der Alters­stufe darstellen, der mittlere Name die Kontinuität und der letzte die Familien­zugehörigkeit».

Als würden wir uns an ein vergangenes Leben erinnern

Mein Sohn heisst Peter. Der Gedanke, dass er sich eines Tages so sehr verändern könnte, dass er einen neuen Namen braucht, macht mir Angst. Doch er lernt und wächst jeden Tag. Wie könnte er da nicht ständig immer wieder ein anderer werden?

Meine Wünsche für ihn sind zweischneidig: Wachse weiter, bleib du selbst. Wer weiss, wie er sich selbst sehen wird? Der Philosoph Galen Strawson glaubt, dass bestimmte Menschen schlichtweg «episodischer» veranlagt sind als andere; sie können gut von Tag zu Tag leben, ohne sich um den grösseren Handlungs­strang zu sorgen. «Ich befinde mich irgendwo am episodischen Ende dieses Spektrums», schreibt Strawson in einem Essay mit dem Titel «The Sense of the Self». «Ich empfinde mein Leben nicht als eine Erzählung mit einer bestimmten Form, und ich interessiere mich kaum für meine persönliche Vergangenheit.»

Möglicherweise wird Peter zu einem episodischen Menschen werden, der im Augenblick lebt und sich nicht darum schert, ob sein Leben ein Ganzes ist oder die Summe mehrerer Teile. Dennoch wird er den Wider­sprüchen der Veränderlichkeit nicht entkommen, die sich in unser Leben einzuflechten pflegen.

Wenn wir an eine peinliche Tat aus alten Tagen denken, sagen wir uns: «Ich habe mich geändert!» (Aber haben wir das?) Langweilen uns Freundinnen, die von längst vergangenen Ereignissen besessen sind, sagen wir: «Das war in einem anderen Leben – du bist jetzt ein anderer Mensch!» (Aber ist sie das?) Leben wir mit unseren Freundinnen, Ehepartnern, Eltern und Kindern zusammen, wundern wir uns, ob sie dieselben Menschen sind, die wir immer gekannt haben, oder ob sie Veränderungen durchlebt haben, die wir oder sie nicht wahr­nehmen können.

Selbst während wir uns unermüdlich bemühen, Fortschritte zu machen, stellen wir fest, dass wir, wohin wir auch gehen, immer noch dieselben sind («Wozu soll das Ganze dann gut sein?»). Doch manchmal erinnern wir uns mit Erstaunen an unser früheres Selbst, als würden wir uns an ein vergangenes Leben erinnern. Ein Leben ist lang und schwer zu begreifen. Was können wir lernen, wenn wir uns fragen, ob wir schon immer so waren, wie wir sind?

Die Frage nach unserer Kontinuität hat eine empirische Seite, die wissen­schaftlich untersucht werden kann. In den Siebziger­jahren, als er noch an der Universität von Otago in Neuseeland arbeitete, half der Psychologe Phil Silva, eine Studie mit 1037 Kindern zu lancieren. Die Probandinnen lebten alle in der Stadt Dunedin oder deren Umgebung. Sie wurden im Alter von drei Jahren und dann erneut im Alter von fünf, sieben, neun, elf, dreizehn, fünfzehn, achtzehn, einundzwanzig, sechsundzwanzig, zweiund­dreissig, achtund­dreissig und fünfund­vierzig Jahren von Wissenschaft­lerinnen untersucht, die oft nicht nur die Kinder selbst, sondern auch deren Familien und Freundinnen befragten.

Im Jahr 2020 fassten vier an der Dunedin-Studie beteiligte Psychologen – Jay Belsky, Avshalom Caspi, Terrie E. Moffitt und Richie Poulton – ihre bisherigen Erkenntnisse in einem Buch namens «The Origins of You: How Childhood Shapes Later Life» zusammen. Das Buch bezieht die Ergebnisse mehrerer ähnlicher Studien aus den USA und dem Vereinigten Königreich mit ein und beschreibt so, wie sich etwa viertausend Menschen im Laufe der Jahrzehnte verändert haben.

Der liberale Denker John Stuart Mill schrieb einmal, ein junger Mensch sei wie «ein Baum, der nach allen Seiten hin wachsen und sich entwickeln muss, der Tendenz der inneren Kräfte folgend, die ihn zu einem lebendigen Wesen machen». Dieses Bild suggeriert ein allgemeines Ausbreiten und Aufwärts­streben, das zwangsläufig von Boden und Klima beeinflusst wird und durch ein bisschen kluges Zurück­schneiden hier und da unterstützt werden kann.

Die Autoren von «The Origins of You» verwenden eine etwas chaotischere Metapher. Menschen, so ihre These, sind wie Sturm­systeme. Jeder einzelne Sturm hat seine eigenen Besonder­heiten und seine eigene Dynamik; gleichzeitig hängt seine Zukunft von zahlreichen Elementen der Atmosphäre und der Land­schaft ab. Das Schicksal von Harvey, Allison, Ike oder Katrina könnte zum Teil vom «Luftdruck in einem anderen Gebiet» und von der «Zeit, die der Hurrikan auf dem Meer verbringt und Feuchtigkeit aufnimmt, bevor er an Land geht», bestimmt werden.

Donald Trump erklärte 2014 gegenüber einem Biografen, er sei in seinen Sechzigern noch derselbe, der er als Erstklässler war. In seinem Fall, so schreiben die Forscherinnen, ist der Gedanke leicht nach­zuvollziehen. Doch Stürme werden durch die Welt und andere Stürme geformt – und nur ein egomanes Wetter­system glaubt an seine absolute und unveränderliche Individualität.

Bemühungen, das «menschliche Wetter» zu verstehen – zum Beispiel aufzuzeigen, dass Kinder, die missbraucht werden, als Erwachsene von diesem Missbrauch geprägt sind –, sind erwartungs­gemäss ungenau. Das Problem besteht unter anderem darin, dass viele Entwicklungs­studien «retrospektiver» Natur sind: Die Wissenschaft­lerinnen beginnen mit der aktuellen Situation der Menschen und untersuchen dann die Vergangenheit, um heraus­zufinden, wie es zu dieser Situation gekommen ist.

Doch solche Unterfangen sind mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet. Da ist zum einen die Ungenauigkeit des Gedächtnisses: Menschen haben oft Mühe, sich an grund­legende Dinge zu erinnern, die sie vor Jahrzehnten erlebt haben. Viele Eltern können sich nicht mehr genau daran erinnern, ob bei ihrem Kind ADHS diagnostiziert wurde; andere haben sogar Mühe, zu sagen, ob ihre Eltern gemein oder nett waren.

Hinzu kommt das Problem der Verzerrungen aufgrund der Auswahl der Studien­teilnehmer. Eine retro­spektive Studie über ängstliche Erwachsene könnte feststellen, dass viele von ihnen von geschiedenen Eltern grossgezogen wurden – was aber ist mit den unzähligen Scheidungs­kindern, die keine Ängste entwickelt haben und deshalb nie in die Studie aufgenommen wurden? In einer retrospektiven Studie ist es schwierig, die tatsächliche Bedeutung einzelner Faktoren zu ermitteln. Der Nutzen des Dunedin-Projekts liegt daher nicht nur in seiner langen Laufzeit, sondern auch darin, dass es sich um eine «prospektive» Studie handelt.

Weg von der Welt oder gegen die Welt

Die Forschergruppe aus Dunedin begann damit, die dreijährigen Kinder in Kategorien einzuteilen. Sie unterhielten sich jeweils neunzig Minuten lang mit den Kindern und beurteilten sie anhand von zweiundzwanzig Persönlichkeits­merkmalen – Ruhelosigkeit, Reizbarkeit, Eigensinn, Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Kommunikations­fähigkeit und so weiter.

Anhand der Ergebnisse wurden dann fünf Grundtypen von Kindern ermittelt:

  • 40 Prozent der Kinder galten als «gut angepasst» und wiesen die übliche Mischung kindlicher Charakter­eigenschaften auf.

  • Ein weiteres Viertel wurde als «selbst­bewusst» eingestuft, was bedeutet, dass sie besser als andere mit Fremden und neuen Situationen umgehen konnten.

  • 15 Prozent waren zunächst «reserviert» oder zurück­haltend.

  • Etwa jedes zehnte Kind erwies sich als «gehemmt».

  • Ein gleich grosser Anteil wurde als «unbeherrscht» eingestuft.

Die gehemmten Kinder waren besonders schüchtern und öffneten sich nur sehr langsam, die unbeherrschten Kinder waren impulsiv und widerspenstig. Diese Persönlichkeits­bestimmungen, die nach kurzen Begegnungen und von Fremden vorgenommen wurden, bildeten die Grundlage für ein halbes Jahrhundert weiter­führender Arbeiten.

Als die Kinder achtzehn waren, zeigten sich bestimmte Muster. Obwohl die selbst­bewussten, die zurück­haltenden und die ausgeglichenen Kinder sich weiterhin entsprechend verhielten, waren diese Eigenschaften weniger stark ausgeprägt. Im Gegensatz dazu waren die Kinder, die als gehemmt oder unter­kontrolliert eingestuft worden waren, ihrem Wesen eher treu geblieben.

Mit achtzehn waren die einst als gehemmt eingestuften Kinder immer noch etwas distanziert und «deutlich weniger energisch und entschlossen als alle anderen Kinder». Die unbeherrschten Kinder hingegen «beschrieben sich selbst als risiko­freudig und impulsiv». Und sie waren «von allen jungen Erwachsenen am wenigsten geneigt, schädliche, aufregende und gefährliche Situationen zu vermeiden beziehungs­weise überlegt, vorsichtig, besonnen oder planvoll zu handeln». Die Teenager der letzt­genannten Gruppe neigten häufiger dazu, wütend zu werden, und fühlten sich öfter «schlecht behandelt und zum Opfer gemacht».

Die Wissenschaft­lerinnen erkannten die Möglichkeit, ihre Kategorien zu vereinfachen. Sie legten die grosse Gruppe von Jugendlichen zusammen, die sich nicht auf einem bestimmten Weg zu befinden schienen. Anschliessend konzentrierten sie sich auf zwei kleinere Gruppen, die sich abhoben. Die erste Gruppe «bewegte sich weg von der Welt» und lebte ein Leben, das zwar durchaus erfüllend sein konnte, aber gleichzeitig unauffällig und besonnen war. Die zweite, ähnlich grosse Gruppe «bewegte sich gegen die Welt». In den folgenden Jahren stellten die Forscherinnen fest, dass Menschen aus der letzt­genannten Gruppe häufiger ihren Arbeits­platz verloren und eher unter Spiel­sucht litten. Ihr Verhalten änderte sich kaum.

Diese Robustheit ist zum Teil auf die soziale Macht des Temperaments zurück­zuführen, das, wie die Autorinnen schreiben, «eine Maschine ist, die eine andere Maschine entwirft, welche die weitere Entwicklung beeinflusst». Diese zweite Maschine ist das soziale Umfeld einer Person. Eine Person, die sich gegen die Welt bewegt, wird andere von sich wegstossen und dazu neigen, das Verhalten selbst wohl­meinender Personen als Zurück­weisung zu interpretieren. Dieses negative soziale Feedback wird ihre oppositionelle Haltung noch verstärken.

Gleichzeitig wird die Person das tun, was Psychologen als «Nischen­auswahl» bezeichnen – die Vorliebe für soziale Situationen, die ihre Neigung festigen. Eine «gut angepasste» Sechst­klässlerin kann sich durchaus auf den Übertritt in die Oberstufe freuen; dort angekommen, tritt sie möglicher­weise einigen Gruppen bei. Ihre Freundin, die sich von der Welt wegbewegt, zieht es womöglich vor, in der Mittags­pause zu lesen. Ihr Bruder, der sich gegen die Welt bewegt – in dieser Gruppe sind die Männer leicht in der Überzahl –, wird sich in Gefahren­situationen am wohlsten fühlen.

Durch diese Art der Persönlichkeits­entwicklung, schreiben die Autorinnen, schaffen wir ein Leben, in dem wir uns mehr und mehr in unserem Selbst bestärken. Es gibt jedoch Möglichkeiten, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Ein Grund, warum Menschen ihren Kurs ändern, sind ihre intimen Beziehungen. Eine Hypothese der Dunedin-Studie lautet: Wenn eine Person, die dazu neigt, sich gegen die Welt zu bewegen, die richtige Person heiratet oder die richtige Mentorin findet, dann kann sie sich in eine positivere Richtung entwickeln. Ihre Welt wird zu einer fruchtbareren Co-Kreation.

Die Dunedin–Studie sagt viel darüber aus, wie sich Unter­schiede zwischen Kindern im Laufe der Zeit auswirken. Doch wie viel kann eine derartige Arbeit über die tiefere, persönlichere Frage nach unserer eigenen Kontinuität oder Veränderbarkeit aussagen? Das hängt davon ab, was wir mit der Frage, wer wir sind, meinen. Schliesslich sind wir mehr als nur unsere Veranlagungen. Jede von uns passt in eine beliebige Anzahl von Kategorien, doch diese Kategorien erfassen unsere Identitäten nicht vollständig.

Macken machen aus, wer wir sind

Ein wichtiger Aspekt besteht zunächst darin, dass man nicht durch das, was man ist, bestimmt wird, sondern durch das, was man tut. Stellen Sie sich zwei Brüder vor, die zusammen in einem Kinder­zimmer aufwachsen und ähnliche Persönlich­keiten haben – intelligent, zäh, gebieterisch und ehrgeizig. Der eine wird Senator und Universitäts-Präsident, der andere wird Mafiaboss. Sind sie aufgrund ihrer ähnlichen Charakter­eigenschaften auch ähnliche Menschen?

Es gibt die Geschichte von William Bulger und James «Whitey» Bulger, zwei Brüdern aus Boston. Der eine gab im Senat von Massachusetts den Ton an, der andere in der Unterwelt. Wer sich mit ihrem Leben befasst hat, kommt bisweilen zu dem Schluss, dass sie sich mehr gleichen als unter­scheiden: «Beide sind in ihren jeweiligen Bereichen knallhart», schreibt ein Biograf.

Wir sollten einer solchen Sicht­weise jedoch kritisch begegnen, denn sie setzt voraus, dass man die sehr unterschiedlichen Lebens­umstände der Brüder ausser Acht lässt. Am Himmels­tor wird sie niemand verwechseln. Die Bulger-Brüder sind ausser­gewöhnlich; die wenigsten von uns werden so gut oder so schlecht. Doch tun wir alle über­raschende Dinge, die von Bedeutung sind.

Der Regisseur Michael Apted war 1964 an der Realisierung von «Seven Up!» beteiligt. Es war die erste Folge einer Dokumentar­filmreihe, die beginnend im Alter von sieben Jahren und im Abstand von sieben Jahren eine Gruppe von etwa einem Dutzend Britinnen in den Fokus nahm. Apted sah das Projekt – dessen vorläufig letzte Folge 2019 unter dem Titel «63 Up» erschien – als sozio­ökonomische Untersuchung «über die Kinder, die alles haben, und jene Kinder, die nichts haben».

Im Laufe der Serie wurde jedoch die Klarheit der Kategorisierung durch das Chaos der Individualität unter­graben. Ein Teilnehmer ist Laien­pfarrer geworden und in die Politik gegangen; ein anderer half Waisen­kindern in Bulgarien; noch andere haben in der Freizeit Theater gespielt, Kernfusion studiert oder Rock­bands gegründet. Einer ist selbst Dokumentar­filmer geworden und hat das Projekt verlassen. Das wahre Leben, unbezähmbar in seinen Eigenheiten, hat die schematischen Absichten der Filme­macher überwältigt.

Selbst vermeintlich belanglose oder triviale Ereignisse können zu dem beitragen, was uns ausmacht. Gegen Ende des letzten Sommers besuchte ich mit meinem Vater und meinem Onkel eine Familien­feier. Wir sassen an einem Tisch im Freien und unterhielten uns über «Star Trek», die amerikanische TV-Serie, die 1966 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Sowohl mein Vater als auch mein Onkel haben seit ihrer Kindheit die verschiedenen Versionen der Serie geschaut, vor allem mein Vater ist ein echter Fan. Während die Party um uns herum ihren Lauf nahm, zitierten wir alle aus dem Gedächtnis den Eröffnungs­monolog der Original­version: «Der Weltraum. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise …» – und beglück­wünschten uns gegenseitig zu unserer Darbietung.

«Star Trek» zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben meines Vaters. Wir neigen dazu, solche Macken und Vorlieben kleinzureden, aber sie machen aus, wer wir sind. Als Leopold Bloom, der Protagonist von James Joyces «Ulysses», über einen Dubliner Friedhof schlendert, stören ihn die nichtssagenden Inschriften auf den Grabsteinen, und er denkt, sie sollten präziser sein. «So und so, Wagenbauer», stellt sich Bloom vor – oder auf einem Stein, in den ein Kochtopf eingraviert ist: «Ich kochte gutes Irish Stew».

Werden wir aufgefordert, uns selbst zu beschreiben, neigen wir dazu, in allgemeinen Begriffen zu sprechen, weil wir die Besonderheiten unseres Lebens als peinlich empfinden. Und doch würde ein Freund, der unsere Grabrede hält, gut daran tun, zu erwähnen, dass wir Gitarre spielten, antike Telefone sammelten oder Agatha Christie und die Mets mochten.

Eine Konzentration auf die Tatsachen des Lebens könnte unsere Intuitionen über die eigene Beständigkeit oder Veränderbarkeit widerlegen. Galen Strawson, der Philosoph, der von sich selbst sagt, dass er sein Leben kaum als «Erzählung» wahrnimmt, ist vor allem für seine Argumente gegen den freien Willen und die moralische Verantwortung bekannt; er behauptet, dass wir keinen freien Willen hätten und letztlich nicht für unser Handeln verantwortlich seien. Doch sein Vater, Peter Strawson, war auch Philosoph und unter anderem bekannt dafür, dieselben Konzepte zu verteidigen.

Galen Strawson kann uns versichern, dass sich sein Leben aus der Ich-Perspektive «episodenhaft» anfühlt. Aus der Erzähl­perspektive eines imaginären Biografen ist er allerdings Teil eines langen Handlungs­bogens, der sich über mehrere Lebens­spannen erstreckt. Es ist möglich, dass wir uns innerlich diskontinuierlich fühlen, aber äusserlich kontinuierlich sind, und umgekehrt. Diese Art von Divergenz ist vielleicht schlicht unvermeidlich.

Ständige Veränderung ist auch eine Art von Beständigkeit

Ich kenne zwei Tims, die unterschiedliche Vorstellungen über ihre eigene Kontinuität haben. Der erste Tim, mein Schwieger­vater, ist sich sicher, dass er von zwei bis zweiundsiebzig über dasselbe fröhliche Gemüt verfügt hat. Auch seine Interessen – Lesen, der Zweite Weltkrieg, Irland, der Wilde Westen, die Yankees – sind zeitlebens nahezu unverändert geblieben. Er ist einer der beständigsten Menschen, die ich kenne.

Der zweite Tim, mein Schulfreund, sieht sein Leben als radikal unbeständig an, und zwar zu Recht. Als ich ihn kennenlernte, war er so mager, dass er bei einer Blutspende­aktion wegen Unter­gewichts abgelehnt wurde; die grösseren Kinder schikanierten und drangsalierten ihn, und er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine Eltern auch Spät­zünder waren. Dieser Gedanke erschien seinen Freunden ziemlich abwegig.

Nach Abschluss der Highschool verwandelte sich Tim jedoch unerwartet in einen hoch gewachsenen Mann mit dem Körperbau eines Action­helden. An der Universität studierte er Physik und Philosophie und arbeitete in einem neuro­wissenschaftlichen Labor, ehe er Offizier bei den Marines wurde und in den Irak einrückte; später stieg er ins Finanz­wesen ein, hat es aber inzwischen verlassen, um Informatik zu studieren.

«Ich habe mich öfter verändert als die allermeisten Menschen, die ich kenne», erklärte mir Tim. Er erinnerte sich lebhaft an ein Gespräch, das er mit seiner Mutter führte, während sie vor einer Auto­werkstatt im Wagen warteten: «Ich war dreizehn, und wir sprachen darüber, wie sich Menschen verändern. Meine Mutter, die Psychiaterin ist, erklärte mir, dass sich die Menschen ungefähr ab dreissig nicht mehr gross verändern. Sie akzeptieren, wer sie sind, und versuchen, mit sich zu leben, so wie sie sind. Vielleicht weil ich damals ein unglücklicher und zorniger Mensch war, empörte mich diese Vorstellung. Damals schwor ich mir, dass ich nie aufhören würde, mich zu verändern. Ich habe es bis heute nicht getan.»

Sehen die beiden Tims das ganze Bild? Meinen Schwieger­vater kenne ich erst seit zwanzig seiner zweiundsiebzig Jahre, doch selbst in dieser Zeit hat er sich deutlich verändert, ist geduldiger und mitfühlender geworden. Wie man mir berichtet, hatte sein Leben, bevor ich ihn kennenlernte, durchaus ein paar unter­schiedliche Kapitel. Mein Schul­freund hat sich in einem wesentlichen Punkt nicht verändert. Seit ich ihn kenne, verfolgt er das Ziel, sich zu verändern. Echte Veränderung würde für ihn bedeuten, sich nieder­zulassen. Ständige Veränderung ist auch eine Art von Beständigkeit.

Galen Strawson weist darauf hin, dass es ein breites Spektrum an Möglich­keiten gibt, wie Menschen mit ihrer Lebenszeit umgehen. «Manche Menschen leben im narrativen Modus», schreibt er, und andere hätten «nicht die Tendenz, ihr Leben als eine Geschichte oder Entwicklung zu sehen». Doch es geht nicht nur darum, eine Kontinuistin oder eine Separatorin zu sein, wie wir das oben genannt haben. Es gibt Menschen, die als eine Art «spirituelle Disziplin» episodisch leben, während andere «schlichtweg ziellos» sind.

Präsentismus kann «eine Reaktion auf wirtschaftliche Not – einen verheerenden Mangel an Möglichkeiten – oder auf grossen Reichtum sein». Strawson fährt fort:

Es gibt Lotus-Esser, Herumtreiber, Lilien auf dem Feld, Mystiker und Menschen, die angestrengt im jetzigen Moment arbeiten … Manche Menschen sind kreativ, aber sie haben keinen Ehrgeiz und keine langfristigen Ziele, sie hangeln sich von einer Sache zur nächsten oder schaffen grosse Werke, ohne es zu planen, durch Zufall oder durch Anhäufung. Andere sind in ihrem Charakter sehr beständig, unabhängig davon, ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – eine Form der Zuverlässigkeit, die der Erfahrung der Kontinuität des Selbst zugrunde liegen kann. Wieder andere sind konsistent in ihrer Unbeständigkeit und nehmen sich selbst oft als verwirrend und bruchstück­haft wahr.

Aus: Galen Strawson, «The Sense of the Self».

Die Geschichten, die wir uns über unsere Veränderung erzählen, sind zwangsläufig simpler als die schwer fassbare Realität. Das heisst aber nicht, dass sie leblos sind. Die Geschichte, in der mein Freund Tim schwört, sich für immer zu verändern, zeigt, wie wertvoll solche Erzählungen sein können. Ob man Stagnation oder Segmentierung wahrnimmt, ist schon fast eine ideologische Frage. Wandlungs­fähig zu sein, bedeutet, unvorhersehbar und frei zu sein; es bedeutet, nicht nur die Protagonistin der eigenen Lebens­geschichte zu sein, sondern auch Autorin der Handlung. Unter Umständen bedeutet es, ein Drama der Verwundbarkeit, der Entscheidung und der Verwandlung zu durchleben; es kann auch heissen, dass man sich weigert, die Endlichkeit zu akzeptieren, welche die Kehrseite der Individualität bildet.

Die entgegengesetzte Perspektive – dass Sie schon immer so waren, wie Sie sind – birgt ebenfalls ihre eigenen Werte. James Fenton fasst einige davon in seinem Gedicht «The Ideal» zusammen:

Ein Selbst ist ein Selbst.
Es ist keine Leinwand.
Ein Mensch sollte respektieren
Was er gewesen ist.

Es ist meine Vergangenheit
die ich nicht ablegen werde.
Es ist das Ideal
Es ist schwer.

Nach dieser Auffassung ist das Leben voll und abwechslungs­reich, wir alle erleben Abenteuer, die uns verändern können. Was jedoch am meisten zählt, ist, dass wir es gelebt haben. Dasselbe Ich, egal wie sehr es sich verändert hat, hat alles aufgesogen und alles durchlebt, durchgemacht. Diese Perspektive umfasst zudem eine Unabhängigkeits­erklärung – Unabhängigkeit nicht von der eigenen Vergangenheit und den Umständen, sondern von der Macht der Umstände und den Entscheidungen, die wir treffen, um unserem Leben einen Sinn zu verleihen.

Separatorinnen berichten, wie sie ihre Häuser renoviert haben und dabei zu Architektinnen wurden. Kontinuistinnen erzählen die Geschichte eines stattlichen Anwesens, das unabhängig davon, was gebaut wird, dasselbe bleibt. So unterschiedlich diese beiden Ansichten auch erscheinen mögen, so haben sie doch eine Menge gemeinsam. Unter anderem helfen sie uns dabei, uns selbst zu entwickeln. Dadurch, dass mein Freund Tim sich zu einem Leben der Veränderung entschieden hat, hat er es möglicher­weise beschleunigt. Indem er sich auf seine charakterliche Beständigkeit konzentrierte, hat mein Schwieger­vater vielleicht sein bestes Selbst genährt und gefördert.

Der Lauf der Zeit zwingt uns fast dazu, eine Art Geschichte zu erzählen: Es gibt gewisse Arten, wie wir uns im Laufe des Lebens verändern, und wir müssen darauf reagieren. Junge Körper unterscheiden sich von alten; die Möglichkeiten vervielfachen sich in den ersten Jahrzehnten, um später wieder zu schwinden. Mit siebzehn Jahren haben Sie jeden Tag eine Stunde Klavier geübt und waren zum ersten Mal verliebt; jetzt zahlen Sie Ihre Kreditkarten­schulden ab und schauen Amazon Prime. Zu behaupten, dass Sie heute noch derselbe Mensch sind wie vor Jahrzehnten, ist absurd. Eine Geschichte, die Ihre Vergangenheit fein säuberlich in Kapitel unterteilt, kann ebenso künstlich sein.

Trotzdem ist es sinnvoll, dem Chaos eine Ordnung zu geben. Es ist nicht nur eine Frage der Selbst­beruhigung: Die Zukunft steht bevor, und wir müssen entscheiden, wie wir auf der Grundlage der Vergangenheit handeln wollen. Eine Geschichte kann man nicht fortsetzen, ohne sie vorher zu schreiben.

Das Festhalten an einer einzigen Darstellung der eigenen Wandlungs­fähigkeit kann einschränkend sein. Die Geschichten, die wir erzählt haben, können für unsere Bedürfnisse zu eng werden. In seinem Buch «Das Leben ist hart» argumentiert der Philosoph Kieran Setiya, dass bestimmte Heraus­forderungen – Einsamkeit, Versagen, Krankheit, Trauer und so weiter – im Grunde unvermeidlich seien; doch werden wir meist in einer auf Erlösung ausgerichteten Tradition erzogen, die «uns dazu anhält, uns auf das Beste im Leben zu konzentrieren».

Einer der Vorteile der Behauptung, dass wir schon immer so waren, wie wir sind, besteht darin, dass sie uns hilft, die störenden Entwicklungen, die unser Leben umgeworfen haben, zu über­spielen. Aber das Buch zeigt, dass es gut ist, schwierige Erfahrungen zu akzeptieren und sich zu fragen, wie sie uns geholfen haben, härter, freundlicher oder weiser zu werden. Allgemeiner ausgedrückt: Wenn Sie die Frage nach der Kontinuität lange Zeit auf eine Weise beantwortet haben, könnten Sie versuchen, sie anders zu beantworten. Betrachten Sie sich zur Abwechslung einmal als beständiger oder weniger beständig, als Sie bisher angenommen haben.

Die Selbst­erzählung hat eine rekursive Qualität. Ich erzähle mir eine Geschichte über mich selbst, um mich mit der Geschichte, die ich erzähle, abzustimmen; wenn ich mich verändere, muss ich die Geschichte zwangsläufig revidieren. Diese lange Revisions­arbeit könnte selbst zu einer Quelle der Kontinuität in unserem Leben werden. Ein Teilnehmer der Serie «Up» sagte zu Apted: «Ich habe fast sechzig Jahre gebraucht, um zu verstehen, wer ich bin.»

Martin Heidegger, der häufig undurchschaubare deutsche Philosoph, meinte, dass das, was den Menschen auszeichnet, seine Fähigkeit sei, zu dem, was und wer er ist, «Stellung zu beziehen»; in der Tat haben wir keine andere Wahl, als unaufhörlich Fragen zu stellen, was es bedeutet, zu existieren, und wozu das alles gut sein soll. Das Fragen und Prüfen von Antworten ist für unser Dasein so grund­legend wie das Wachsen für einen Baum.

Mein Sohn versteht seit kurzem, dass er sich verändert. Er hat bemerkt, dass er nicht mehr in sein Lieblings­hemd passt, und er hat mir gezeigt, wie er leicht diagonal in seinem Kleinkind­bett schläft. Er ist schon dabei erwischt worden, wie er mit einer richtigen Schere durchs Haus lief. «Ich bin jetzt gross und kann die benutzen», sagt er. Als er an einem Lieblings­platz am Strand vorbei­kommt, fragt er mich: «Weisst du noch, wie wir hier mit Lastwagen gespielt haben? Ich habe es geliebt.»

Mittlerweile hatte er schon einige Namen: Nach seiner Geburt nannten wir ihn «Kleiner», und jetzt nenne ich ihn «Mr. Man». Das Verständnis für sein Wachstum ist Teil seines Wachstums, und er ist zusehends ein Doppel­wesen – ein Baum und eine Rebe. Während der Baum wächst, windet sich die Rebe und findet neuen Halt an der Form, die sie stützt. Ein Prozess, der sein ganzes Leben lang andauern wird.

Wir verändern uns, und wir verändern unsere Sicht­weise auf diese Veränderung, solange wir leben.

Zum Autor

Joshua Rothman, Ideen-Redaktor, ist seit 2012 bei «The New Yorker» tätig. Dort erschien der Beitrag zuerst am 3. Oktober 2022 unter dem Titel «Are You the Same Person You Used to Be?».

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