«Hier ist es anders als im Flachland, im Jura muss man zuerst über die Hügel, um von einem Dorf ins nächste zu gelangen», sagt Daniel de Roulet, die Bilder von Fabian Hugo zeigen das einzigartige Gesicht des Kantons.

«Ich habe Angst, die Jurassier werden ganz normale Schweizer»

Einst wollte der Jura die Unabhängigkeit, heute drängt er in den Bundesrat. Der jurassische Schrift­steller Daniel de Roulet über das anarchistische Erbe der Region, Leichen aus der Vergangenheit und die Frage, was der Jura der Schweiz zu sagen hat.

Ein Interview von Carlos Hanimann, Angelika Hardegger (Text) und Fabian Hugo (Bilder), 29.11.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Daniel de Roulet, am Wochen­ende hat die SP ihre Bundesrats­kandidatinnen nominiert. Eine ist Jurassierin, heisst Elisabeth Baume-Schneider und kommt aus dem Dorf Saint-Imier, wie Sie. Bedeutet Ihnen das etwas?
Ich kenne Elisabeth Baume-Schneider nicht. Aber sie ist für mich das typische Produkt dessen, was heute läuft: Sie ist im Süden des Jura geboren und hat im Norden des Jura Karriere gemacht. Der Jura ist ein ganz normaler Kanton geworden. Du kommst vom einen Ort, gehst zum anderen und schaust einfach, dass du Karriere machst.

Wir wollen mit Ihnen über die Besonderheit des Jura sprechen, und Sie sagen: Der Jura ist ganz normal geworden?
Der Jura war der einzige Kanton, wo es keine Freisinnigen gab in der Regierung. Darauf war man stolz. Und heute? Gibt es weiss ich wie viele Freisinnige. Besonders bleibt allerdings die geografische Situation. Wir sagten als Kinder im Jura: «Le soleil se couche sur la France.» Nirgendwo sonst in der Schweiz glaubt man, die Sonne gehe über Frankreich unter.

Zum Gesprächs­partner

Keystone

Daniel de Roulet, 78, ist Schrift­steller und lebt in Genf und im französischen Jura. Er ist Autor mehrerer Romane und Tatsachen­berichte. 2006 gestand er, an einem Sonntag in den Bergen das Chalet des deutschen Verlegers Axel Springer in der Schweiz angezündet zu haben. 2017 erzählte er von zehn unbekümmerten Anarchistinnen, die aus dem Jura nach Argentinien auswanderten. In einem seiner letzten Bücher, «Staatsräson», widmet er sich drei unaufgeklärten Todes­fällen, die sich Ende der 1970er-Jahre im Jura ereigneten. De Roulet stammt selbst aus dem Jura: Aufgewachsen ist er in einem protestantischen Pfarrhaus in Saint-Imier im Berner Jura – oder im Südjura, wie manche sagen. Die Wortwahl zählt: Der katholische, Französisch sprechende Norden des Jura war separatistisch und wollte sich von den protestantischen, Deutsch sprechenden Bernern im Süden lossagen – und einen eigenen Kanton. Einige forderten gar eine jurassische Republik, unabhängig von der Schweiz. Die Béliers, die separatistischen Kräfte im Jura, scheuten nicht vor Anschlägen zurück. Seit 1979 ist der Jura ein eigenständiger Kanton.

Prägt die Geografie die Leute im Jura?
Geografisch gehört der Jura zu Frankreich, das merkt man schon. Als die Jurassier unabhängig werden wollten von Bern, drohten sie: Wenn die Berner uns nicht gehen lassen, schliessen wir uns Frankreich an. Wir sind francophone, wir haben einen französischen Geist.

Sie sind im Südjura aufgewachsen. Wo hat sich der französische Geist gezeigt?
Wenn ich nach Biel ans Gymnasium fuhr, war das wie eine Reise ins Ausland. Dort gab es ein französisches Gymnasium. Das hatten die Berner gegründet, um die Eliten aus dem Jura runter­zuholen. Wer von uns ans Gymnasium ging, war Sohn eines Uhrmachers, Sohn des Doktors, Sohn des Notars oder Sohn des Pfarrers.

Sie waren Sohn des Pfarrers in Saint-Imier. Das war ein spezielles Dorf.
In meiner Kindheit war Saint-Imier eine boomende Uhrmacher­stadt, sie hatte bis 8000 Einwohner. Heute sind es knapp 5000.

In Saint-Imier haben Anarchistinnen einmal fast den Staat abgeschafft. Aus Saint-Imier kommt Elisabeth Baume-Schneider, früher Marxistin. Und aus Saint-Imier kommen Sie. Ein Schrift­steller, der einst das Chalet des deutschen Verlegers Axel Springer anzündete. Saint-Imier war offenbar mehr als eine boomende Uhrmacher­stadt.
Über La Chaux-de-Fonds könnten Sie die gleiche Story erzählen. In jedem Kaff finden sich Elemente, die nicht per se einen typisch schweizerischen Charakter haben. Aber ich finde tatsächlich, Saint-Imier hat geografisch etwas Spezielles. Es liegt in einem ganz engen Tal. Um im Winter die Sonne zu sehen, muss man auf den Chasseral steigen oder den Mont-Soleil. Wir konnten von September bis April Eishockey spielen im Dorf.

Manchmal durften Sie den Vater auf Besuchen begleiten. Dann spannten Sie Felle unter die Ski, um zu den Bauern­höfen zu gelangen. Sie schreiben: «Es kam mir vor wie das Ende der Welt.»
Die Bauernhöfe waren weit weg vom Dorf. Aber wegen der Uhren­industrie war in Saint-Imier auch die Welt. Da kam man in die Schule und ein Kollege erzählte, der Vater komme gerade aus Tokio zurück. Als ich später in Genf war, merkte ich: Die kennen nur Genf. Wir in Saint-Imier hatten schon von der halben Welt gehört.

Das Tal war eng, aber der Blick war weit?
Wenn einer ein wenig gescheit war, war klar: Der geht in die Uhren­industrie. Und dann kriegt er einen Posten in Brasilien oder wo auch immer und sucht sich eine Frau und gründet eine Familie. Es gab eine Perspektive. Wir wussten: Wir sind die besten Uhrmacher, die es gibt auf der Welt. Wir hatten Longines und Breitling, aber dann kam die Krise.

Haben Sie den Abstieg noch erlebt?
Das war in den 1970er-Jahren, als die Japaner anfingen, elektronische Uhren zu machen. Da war ich schon weggezogen. Später kam Swatch aus Biel, baute die Uhren­industrie wieder auf und kaufte die Fabriken zusammen. Aber plötzlich hatte eine Uhr nur noch 60 Teile statt 120. Alles war automatisiert, das Handwerk ging verloren.

Sie wurden ein Achtundsechziger in Zürich, studierten Architektur und arbeiteten als Ingenieur.
Deswegen rieb ich mir jedes Mal die Augen, wenn ich nach Saint-Imier zurückkam und sah, dass dieser Laden geschlossen war und jener Spunten weg. Aber das sieht man heute überall im Jura. Es gibt die Einkaufs­zentren ausserhalb. Aber die Stadt­kerne sind tot. Alle gingen weg. Nichts Neues kam.

Sie leben heute als Schrift­steller in Genf. Aber Sie schreiben immer neu über den Jura. Lässt er Sie nicht los?
Woher kommen Sie?

Aus der Ostschweiz.
Und lässt die Ostschweiz Sie los?

Glauben Sie, woher man kommt, das lässt einen nie los?
Unser Privileg in der Schweiz ist, dass wir in Verhältnissen leben, aus denen wir unsere Herkunft erzählen können. Schauen können, wie es dort aussieht. Was sich verändert hat. Daraus entsteht eine Situation, die, so glaube ich, zu wenige Schrift­steller nutzen. Viele reden nur über sich selbst. Wir sollten beitragen zum récit national, der nationalen Erzählung. Ob sie genau ist oder nicht, werden später die Historiker aufarbeiten. Aber die Literatur darf diese Erzählung nicht einfach sein lassen. Wir leben ja mit dieser Geschichte.

Was erzählen Ihre Bücher über den Jura über die Schweiz?
Sie erzählen die Geschichte der Schweiz anders.

Im Buch «Staatsräson» rollen Sie die Gründung des Kantons Jura in den 1970er-Jahren auf. Sie lassen einen Ermittler auftreten, der die Wahrheit über die Umstände herausfinden soll. Was ist die Wahrheit über die Kantons­gründung, die Sie in die nationale Erzählung bringen wollen?
Die Wahrheit darüber, was Bundesrat Kurt Furgler für eine Rolle spielte im Ganzen.

Die wäre?
Furgler wollte einen katholischen Kanton mehr. Darum wurde nur der separatistische, katholische Norden des Jura zum Kanton Jura. Nicht aber der protestantische Süden. Furgler verhandelte mit den Chefs der separatistischen Jurassier. Er musste vieles unter den Tisch wischen, damit man nicht sah, dass darunter noch immer ganz vieles lief …

Was genau wurde unter den Tisch gewischt?
Ich kann nicht zu 100 Prozent sagen, was geschehen ist und wer daran schuld ist. Aber es gab damals, im Herbst 1977, einen militärischen Arm der jurassischen Separatisten, die Béliers. Es gab vier Todesfälle im Jura, alle politisch brisant, alle unaufgeklärt. Es gab einen Offiziers­aspiranten, von dem es hiess, er habe Suizid begangen. Aber er wurde zerfetzt gefunden, er hat sich sicher nicht selbst mit einer Hand­granate in die Luft gesprengt. Es gab im selben Herbst in Köln die Entführung des deutschen Arbeitgeber­präsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF, dessen Leiche in Mulhouse gefunden wurde, unweit des Jura. Aber man konnte ja nicht erzählen, dass die RAF von jurassischen Separatisten unterstützt worden war, um Schleyer zu entführen.

In «Staatsräson» schreiben Sie: «Auch 40 Jahre später täte der Wahrheit ein bisschen frische Luft gut, statt lähmendes Schweigen» – will man die Ungereimtheiten aus dieser Zeit nicht aufarbeiten?
Ich habe einmal die frühere Direktorin vom Bundesamt für Kultur darauf angesprochen. Es sei Zeit, dass die Historiker die Archive durchgehen könnten, sagte ich. Doch sie meinte nur: Es sei noch zu früh. Man müsse abwarten. Irgendwann werde die Wahrheit dann schon rauskommen. Sie wollen die Geschichte der Geburt dieses Kantons einfach nicht erzählen. (Anm. d. Red.: Die angesprochene Direktorin widerspricht dieser Darstellung. Es fand in ihrer Erinnerung kein bilaterales Gespräch statt. Sie verweist auf ein gemeinsames Interview am Radio, wo sie gesagt habe, es sei wichtig, dass sich Historikerinnen und Historiker der Frage annehmen würden.)

Weil es, wie Sie sagen, eine Geschichte der Gewalt war?
Es gab nicht einfach die einen, die für den neuen Kanton waren, und die anderen, die dagegen waren. Es war militärisch. Der Jura musste besetzt werden. Die Polizei aus der ganzen Schweiz kam. Es kamen Zürcher Krawall­touristen, um den Jurassiern zu helfen.

Sie sagen, ohne Wahrheit gebe es keine Gerechtigkeit, und ohne Gerechtigkeit bleibe Versöhnung unmöglich. Hat man sich denn nie versöhnt?
Man kann sagen, das ist jetzt schon 50 Jahre her, lassen wir das einfach. Das ist eine Art der Versöhnung. Aber der offizielle Diskurs bleibt geprägt von diesem Konflikt. Bei der Gründung des Jura war ein grosses Fest geplant, um allen zu danken, die geholfen hatten: Regierungs­räte, der Bundesrat. Dann kam es im Parlament zu einem Eklat zwischen Bundesrat Furgler und einem jurassischen Parlamentarier, einem Separatisten. Darauf wurde Furgler auf dem gesamten Gebiet des neuen Kantons zur Persona non grata erklärt. Der Empfang und das Volks­fest zur Kantons­gründung in Delémont wurden abgesagt.

Aber beim 25-Jahr-Jubiläum gab es ein Fest.
Da war Furgler eingeladen, ich war da, und die Béliers auch. Sie schlugen vor dem Fest ein symbol­trächtiges Denkmal kaputt und brachten es mit. Es gab ein riesiges Polizei­aufgebot, um im Jura den Alt-Bundesrat Furgler vor den Béliers zu schützen. Das war der Abschluss der Gründung des Kantons Jura. Das hatte wenig Versöhnliches.

Sie gehörten nicht zu den Béliers, aber Sie sympathisierten mit ihnen. Weil Sie Anarchist waren?
Unter den Separatisten haben einige auf Posten und Ämtli gewartet, sie sagten sich: Wenn es dann den Kanton Jura gibt, werde ich Rektor in der Schule. Andere wollten nur in einem ersten Schritt den Kanton Jura. Im zweiten dann die Selbst­verwaltung, mit antiautoritären Schulen und Kommunen. Mit der nationalen Abstimmung über die Kantons­gründung hat sich dann Furglers Story durchgesetzt. Es hiess: Der Jura macht jetzt weiter nach Schweizerart.

Woher kommt Ihr Anarchismus?
Zum Teil aus Saint-Imier. Das Dorf hat eine anarchistische Tradition, noch von den Uhrmachern her. Die haben viel gelesen und viel gewusst. Wir haben Bakunin gelesen in der Schule, da waren wir 12 oder 13 Jahre alt. In Saint-Imier gibt es noch heute Wege und Strassen, die daran erinnern. Da steht dann: Hier hat Bakunin gewohnt. So, als wäre er ein Hodler.

Ist der Anarchismus in Saint-Imier noch Kulturgut oder nur PR?
Beides. Vor zehn Jahren besuchte ich einen anarchistischen Kongress im Dorf, da sprach ich mit Leuten, die damals mit mir zur Schule gingen. Darunter waren solche, die jetzt Geschäfte führen. Ich fragte: Und, was machst du jetzt, wenn die Anarchisten kommen? Sie sagten: Das werden gute Geschäfte!

Was fasziniert Sie am Anarchismus?
Die Anarchisten haben im 19. Jahrhundert mindestens zwei wichtige Punkte gesehen, die die Marxisten nicht sahen. Erstens: die Frau. Anarchistische Frauen waren in der Lage, ihre eigene Sprache zu entwickeln. Die Marxisten hingegen sagten, die Frau müsse zuerst mit ihnen die Revolution machen. Danach schaue man, was für einen Status sie bekomme. Der zweite Punkt war die Natur. Die Anarchisten glaubten nie an einen gerechten industriellen Fortschritt, viele vegetarische Bewegungen waren anarchistisch. Ich bin kein Vegetarier, aber ich glaube: Wenn es noch technischen Fortschritt gibt, macht er mehr kaputt, als er hilft.

Anarchismus ist ja zuerst die Freiheit von Herrschaft.
Es geht nicht darum, Macht zu ergreifen. Sondern Macht abzuschaffen.

Und das Mittel zum Ziel ist die Gewalt?
Die Gewaltfrage ist unter Anarchisten umstritten. Alle Positionen sind vertreten. Es gibt pazifistische Anarchisten bis hin zu solchen, die keinem Vögeli eine Feder wegnehmen würden. Und es gibt die ganz gewalt­tätigen Anarchisten.

Sie selbst haben 1975 das Chalet des deutschen Verlegers Axel Springer im Waadtländer Jura abgefackelt. Das haben Sie 2006 in einem Buch gestanden. War es der Anarchismus, der Sie dazu führte?
Ja, klar. Aber ich habe das nur als Beispiel erzählt. Viele Aktionen jener Jahre waren symbolisch. Man suchte den symbolischen Wert mehr als die Zerstörung. Springer hatte 32 Angestellte und insgesamt 5 Frauen, ich habe ihm das Liebes­nest kaputt­gemacht. Das war nicht mehr als eine eingeschlagene Scheibe, er hat ja nicht wirklich etwas verloren.

Ein Chalet hat er verloren. Das ist schon mehr als eine eingeschlagene Scheibe.
Ja, klar. Aber er hätte gar nicht bauen dürfen dort oben. Selbst­kritisch finde ich, es war eigentlich eine SVP-Aktion, die ich dort oben durchgeführt habe. Wir wollten die Berge reinhalten von den Bonzen, die da irgendwas hinbauen konnten, nur weil sie reich waren. Das war die Art von Sachen, die man machte.

Nicht alle haben Chalets abgefackelt.
Doch. Jede Woche hat einer das Auto eines AKW-Menschen abgefackelt oder eine Scheibe eingeschlagen. Jede Woche wurden Bosse in Firmen eingesperrt. Die Leute wollen sich bloss nicht erinnern.

Hat es im Jura also häufiger geknallt als anderswo?
In der ganzen Westschweiz war das so. Als sie unten in Genf ein AKW bauen wollten, wurde das Material jede Woche zerstört. Bis sie aufgehört haben, am AKW zu bauen. Vieles wurde vergessen.

Wenn es so ist: Was ziehen Sie daraus?
Die Geschichte wird geschrieben von denen, die gewonnen haben.

Arbeiten Sie sich deshalb so am Jura ab, literarisch?
Ich schreibe ja auch anderes.

Aber Sie schreiben mit einem «jurassischen Akzent». Sehen Sie sich in der Pflicht, ihn im Schweizer Gedächtnis zu bewahren?
Nach dem Zweiten Weltkrieg hiess es: Der Krieg ist aus, fertig. Es gibt nichts mehr zu erzählen. Dann haben Frisch, Meienberg oder Dürrenmatt erzählt, wie das gelaufen ist mit der Schweiz in diesem Krieg. Ich bin später dran und komme aus dem Jura. Zum Jura heisst es nun: Die Jurafrage ist gelöst, fertig. Es gibt nichts mehr zu erzählen. Und ich sage: Nein, ich erzähle.

Dafür zahlen Sie einen Preis.
So hoch ist er nicht.

Als Sie den Anschlag auf das Chalet literarisch gestanden, wurden Sie aus verschiedenen Gremien ausgeschlossen. Mit «Staatsräson» machten Sie sich im Jura unbeliebt. Es gab keine Lesungen im Kanton, ausser in Saint-Imier.
Mein Verlag fragte an für einen Saal, bis hoch hinauf in der Verwaltung. Sie wollten mich nicht.

Warum?
Weil die Béliers im Buch nicht so ganz rein dastehen. Ich habe nach der Veröffentlichung viele Briefe bekommen aus dem Jura. Sie sagten, ich würde lügen. Aber niemand sagte, was die Wahrheit sei.

Gilt eine Art Schweige­pflicht, eine Omertà?
Ja. Das Buch hat schon etwas ausgelöst, ich weiss, dass Leute sich trafen und fragten: Was, wenn er noch mehr auspackt?

Gibt es denn noch etwas zum Auspacken?
Von mir aus nichts. Aber ich bin sicher, dass noch Leute leben, die Dinge wissen.

Im Buch heisst es an einer Stelle: «Weisst du, der Jura ist nicht wirklich Schweiz, schon ein bisschen Sibirien» …
Im Jura kann es ganz kalt sein, kälter als im Engadin.

Wörtlich oder auch metaphorisch?
Wörtlich. So viel ich weiss, gibt es im Gegensatz zu Sibirien keine Arbeits­lager im Jura!

Aber landschaftliche Leere?
In Sibirien bin ich rumgekommen, da gibt es stundenlange Weite. Die Freiberge hingegen sind einfach ein grosser Park. Natürlich ist es anders als im Flachland, im Jura muss man zuerst über die Hügel, um von einem Dorf ins nächste zu gelangen. Im Flachland ist alles vernetzt. Darüber denke ich viel nach: In der Schweiz kann jeder mit dem öffentlichen Verkehr innerhalb einer Stunde an der Grenze sein.

Über Christoph Blocher sagten Sie einmal: «Wir sind fast gleich alt und beide Sohn eines Pfarrers. Und doch denken wir überhaupt nicht gleich.»
Im Bundesrat gab es ja mindestens zwei Pfarrers­söhne, Moritz Leuenberger und Christoph Blocher. Man kann also beides werden. Bei uns im Pfarrhaus kamen ganz Arme zum Essen, meine Mutter war für sie die Heils­armee. Und am anderen Tag kamen die Bosse von Longines, um über Kultur zu diskutieren, oder weil der Vater wollte, dass sie spenden. Wir Kinder durften immer mitessen. Ich habe am Tisch im Pfarrhaus realisiert, dass es Klassen gibt.

Sie sind also links geworden, weil Ihr Vater Pfarrer war. Und nicht, weil Sie aus dem Jura kommen?
Ich würde nicht sagen, dass mein Vater mich politisch stark beeinflusst hat. Als Achtundsechziger war ich mit den Eltern ja auch im Kampf. Da hat der Jura schon mehr beigetragen.

Der Jura ist linker …
Er war linker.

Kein anderer Kanton hat die Erhöhung des Frauen­rentenalters so klar abgelehnt wie der Jura mit 70,9 Prozent. Der Jura wäre dem EWR beigetreten. Der Jura hätte die Armee abgeschafft.
Ja, die Beziehung zum Militär war natürlich speziell. Bei meiner Aushebung wurde ich gefragt: «Was machen Ihre Eltern?» Als ich sagte, der Vater sei Pfarrer im Jura, hörte ich sie auf Deutsch sagen: «Den nehmen wir nicht.» Dann wurde ich gefragt: «Herr de Roulet, schmerzt Sie etwa der Rücken? Uns scheint, Sie laufen etwas krumm?» Sie wollten keine Jurassier in der Armee. Auch weil Jurassier, die in der Armee waren, dort Waffen klauten und damit schossen. Um Lärm zu machen.

Was hält der Jura heute für uns bereit?
Rösslifahrten. Im Jura haben sie die Rössli der ganzen Schweiz in Pension. Der Jura ist récréation: wandern, in den Spunten gehen.

Herr de Roulet, Sie haben von Anarchistinnen erzählt und von Separatisten. Von Sprengstoff und Unabhängigkeit und Kampf. Und jetzt sagen Sie: «Alles, was der Jura der Schweiz noch zu bieten hat, sind Rössli?»
Bon. Vielleicht muss ich mir etwas Besseres einfallen lassen: Die Jurassier haben auf Französisch einen ganz speziellen Akzent. Sie reden speziell wenig. Es ist etwas geblieben, aber was genau, kann ich nicht sagen. Eine gewisse Aufsässigkeit gegen Autorität vielleicht, die verschwindet nicht so schnell. Aber ich habe Angst, sie werden ganz normale Schweizer.

Also ist der Jura schon noch besonders.
Er hat eine unschweizerische Geschichte. Er hatte eine unschweizerische Jugend. Eine ganze Generation im Jura wurde geprägt von Kämpfen. Davon, eingesperrt worden zu sein von Zürcher Grenadieren. Aber das sind alte Geschichten. Der Jura ist der Sonntags­ausflug der Basler. Ich habe noch nie so viel Deutsch gehört im Jura wie jetzt. Jedes Mal, wenn ich im Spunten bin, reden sie Deutsch. Wenn früher jemand Deutsch sprach, dann wurde er gleich rausgeworfen. Nicht dass ich fände, man müsste die Deutsch­schweizer rauswerfen. Nur um zu sagen: Ich sehe im Jura heute nichts an neuem Kampf. Die Städte sind viel aufsässiger.

Aber der Jura bleibt ein Sehnsuchts­ort für die Linke.
Das stimmt, aber was finden sie dort? Armut in den Dörfern. Das ist furchtbar. Es sind die ärmsten Dörfer der Schweiz. Man glaubt, in Frankreich zu sein. Dieses nichtschweizerische Image gibt es noch.

Kann daraus eine Utopie wachsen?
Wir hatten Utopien, aber sie sind gescheitert.

Aber allein dass man überhaupt wagte, sich so etwas vorzustellen: ein Leben ohne Herrschaft. Sich abspalten von einem Kanton.
Aber das ist die Geschichte. Sie ist einfach fast ganz vergessen worden. Wenn einer heute im Jura aufwächst, denkt er, er sei in der Schweiz.

Mit Elisabeth Baume-Schneider ist jetzt eine Jurassierin mit marxistischer Vergangenheit im Bundesrats­rennen. Ist das symbol­haft für die Ankunft des Jura in der Schweiz?
Sie ist auf dem Ticket, das ist ein Symbol. Aber sie schafft es ja dann doch nicht. Das ist auch ein Symbol.

Wir haben das Interview nachträglich um die Schluss­frage ergänzt.

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