Elisabeth, der Jura ist mit dir: Anhängerinnen der neu gewählten Bundesrätin feiern in Les Breuleux. Jojo Schulmeister für NZZ

Die Königin aus dem Untertanen­gebiet

Elisabeth Baume-Schneider ist die erste Bundesrätin aus dem Jura. Unser Autor, ein halber Jurassier, reist mit ihr in einen Kanton, in dem sich einmal die ganze Schweiz erkannte.

Von Jean-Martin Büttner, 21.12.2022

Vorgelesen von Egon Fässler
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Wie anders die neue Bundesrätin auftritt, merkt man spätestens dann, als Elisabeth Baume-Schneider in Delémont aus dem Zug steigt und Landsleute, Kantons­vertreterinnen, Würden­träger und andere abzuküssen beginnt. Um die 2000 Personen aus dem ganzen Jura sind nach Delémont gekommen, um ihre Bundesrätin zu feiern. Die jurassischen Sozialisten, wird einer in Les Breuleux ironisch sagen, hätten die Zahl um das Zehnfache erhöht.

Patriotische Gefühle kommen auf

In Delémont ist es eiskalt, aber die Begeisterung hält die Leute warm, eine Begeisterung, die den ganzen nebligen Tag beleuchten wird in Kombination mit einem Selbst­vertrauen, das durch das Gefühl von Freiheit verstärkt worden ist. Die Leute haben sich entlang der Haupt­strasse aufgestellt, Kinder singen von der «reine Élisabeth», der königlichen Bundesrätin. Einige schwingen Jura­fahnen; auch Schweizer Fahnen kommen zum Einsatz.

Vorne ist eine Redner­tribüne aufgebaut, dauernd redet einer oder eine, und obwohl man kein Wort versteht, klatschen alle, wenn es vorübergehend ruhig wird, denn dann ist eine Rede zu Ende. Der Anlass ist frei von Pathos und Sentimentalität, und doch spürt man erste patriotische Gefühle aufkommen, kann sie aber noch kontrollieren.

Das fällt schon schwerer, als sie die «Rauracienne» anstimmen, dieses Kampf­lied der Autonomie von 1830 und heute die offizielle Hymne des Kantons. Vom Bielersee zu den Pforten Frankreichs reift die Hoffnung, singen sie. Zerreisst die Ketten eines ungerechten Schicksals, singen sie. Das Zerreissen ist gelungen, auf die Ausdehnung warten nur noch die rund 200 Béliers, die fanatisch verbliebenen Separatisten.

Die 7000 anderen haben aufgegeben oder sich mit dem Entscheid abgefunden, den Volk und alle Stände 1978 per Abstimmung beschlossen hatten, übrigens mit mehr als 80 Prozent Ja-Stimmen. Vermutlich auch deshalb, weil die Kantone in der Geschichte des Juras diejenige ihres eigenen Landes wieder­erkannten. Ja, fanden sie, es soll einen 26. Kanton für die Schweiz geben. Aber er wird nur aus seinem katholischen, armen, bäuerlichen, industriell kaum erschlossenen nördlichen Teil bestehen.

«Zwar beherbergt der Jura viele kleine industrielle Betriebe als Teil einer hoch entwickelten, sehr qualifizierten und damit zukunfts­gerichteten Industrie», schreibt der international arbeitende Basler Sozial­demokrat Andreas Gross auf Anfrage, der seit Jahrzehnten im jurassischen St-Ursanne lebt. «Aber diese Unternehmen werden zu grossen Teilen von West­schweizer Städten wie Genf, Lausanne oder Neuenburg aus gesteuert.» Die Leute aus dem Jura hält er für «gemeinnütziger und gemeinwohl­orientierter» als die anderen in der Schweiz.

Ein Kanton am Rand von allen

Elisabeth Baume-Schneider, 58 Jahre alt, welsche Bauern­tochter mit Deutsch­schweizer Gross­eltern, studierte Ökonomin und ehemalige jurassische Staats­rätin und Stände­rätin, wurde am 7. Dezember überraschender­weise zur ersten Bundesrätin des Kantons Jura gewählt, am jeudi 15 décembre 2022, rituell korrekt und protokollarisch festgezurrt, fuhr sie mit dem train spécial auf voie 8 samt Politikerinnen, festlicher Entourage, Weibeln und Medien­leuten von der Herrschafts­stadt Bern in die ehemalige koloniale dépendence Delémont. Man nennt sie hier EBS.

Von Delémont aus, ein paar Reden, zwei Hymnen und eine Militär­kapelle später, ging es über Glovelier und einen metaphorisch beklemmenden Wechsel auf die jurassische Schmalspur­bahn über mehrere Spitzkehren durch die tief verschneiten Freiberge nach Les Breuleux.

Der Kanton Jura, sagte der frühere jurassische CVP-Staatsrat und Ständerat Jean-François Roth während seiner funkelnden Bundesrats­kandidatur von 1999, befände sich am Rand von allem: am Rand des Mittel­landes, am Rand von Frankreich und Europa und auch am Rand der deutschen und der welschen Schweiz. Roth übrigens reiste mit Vorliebe nach Amsterdam an einen Rave oder nach Wien an eine Oper. Und war als Typ urbaner als der gesamte amtierende Bundesrat. Nur so zum Sagen, oder wie meine Mutter es gerne sagte: «C’est seulement pour le dire.» Es war also jeweils extrem wichtig.

Der Hass von Moutier

So verläuft die Fahrt des train spécial durch die Gegenwart, die sich immer mehr zu einer Fahrt in die Vergangenheit verdüstert und sich einiges gewundener und schmerzhafter anfühlt. Symbolischer Ausdruck dafür ist der Zwangs­stopp in Moutier. Der train spécial muss einen Gegenzug abwarten, weil die Strecke, die sich von Moutier nach Delémont durch schroffe Steine zwängt, einspurig geführt wird.

Still und verlassen duckt sich die Kleinstadt zwischen die Berge, niemand feiert in der Stadt, dabei hatte sich Baume-Schneider im jurassischen Staatsrat und als Ständerätin für Moutier engagiert. Doch obwohl die jurassische Elisabeth Baume-Schneider und der Berner Albert Rösti sich nach ihren Wahlen umarmten und man diese Umarmung als körperlich gewordene Versöhnung des Herrschafts­kantons mit dem Untertanen­kanton feierte, kann von einer Versöhnung in Moutier, der letzten umkämpften Stadt des Juras, keine Rede sein.

Zwar haben die Jura­treuen, wozu vor allem die Jungen gehören, in der letzten von mehreren Abstimmungen klar obsiegt, und Moutier soll in drei Jahren zum Jura wechseln. Warum die Bernerinnen so lange für diesen Wechsel brauchen, versteht keiner, aber alle finden es typisch. Und da es jetzt schon wieder Streit gibt, weil der Jura mehr Geld aus dem Ausgleichs­fonds bekommen möchte, als das ebenfalls arm gewordene Bern zu zahlen bereit ist, und weil die Separatisten angekündigt haben, um jede weitere Gemeinde zu kämpfen, die ebenfalls wechseln möchte, ist der Jura­konflikt noch lange nicht befriedet.

Manche Leute in Moutier hassen sich, sie kehren in unterschiedliche Beizen ein, die Stadt wirkt gereizt, bitter und deprimiert, mehrere ihrer Bewohnerinnen sind weggezogen, daran wird auch die letzte Abstimmung nichts ändern. In Moutier verlängert sich, was der Kanton während Jahrzehnten durchgemacht hat: die Verachtung und das Desinteresse von Bern zu spüren, während Bern von manchen Leuten in Moutier der Hass, der Widerstand und der unbändige Wille entgegenschlug, den man auf den jurassischen Strassen der Siebziger­jahre in zwei Worten hingepinselt sah: «Jura libre».

Der halbe Jurassier in mir

Die Fahrt des Sonder­zugs aus der Gegenwart von Bern in die Vergangenheit des Juras ist auch eine Fahrt zu meiner Herkunft: Ich bin halber Jurassier. Und werde es mit jeder Stunde mehr. Meine Mutter kam in Porrentruy auf die Welt, der jurassischen Kleinstadt in der Ajoie. Ihre Mutter war eine Französin aus Besançon gewesen, die früh verstarb, mein Grossvater ein Pferde-Tierarzt. François Choquard, ein fescher Mann mit Schnauz, war auch immer beim mehrtägigen Pferde­markt und Pferde­rennen in Saignelégier dabei, dem Marché-Concours. Und wir drei, seine Enkel, waren auch dort und freuten uns, dass der Grossvater im Jura bernois so bekannt war und beliebt.

Den Bauern bedeuten die Pferde besonders viel, auch darum mochten sie den Docteur Choquard und verziehen ihm seine Angewohnheit, mit seinem Auto, einem Citroën DS, mitten auf der Strasse zu fahren, wobei er uns manchmal auf den Schoss nahm und steuern liess.

Einmal rammte er einen Pfarrer, der Einzige damals im Jura, der ausser meinem Grossvater ein Auto besass. Die beiden unterhielten sich dann angeregt, bis die Abschlepp­wagen herbei­gefahren kamen.

Mein Herr, ich bin désolé

«Monsieur, je suis désolé.» Das sagte mein Grossvater, als mein Vater Jürg bei ihm um die schmale Hand seiner jüngsten Tochter Marie-Paule anhielt. Mein Grossvater, ein ehemaliger Dragoner, empfing den jungen Bittsteller stehend als Ausdruck seiner Abneigung. Aber nicht, weil mein Vater in Bern aufgewachsen war, Sohn eines Architekten und einer deutschen Hausfrau, die während des Krieges abweisend behandelt worden war. Denn unser Grossvater hatte Tierarzt in Bern gelernt und sprach Schweizer­deutsch, das er sehr mochte. Ausserdem konnte mein Vater schon damals gut Französisch.

Mein Grossvater war auch nicht deshalb désolé, weil mein Vater Arzt war, denn damit war er eine gute Partie. Nein, es ging einzig um die Religion. Jürg Büttner entstammte einer protestantischen Familie, und das war für den tief katholischen François Choquard eine Sünde.

Meine Eltern heirateten trotzdem. Sie war eine sprudelnde Welsche, er ein schweigsamer Deutsch­schweizer. Beide hatten Humor und Offenheit. Wir redeten zu Hause Französisch, ich lernte Deutsch in einem Kindergarten in Basel, wo mein Vater bei der Ciba Neben­wirkungen erforschte. Bis es ihm nach der Fusion mit Geigy verleidete, weil es nur noch um Geld ging. Also lernte er Psychiater.

Und ich kann mich erinnern, wie es für meine jurassischen Verwandten war, von Bern aus ferngesteuert zu werden. Strassen und Brücken wurden immer zuletzt geflickt, die Zug­verbindungen waren katastrophal, und politisch hatte der Jura sowieso nichts zu sagen.

Was seine Bewohner aber am meisten kränkte, war die Sprache. Sie selber äusserten sich, wenn auch mit schleppendem Akzent, in der Welt­sprache Französisch, die man von Russland bis Senegal verstand. Ausserdem war es die Sprache von Bett und Hof, erotisch und elegant zugleich.

Und doch wurden sie von einer Herrschaft dominiert, deren Dialekt nach Provinz klang. Und den im Ausland niemand verstand.

Das mit den Schafen

Alle diese Unebenheiten glätten sich, als der schmal­spurige Sonderzug in Les Breuleux ankommt und die Angereisten zusammen mit den Anwesenden die Kirche füllen und den verschiedenen Reden lauschen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie immer wieder von Gelächter unterbrochen werden.

Dass Schwarznasen­schafe für Baume-Schneider im Wahlkampf zu Kampagnen­helfern geworden waren: Diese Idee war übrigens nicht von der Kandidatin gekommen, sondern von der Berater­firma Farner, früher die rechteste politische Agentur, die heute noch grossen Einfluss hat. Dass eine jurassische Ex-Trotzkistin eine reaktionäre Agentur für ihre Wahl­kampagne eingesetzt hat, wie CH Media enthüllte, scheint im Jura niemanden zu stören; man sieht das eher als Ausdruck von Professionalität und Ehrgeiz.

Dass Eva Herzog die kompetentere Politikerin ist als Baume-Schneider und Basel es eher verdient hätte, nach 50 Jahren endlich wieder eine Bundesrätin zu bekommen, weiss man auch im Jura. Aber gerade weil die Wahl von Herzogs Konkurrentin alle so überrascht hat, nehmen sie mit besonderem Interesse den letzten Zug, der an diesem Tag fährt, den Zug in die Zukunft. Aber man sieht nichts aus dem Fenster, alles verschwindet im Nebel des Ungefähren.

Wer wird sie sein im Bundesrat?

Noch nie war man in der Schweiz dermassen im Ungewissen darüber, was für eine Bundesrätin die Neugewählte werden wird. Baume-Schneider wurde mit Stimmen der Bauern, der Feministinnen, der linken und bürgerlichen Männer und Frauen gewählt, auch das gab es in dieser Ausprägung noch nie. Was für eine Bundesrätin wird sie sein? Eine Linke und Nette? Eine Überforderte ohne Resultate? Klar ist bis jetzt nur, dass sich manche Wähler im Bundeshaus getäuscht haben müssen, weil Feministinnen völlig anders denken als Bauern und Bürgerliche anders politisieren als Linke. Alles zusammen kann die Neue unmöglich erfüllen.

Elisabeth Baume-Schneider ist, wenn man genau zählt, achtmal zu einer Wahl angetreten und hat jedes Mal gewonnen. Dabei sind ihre Wahl zur Co-Präsidentin der jurassischen SP und ins Vizepräsidium der SP Schweiz nicht einmal mitgezählt. Im jurassischen Staatsrat, wo sie 13 Jahre lang mitregierte, galt sie als starke Politikerin, aber auch als chaotisch und notorisch unpünktlich. Dennoch ist allen Leuten im Jura klar, mit denen man redet, dass die Neue in Bern massiv unterschätzt wird. Oder wie es Pierre-Yves Maillard im Gespräch voraussagt, der Gewerkschafter und Waadtländer Nationalrat: «Elisabeth ist eine starke Frau, und sie wird eine populäre und ausgezeichnete Bundesrätin sein.»

Dass die Neue als Justiz­ministerin das unlösbare Asyl­problem mit Engagement angehen will, dazu zitiert sie Albert Camus. Wie es sein Docteur Rieux sagt in «La peste», Camus’ Allegorie auf den Faschismus von 1947: «Je me sens plus de solidarité avec les vaincus qu’avec les saints. Je n’ai pas de gôut, je crois, pour l’héroïsme et la sainteté. Ce qui m’intéresse c’est d’être un homme.» Sie möchte also ein Mensch sein, mag die Besiegten lieber als die Heiligen und hält nichts vom Heldentum.

Bienvenue à Berne, Madame la Conseillère fédérale.

Zum Autor

Jean-Martin Büttner ist freier Autor und lebt in Zürich. Er promovierte über «Sänger, Songs und triebhafte Rede» und veröffentlichte das Buch «Anfänge. Und so weiter».

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