Knietief in der Inflation

So wie die Teuerungs­welle in den letzten eineinhalb Jahren herangerollt ist, dürfte sie in den kommenden eineinhalb Jahren auch wieder ab­ebben. Verschwindet sie gar ganz?

Von Simon Schmid (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration), 28.11.2022

Vorgelesen von Miriam Japp
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Analogien sind ein billiges Stil­mittel. Aber man kommt fast nicht ohne sie aus, wenn man in der Wirtschaft irgend­etwas verständlich erklären will.

Stellen Sie sich deshalb Folgendes vor:

Sie stehen am Strand, die Hosen­beine hochgekrempelt, und geniessen, wie das Meer sanft Ihre Zehen umspült. Doch dann fährt in der Bucht ein grosses Schiff vorbei. Ein heftiger Wind­stoss kommt. Der Sand unter Ihren Füssen gibt nach. Und ehe Sie es sich versehen, stehen Sie knie­tief im Wasser.

Das ist die Situation, in der die Welt inflations­technisch gerade steckt. Und es ist auch ein Bild, das zu verstehen hilft, wie es von hier aus weiter­geht.

I. Was bisher geschah

Zur Erklärung: Die Inflation gibt an, wie stark die Preise steigen. Das Prinzip ist einfach. Wenn ein Waren­korb in einem Jahr 100 Franken kostet und im nächsten Jahr 110 Franken, dann beträgt die Inflation 10 Prozent. In dem Waren­korb sind Dinge enthalten wie Nahrungs­mittel, Kleider, Möbel, Arzt­rechnungen, Benzin, Kino­eintritte oder Hotel­übernachtungen – kurz: alles, wofür man als Durchschnitts­konsumentin eben so Geld ausgibt.

Und zur Erinnerung: 10 Prozent, in diese Gegend ist die Inflation zuletzt in Europa und auch in den USA gestiegen. Das ist beunruhigend, denn normaler­weise liegt sie bei plus/minus 2 Prozent, was auch den offiziellen Zielen entspricht. Diese Ziele wurden seit Früh­ling 2021 nicht mehr erreicht.

Nach der Pandemie kam die Inflation

Teuerung der Konsumenten­preise

Euro-Zone20182020202210,6 %0,02,05,010,0 % USA2018202020227,8 %0,02,05,010,0 %

Quellen: Fred, Fred

Wahrscheinlich haben Sie seither Verschiedenes über die Inflation gelesen. Und womöglich wissen Sie nicht, wie Sie das alles einordnen sollen. Wer oder was ist schuld an der Inflation? Und was kann man dagegen machen?

Nun: Denken Sie an das Bild vom Strand. Und stellen Sie sich die Inflation wie eine Welle vor – eine grosse Welle, die von verschiedenen Kräften zugleich angetrieben wird.

Zu diesen Kräften gehören:

  • Engpässe in der Liefer­kette: Während der Pandemie wurden Fabriken geschlossen, es gab Warte­zeiten beim Verladen auf Container­schiffe, der Welt­handel geriet ins Stocken, Produkte und Ersatz­teile aus China waren nicht verfügbar – kurz: Die globalen Liefer­ketten waren sehr angespannt. Entsprechend stiegen die Preise von allerlei importierten Produkten.

  • Berufliche Auszeiten und Früh­pensionierungen: Zahl­reiche Menschen haben während der Pandemie ihren Job verloren. Manche haben eine neue Beschäftigung gefunden. Andere haben sich aus der Arbeits­welt zurück­gezogen oder sind nur zögerlich wieder in den Beruf eingestiegen. So war das Angebot an Arbeits­kräften in den USA und zeitweise auch in Europa stark reduziert. Die Folgen: steigende Löhne, steigende Preise.

  • Aufgeschobener Konsum: Während der Lock­downs gaben Leute weniger Geld aus – ihre Ersparnisse nahmen zu. Später lief es genau umgekehrt: Konsumentinnen wollten das Ersparte ausgeben. Vor allem in Daten aus den USA zeigt sich dieses Muster. Das Problem: Viele Branchen – etwa das Gast­gewerbe – waren noch nicht bereit, die hohe Nachfrage zu bedienen (unter anderem wegen Personal­mangel). Das führte zu steigenden Preisen.

  • Unternehmens­gewinne: Manche Firmen haben während der Pandemie gemerkt, dass sie Preis­erhöhungen einfacher als erwartet durch­setzen konnten. Sprich, sie haben ihre Margen ausgeweitet und mehr Gewinn erzielt. Dass die Inflation im Anschluss an die Pandemie überraschend stark stieg, geht – vor allem in den USA – auch darauf zurück.

  • Rohstoff­preise: Schon vergangenes Jahr begannen die globalen Energie- und Nahrungsmittel­preise zu steigen – nachdem sie in der ersten Phase der Pandemie stark gefallen waren. Noch viel teurer wurden Roh­stoffe wie etwa Erdöl, Erdgas, Weizen oder Speise­öl nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Unter all den Faktoren, welche die Inflation antreiben, ist das der wichtigste. In der Eurozone gehen rund zwei Drittel der Inflation darauf zurück. In den USA, die für ihre Öl- und Gas­versorgung weniger vom Welt­markt abhängen, ging zeitweise rund ein Drittel darauf zurück.

  • Geldpolitik: Als Reaktion auf die Pandemie haben die Noten­banken in den USA und in Europa ihre Bilanzen stark ausgeweitet. In den USA wurden anfänglich auch die Leitzinsen gesenkt. Das hat dafür gesorgt, dass sich Firmen mit Krediten versorgen konnten, aber es hat auch die Börse und den Immobilien­markt ziemlich befeuert – und unter dem Strich etwas zu lockere Konditionen geschaffen für alle, die sich Geld leihen wollten.

  • Mieten: Vor allem in den USA sind die Immobilien­preise schon kurz nach Beginn der Pandemie stark gestiegen. Dies, weil Hypotheken günstig waren und viele Leute zusätzlichen Platz­bedarf hatten. Ab 2021 erfasste diese Dynamik auch den Miet­wohnungsmarkt. Statistisch gesehen geht gut ein Drittel der aktuellen US-Inflation auf steigende Mieten zurück.

  • Fiskal­politik: Während der Pandemie wurden grosse Konjunktur­pakete geschnürt. In den USA profitierten via Direkt­zahlungen vor allem die Haus­halte davon, in Europa allerlei öffentliche Projekte sowie später via Subventionen – etwa auf Benzin oder Erdgas­– ebenfalls die Haushalte. Dies ist ein Novum gegenüber früheren Krisen, die vor allem durch Geld­politik bekämpft wurden, aber weniger durch Fiskal­politik.

  • Schwache Währung: Der Euro hat inner­halb eines Jahres gegenüber dem Dollar rund 20 Prozent an Wert verloren. Damit verteuern sich für Europa auch die Energie­importe, was die Inflation zusätzlich antreibt. (Die Schweiz, die in diesem Text nur am Rande vorkommt, hat umgekehrt davon profitiert, dass der Franken stärker geworden ist: Importe sind so billiger geworden.)

Es ist schwierig, all diese Mechanismen exakt zu beziffern. Das liegt daran, dass sie praktisch zeit­gleich abgelaufen sind: Noch bevor etwa die globalen Liefer­ketten wieder intakt waren, begannen schon die Energie­preise zu steigen. So überlagerten sich auch die inflationären Auswirkungen dieser Ereignisse.

Und so steht die Welt­wirtschaft nun knietief in der Inflation.

Doch das wird ziemlich sicher nicht lange so bleiben.

II. Was jetzt geschieht

Eine Welle kann noch so gross sein – ab einem bestimmten Moment spült sie nicht noch mehr Wasser an, sondern das Wasser fliesst wieder weg. Das ist so, wenn man am Meer steht, und genauso ist es auch bei der Inflation.

In den USA sind die Anzeichen dafür bereits deutlich. Die Inflation hat hier im Juni ihren Spitzen­wert erreicht – seither hat sich das Wachs­tum der Konsumenten­preise verlangsamt. In der Euro­zone ist die Inflation zwar bis zuletzt angestiegen, doch auch hier prognostizieren Wirtschafts­institute, dass sich die Situation über die kommenden Quartale hinweg entspannt.

Folgende Gründe sind dafür verantwortlich:

1. Die externen Trieb­kräfte lassen nach

Dass es in Europa einen Gas­mangel geben würde: Diese Sorge war im August am grössten. Der Gas­preis im Gross­handel stieg damals ins Astronomische.

Das Schlimmste ist vorbei

Gaspreis im europäischen Handel

Achse gekürzt2018202020221160200400 Euro pro Megawattstunde

Futures für TTF-Kontrakte im November 2022. Quelle: investing.com

Heute sind die Aussichten besser. Die EU hat ihre Versorgung fürs Erste gesichert, dank Flüssiggas­importen und einem bislang milden Herbst. So ist der Preis von Erdgas wieder markant gefallen, ungefähr auf das Niveau, auf dem er vor Ausbruch des Russland-Ukraine-Kriegs stand.

Das bedeutet, dass Haus­halte mit Gas­heizung wieder weniger Geld ausgeben müssen und dass die Energie­kosten in Branchen wie der chemischen Industrie zurück­gehen.

Ähnlich ist es beim Erdöl. Auch hier kann man noch nicht von niedrigen Preisen sprechen – aber im Vergleich zu den Höchst­ständen von Mitte Jahr ist der Öl­preis trotzdem gesunken. Das gilt für die USA ebenso wie für Europa. So wird Benzin und Diesel an der Tank­stelle wieder günstiger, und auch viele weitere Waren und Dienst­leistungen können wieder billiger angeboten werden – weil die herstellenden Firmen kleinere Produktions- und Transport­kosten haben.

Gebrochene Preisspitze

Globaler Nahrungsmittelpreisindex

Achse gekürzt20182020202213675100125150

Quelle: FAO

Bei den Nahrungs­mitteln ist das Bild ähnlich: Getreide wie Weizen, Gerste und Mais sowie Speiseöl, Milch­produkte, Fleisch und Zucker kosten gemäss einem Index, der den Welthandels­preis für all diese Kategorien zusammen­fasst, etwa so viel wie vor einem Jahr. Das ist zwar immer noch deutlich mehr als vor der Pandemie. Aber es ist auch deutlich weniger als in den ersten Monaten nach der russischen Invasion.

Dann, die Arbeitstätigen. Manche schätzen das Gesundheits­risiko, das vom Corona­virus ausgeht, inzwischen weniger gravierend ein. Andere können sich ein Dasein ohne Job nicht mehr leisten, weil die Arbeitslosen­gelder auslaufen. Und nochmals andere haben ein Sabbatical hinter sich und sitzen jetzt wieder am Schreib­tisch (Ihr Autor lässt grüssen). Aus diesen und wohl noch weiteren Gründen partizipieren inzwischen wieder mehr Menschen am Arbeits­leben – die «Grosse Resignation» ist zum Gross­teil passé – und mit ihr auch der exzessive Aufwärts­druck auf die Löhne, der zuletzt geherrscht hat.

Engpässe sind fast beseitigt

Globaler Lieferkettenindex

2018202020221,0024 Standardabweichungen vom Mittelwert

Quelle: New York Fed

Und schliesslich: die Lieferketten­probleme. Auch sie sind gemäss einschlägigen Statistiken weitgehend entschärft. Container zu verschiffen, ist nach der Preis­explosion vor gut einem Jahr wieder massiv günstiger geworden.

Und auch die Liefer­fristen sind wieder deutlich kürzer. Das gilt zwar nicht für alle Produkte: Wenn ein europäischer Auto­hersteller etwa Halb­leiter in einer chinesischen Fabrik bestellt, dauert es noch immer ein halbes Jahr, bis die Computer­chips eintreffen – vor der Pandemie dauerte das ungefähr halb so lang. Doch der Trend zeigt auch hier in die richtige Richtung. Seit der Pandemie wurde zudem enorm in die Halbleiter­fabrikation investiert – so stark, dass jetzt bereits die Frage im Raum steht, ob es in der Halbleiter­industrie bald Über­kapazitäten geben wird.

Nach und nach klingen also viele der Stör­faktoren ab, welche die Wirtschaft während der Pandemie durcheinander­gebracht haben. Doch nicht nur die äusseren Einflüsse, welche die Inflation angetrieben haben, gehen jetzt zurück: Auch die inflationäre Dynamik innerhalb der Wirtschaft nimmt ab.

2. Selbstkorrigierende Mechanismen setzen ein

«Das beste Mittel gegen hohe Preise sind hohe Preise», lautet ein Bonmot unter Volks­wirten (nicht nur Analogien sind in diesem Metier beliebt: auch altkluge Sentenzen, die man im passenden Kon­text einwerfen kann).

Die Rede­wendung bringt zum Ausdruck, dass sich die Wirtschaft zu einem gewissen Grad von selbst an veränderte Umstände anpasst. Werden Dinge teurer, dann sinkt einerseits die Nach­frage nach diesen Dingen, weil Konsumenten weniger davon verbrauchen. Anderer­seits sind hohe Preise ein Signal für Produzentinnen, dass es sich lohnt, in die Herstellung dieser Dinge zu investieren. So sinken die Preise nach einer Weile wieder.

Je anpassungs­fähiger eine Wirt­schaft ist, desto schneller kann sie einen Preis­anstieg – etwa bei Roh­stoffen – verdauen. Erste Anzeichen dafür, dass ein Anpassungs­prozess bereits in Gang gekommen ist, sind vorhanden: So haben sich in manchen europäischen Ländern etwa die Verkaufs­zahlen von Wärme­pumpen verdoppelt. Das dämpft die Nach­frage nach Erdgas und mindert den Preis­druck. Und in Deutsch­land wurde diesen Frühling wegen der hohen Preise offenbar auch weniger Benzin getankt.

Wie stark der Öl- und Gaspreis und damit auch die Gesamt­inflation durch solche Umstellungen gebremst wird, ist freilich schwer zu beziffern.

Mehr ins Gewicht fällt vermutlich, dass den meisten Industrie­ländern nun ein Abschwung bevorsteht. Anders als für 2021 und 2022 wird für 2023 mit einem sehr schwachen Wachstum gerechnet. Das ist mit eine Folge der aktuellen Inflation – und wirkt im Gegen­zug dämpfend auf die künftige Inflation. Denn: Wenn sich die Konjunktur abschwächt, sinkt in aller Regel (es gibt jedenfalls kein ökono­misches Modell, in dem das nicht so wäre) auch die Teuerung.

Erwähnt werden muss schliesslich noch ein letzter Mechanismus. Dieser ist zwar banal, geht aber trotzdem oft vergessen: der sogenannte Basis­effekt.

Dieser Effekt hat zur Folge, dass ein einmaliges Ereignis – wie etwa ein Energiepreis­anstieg – ein ganzes Jahr lang ununterbrochen Schlag­zeilen macht («Schon wieder 10 Prozent Inflation?!»). Leicht entsteht in solchen Situationen der Eindruck, ein neuer Normal­zustand habe sich eingestellt.

Aber spätestens nach einem Jahr fällt die ausgewiesene Inflation wieder auf ihren ursprünglichen Wert zurück, weil dann der Basis­effekt ausläuft.

Ich will es genau wissen: Was ist der Basis­effekt?

  • Die Inflation wird üblicher­weise mit einem Abstand von zwölf Monaten gemessen. Man vergleicht etwa die Preise im Oktober 2022 mit jenen im Oktober 2021 und jene im November 2022 mit jenen im November 2021.

  • Steigen die Preise nun in einem bestimmten Monat um den Faktor X, zum Beispiel um 10 Prozent, dann beträgt die ausgewiesene Inflation in allen elf darauf­folgenden Monaten ebenfalls 10 Prozent – auch wenn sich die Preise in diesen elf Monaten effektiv gar nicht mehr verändern.

  • Doch im zwölften Monat springt die Inflation von 10 Prozent plötzlich wieder auf null. Warum? Weil der ursprüngliche Anstieg dann nicht mehr in die einjährige Zeit­periode fällt, die der Messung zugrunde liegt.

Dies ist in der jetzigen Situation relevant, weil der Basis­effekt für viele Güter, deren Preise 2022 gestiegen sind, 2023 auslaufen oder sogar ins Negative drehen wird.

Oder, um es noch­mals ganz deutlich zu sagen: Es kann ab jetzt zwölf Monate lang nichts passieren – und die Inflation sinkt automatisch.

3. Politische Interventionen

Wenn die Inflation in naher Zukunft sinkt, dann liegt das aber nicht nur an ökonomischen Prozessen, die sich von selbst einstellen. Sondern auch am Zutun der Politik. Und dabei allen voran: am Kurs­wechsel der Noten­banken.

Angeführt von der amerikanischen Federal Reserve haben zahlreiche Noten­banken dieses Jahr ihre Geld­politik gestrafft. Dies aus Furcht, dass sich die Inflation verfestigen könnte: Arbeit­nehmer könnten wegen der steigenden Preise mehr Lohn verlangen, Arbeit­geberinnen könnten wegen der steigenden Löhne noch höhere Preise verlangen. So könnte eine ungute Dynamik einsetzen, welche die Inflation auf Dauer hoch hält.

Die Federal Reserve hat deshalb bereits im Früh­ling begonnen, die Leit­zinsen anzuheben. Ausgehend von 0 Prozent ist sie inzwischen bei fast 4 Prozent angelangt. Die Europäische Zentral­bank ist ihr im Sommer gefolgt und steht bei 2 Prozent. Die Interventionen dienen dazu, die Konjunktur zu bremsen, und sie sollen dem Publikum signalisieren: «Wir tun alles, um die Inflation zu bekämpfen.»

Notenbanken geben Gegensteuer

Leitzinsen

Euro-Zone2018202020222,0 %024 % USA2018202020223,9 %024 %

USA: Mittelpunkt des Zielbands. Quellen: Fred, Fred, Fred

Das scheint vorerst gelungen. In den USA bleiben Konsumenten gemäss Umfragen davon überzeugt, dass die Inflation spätestens nach drei bis fünf Jahren wieder nahe am Ziel von 2 Prozent liegen wird. Ähnlich ist es, gemessen an den Erwartungen von Finanzmarkt­teilnehmern, auch in der Euro-Zone.

Das ist wichtig, weil solche Erwartungen in der Wirt­schaft wie eine selbst­erfüllende Prophezeiung wirken. Wird eine tiefe Inflation erwartet, dann ist die Chance gross, dass die Inflation tatsächlich auch tief sein wird.

So dürfte es ab 2023 nach allgemeiner Einschätzung mit der Inflation abwärts gehen – in den USA etwas rascher, weil dort die Teuerung stärker von der Binnen­konjunktur abhängt und weil die Geld­politik bereits recht restriktiv ist; in Europa etwas langsamer, weil hier die Teuerung mehr von importierten Produkten abhängt und weil die Geld­politik bislang weniger gestrafft wurde.

Zurück zum Ziel

Inflation der Konsumentenpreise

USA20202022202502510 % Euro-Zone20202022202502510 %

Prognosen in hellem Farbton. Quellen: IWF, IWF

Doch nicht alle Beobachter teilen diese Prognose. So ist unter Journalisten und sogar unter Noten­bankerinnen eine gegen­teilige These gerade ziemlich en vogue. Sie besagt, dass die momentane Inflations­welle nur partiell abebben wird – so­dass die Inflation zwar wieder sinkt, aber danach über längere Zeit über dem Pegel verharrt, wo sie die Noten­banken eigentlich gerne sähen.

III. Worauf es hinausläuft

Hintergrund dieser These, dass die Inflation noch länger auf einem höheren Pegel bleiben wird, sind eine Reihe fundamentaler Veränderungen, die in der Welt­wirtschaft gerade stattzu­finden scheinen. Diese könnten in der Tendenz inflations­treibend sein und in ihrem Zusammen­spiel eine neue Ära einleiten, in der die Teuerung generell höher liegt als vor der Pandemie.

Die Veränderungen betreffen etwa:

  • Die Demografie: Wenn die Welt­bevölkerung altert (was sie in Zukunft zweifel­los tun wird, im Westen wie auch in China), dann sind weniger Menschen arbeits­tätig und mehr Menschen in Rente. Das bedeutet: Es wird anteils­mässig weniger produziert und mehr konsumiert. Und das wiederum führt zu höheren Preisen. Anders als in den 2010er-Jahren, in denen die Inflation ausser­gewöhnlich tief war (weil viele Leute kurz vor der Pensionierung standen und deshalb viel Geld zur Seite legten anstatt es auszugeben), könnte die Inflation in den 2020er-Jahren deshalb ausser­gewöhnlich hoch ausfallen (weil diese Leute nun tat­sächlich pensioniert sind und ihr erspartes Geld zunehmend ausgeben wollen).

  • Das Energiesystem: Wegen der Energie­wende könnten die Energie­preise steigen. Dies, weil es a) aus politischen Gründen (CO2-Bepreisung) keinen vermeintlich billigen Fossil­strom und keine billigen fossilen Treib­stoffe mehr gibt, weil b) mehr und mehr vermeintlich teure Energie erneuerbar gewonnen wird und weil c) die erneuerbaren Energien und Anwendungen (etwa Elektro­autos) grosse Mengen an Roh­stoffen benötigen (etwa Lithium) und auch diese Roh­stoffe immer teurer werden. Diese Idee wird seit gut einem Jahr unter dem Schlag­wort «Green­flation» diskutiert.

  • Die Geopolitik: Die Vereinigten Staaten und China sehen sich zunehmend als Konkurrenten. Das beeinflusst auch die Wirtschafts­politik: Statt dass der Handel weiter liberalisiert wird, werden Schranken errichtet – in Form von Zöllen auf importierte Produkte und in Form von Subventionen oder Herkunfts­bestimmungen, die der heimischen Industrie helfen sollen. So scheint die Globalisierung zunehmend zu erlahmen. Statt Off­shoring ist «Reshoring» in aller Munde: Liefer­ketten, die vormals um die ganze Welt reichten, werden zunehmend wieder national oder regional ausgelegt. All das verteuert – so die Vermutung – unter dem Strich die Produktion.

  • Finanz- und Geldpolitik: Im Nachgang zur Finanz­krise überliessen es die Regierungen mehrheitlich den Noten­banken, die Konjunktur anzukurbeln. Diese Arbeits­teilung gilt als Auslauf­modell. Während der Pandemie haben Staaten viel Geld ausgegeben, um Firmen und Haushalte zu unterstützen. Und seit Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs fliessen zusätzlich Subventionen in den Energie­konsum. So werden vermehrt Defizite in Kauf genommen, und die Schulden steigen. Liegt es da überhaupt drin, dass Noten­banken mit hohen Zinsen die Inflation bekämpfen? Nein, glauben manche Volks­wirte und folgern daraus, dass die Inflations­raten künftig höher sein werden.

Unterhält man sich mit Ökonominnen, die in der Finanz­industrie tätig sind – Wirtschafts­journalisten tun das gerne, wenn sie nicht weiter­wissen (und natürlich auch weil diese Leute gut informiert sind) –, so bekommt man durchaus den Ein­druck, dass an diesen Thesen etwas dran sein könnte.

«Im Zuge der Globalisierung und insbesondere seit Chinas Beitritt zur Welthandels­organisation um die Jahrtausend­wende konnten viele Produkte immer günstiger hergestellt werden», sagt Raphael Olszyna-Marzys, ein Spezialist für internationale Ökonomie bei der Bank J. Safra Sarasin. «Wenn die Globalisierung jetzt zum Erliegen kommt und die Welt­wirtschaft in einzelne Handels­blöcke zerfällt, dann fallen diese deflationären Kräfte weg oder kehren sich sogar um, und es entsteht Aufwärts­druck auf die Preise.»

Auch wenn die Logik hinter solchen Aussagen Sinn ergibt: Quantitativ beurteilen lassen sie sich nur schlecht. Denn erstens gibt es kaum Studien, die sich mit den inflationären Auswirkungen einer möglichen Deglobalisierung beschäftigen. Man kann kaum beziffern, ob die Inflation deswegen nur wenig steigen könnte (etwa: um 0,1 Prozent) oder sehr stark (zum Beispiel: um 1 Prozent, was einem echten Epochen­wechsel gleichkäme).

Zweitens ist unklar, ob die besagten Trends wirklich auch eintreten. «Es ist immer wieder erstaunlich, wie anpassungsfähig die Welt­wirtschaft ist», sagt Marc Brütsch, Chefökonom bei der Versicherung Swiss Life. Falle ein Land als Produktions­standort aus, würden vielfach rasch neue Stand­orte gefunden. Ein Beispiel dafür sei die Fertigung von sogenannten Kabel­bäumen für die Auto­industrie: Sie wurde wegen des Krieges kurzer­hand von der Ukraine nach Marokko verlegt. «Ich glaube deshalb nicht an die Deglobalisierungs­these», sagt Brütsch.

Drittens gibt es zu vielen Argumenten auch passende Gegen­argumente.

  • Steigende Schulden? Wäre das wirklich ein Inflations­treiber: Warum ist dann die Inflation nicht schon nach der Finanz­krise gestiegen oder im Verlauf der letzten vierzig Jahre (die Schulden steigen schon seit 1980)?

  • Demografie? Ja sicher, die Bevölkerung wird älter. Aber die Menschen arbeiten seit einigen Jahren auch wieder länger, und sie müssen ihre Ausgaben als Rentner wegen der längeren Lebens­erwartung besser einteilen. Das könnte die demografisch-ökonomische Wende abfedern.

«Wie sich die Inflation über den Horizont von zwei bis drei Jahren hinaus entwickelt, ist sehr schwer einzu­schätzen», sagt Anastassios Frangulidis, Anlage­stratege bei Pictet Asset Management. Wahr­scheinlich werde man in den 2020er-Jahren weniger über Deflation diskutieren als in den 2010er-Jahren. «Aber auch nicht so viel über Inflation wie in den 1970er-Jahren.»

Und damit zurück ans Meer, an den idyllischen Sand­strand, wo eine grössere Welle gerade einige Leute ziemlich erschreckt hat.

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